Wer sich das Profil des Täters von München anschaut, findet keinen Extremismus. Über seine Motive wissen wir wenig – wohl aber darüber, was Deutschland im Umgang mit Menschen fehlt, die aus Kriegsgebieten wie Afghanistan fliehen
Er hatte einen Job und ein Auto: Über die Motive des 24-jährigen Afghanen für die Tat in München wissen wir kaum etwas
Foto: Matthias Balk/DPA
„2024 war ein gutes Jahr, in dem ich ein wichtiges Ziel erreicht habe. Möge 2025 noch besser werden.“ So lässt sich eines der Videos, die Farhad N., der Täter des jüngsten Anschlags in München, in seiner Muttersprache Farsi Anfang Januar auf seinem TikTok-Kanal geteilt hat, zusammenfassen. Von Extremismus und Gewaltverherrlichung fehlt auf seinem Account, der bis zu seiner Stilllegung Zehntausende von Followern hatte, jedwede Spur.
In seinem Neujahrsvideo hofft N. sogar, dass die militant-islamistischen Taliban, die seit 2021 in seiner afghanischen Heimat das Sagen haben und Mädchen und Frauen Bildung verwehren, bald wieder die Mädchenschulen öffnen werden. Ansonsten findet man viel Sport in Form von Bodybuilding und Fitness, Rumgepose, et
gepose, etwas Nationalismus und ein wenig Islam. Tatsächlich hätte ein Blick auf N.’s Kanal gereicht, um vieles, was viele Medien und Politiker kurz nach der Tat behaupteten, zu entkräften. N. stand nämlich fester im Leben als viele andere Geflüchtete, die in den letzten Jahren aus Afghanistan gekommen sind. Er hatte eine Aufenthaltserlaubnis, ging einer geregelten Arbeit nach und fuhr ein kleines, schickes Auto. Er betrieb Sport und nahm sogar erfolgreich an Wettbewerben teil. Ja, auch Religion spielte im Leben N.’s eine Rolle.Keine Schande, zu sagen, dass man wenig über das Motiv des Täters weißDoch gegenwärtig deutet nichts, das öffentlich bekannt ist, auf extremistischen oder dschihadistischen Einfluss hin. Vorbestraft war er, entgegen erster anders lautender Behauptungen, nicht. Selbst der Umstand, dass N. während seiner Festnahme gewisse Phrasen wie „Gott ist groß“ oder das islamische Glaubensbekenntnis schrie, bedeutet nicht viel. Viele Menschen, die muslimisch sozialisiert wurden, allen voran aus Afghanistan, würden etwa in Panik und Todesangst ähnlich reagieren.Es wäre keine Schande gewesen zu sagen, dass man wenig bis gar nichts über das Motiv des Täters weiß.Doch im Zeitalter der Eilmeldungen und Nachrichtenalgorithmen scheint dies nicht mehr möglich zu sein. Für Details interessierte sich kurz nach der Tat niemand. Stattdessen waren es nicht nur die Bild-Zeitung und diverse rechte X-Accounts, die de facto Fake News verbreiteten, sondern auch ranghohe Politiker. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann sprach von einem abgelehnten Asylbewerber.Es wurde suggeriert, dass N. gar nicht hier hätte bleiben dürfen. Zeigefinger- und Kaaba-Emojis reichten für den Islamismusverdacht. Und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) meinte, dass nun der richtige Zeitpunkt sei, um mit dem Umstand hausieren zu gehen, dass Deutschland gegenwärtig der einzige europäische Staat sei, der „trotz der Taliban“ nach Afghanistan abschieben würde. Deutschland ist verantwortlich für Menschen, die aus Afghanistan einwandernAuch Faeser, Scholz und andere machen immer wieder deutlich, dass sie nicht besser sind. Sie kriminalisieren Flucht und Migration, verlangen mehr Abschiebungen und ignorieren für ihren Wahlkampf bestehende Rechte und Gesetze, auf die die westliche Zivilisation stets vorgibt stolz zu sein. Doch selbst das strikteste und brutalste Grenzregime, zu dem die EU ohnehin bereits seit Jahren zu mutieren droht, kann Taten wie jene in Aschaffenburg oder München nicht verhindern. Warum? Weil absolute Sicherheit nur von Diktaturen wie etwa jener der Taliban versprochen wird.Eine aufklärte und rationale Gesellschaft, wie es Deutschland vorgibt zu sein, sollte keinen extremen Hetzern und Spaltern auf den Leim gehen, sondern muss Probleme, die es in Sachen Einwanderung gewiss zuhauf gibt, nüchtern diagnostizieren und ernsthaft angehen. Dazu gehört auch, dass man sich mit den Menschen, die aus Kriegsregionen einwandern, beschäftigt, ihnen Perspektiven gibt und gleichzeitig die eigene Verantwortung wahrnimmt. Und ja, Integration ist keine Einbahnstraße. Doch viele afghanischen Communities sehen sich in der Verantwortung, sind überfordert, untereinander zerstritten und wissen oftmals nicht weiter. Die jahrelange Zusammenarbeit mit dem Staat und mit den Neuankömmlingen aus Afghanistan wurde nicht selten verpasst. Auch Deutschland hat zwanzig Jahre lang am Hindukusch Krieg geführt. Und während die Traumata der dort stationierten Soldaten nicht hinterfragt werden, ist auch das Verständnis für jene, die vor dem Konflikt geflüchtet sind, kaum vorhanden.Zerstörte Seelen in Kabul und anderen afghanischen RegionenHier geht es auch gar nicht mehr um den Fall Farhad N., über den weiterhin wenig bekannt ist, sondern um die Problematik von Flucht und Asyl aus Afghanistan im Allgemeinen.Ich habe zerstörte Seelen in Kabul und anderen afghanischen Regionen getroffen. Ich habe sie auch auf den Straßen Athens oder Istanbuls gesehen. Junge Männer, aber auch viele Frauen und Kinder, die nichts anderes als Gewalt erfahren haben. In ihrer Heimat, auf den Straßen ihnen fremder Städte und an den Grenzen ihnen fremder Staaten. Und ich habe auch viele Freunde, die mit der Kalaschnikow aufgewachsen sind und die den Geruch von Blut und verwesten Körpern kennen. Sie können bis heute nicht schlafen und haben in Deutschland, Österreich oder anderswo keine Anlaufstelle, die für sie da ist. Stattdessen sind es teure Bürokratie, Isolation und moderne Sklaverei, die ihren Alltag prägen.„Keine Ahnung, was aus mir geworden wäre, wenn ich all das erlebt hätte“, frage ich mich im Stillen immer wieder, wenn ich mit solchen Menschen spreche. Wer diese Frage nicht ernsthaft stellt, wird die Probleme nie lösen können.„Remigration“ hat die politische Mitte erreichtDoch wie weit ist die politische Debatte von dieser Frage entfernt! Dass der politische Mainstream so hörig zum Steigbügelhalter der Rechten und Rechtsextremen geworden ist, erfreut Letztere mittlerweile so sehr, dass sie ihre Fratze noch eindeutiger zeigen. Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa Martin Sellner, Führungsfigur der österreichischen Identitären.Sellner ist mit den rechtspolitischen Kräften in Deutschland bestens vernetzt und sorgte vor einem Jahr aufgrund seiner Teilnahme am Treffen von Potsdam, an dem neben AfD-Mitgliedern und Identitären auch Unionspolitiker teilnahmen, für Aufsehen. Sein Remigrationsbegriff ist mittlerweile verbreiteter denn je, gehört zum Parteiprogramm der AfD und wird in öffentlichen Talkshows sogar von Politikern und Journalisten, die nicht als rechtsextrem bekannt sind, relativiert. Auf „X“, ehemals Twitter, treibt Sellner wieder sein Unwesen, nachdem die Plattform von Elon Musk übernommen wurde. Musk, dessen rechtsradikale und verschwörungstheoretische Weltanschauung seit geraumer Zeit bekannt ist, ließ den einst aufgrund von Hetze gesperrten Account Sellners wieder reaktivieren. Auch nach der Tat in München hetzte Sellner munter weiter. Deutschland bezeichnete er unter anderem als „größte afghanische Enklave außerhalb von Afghanistan“. Außerdem hätten Afghanen im Durchschnitt einen deutlich geringeren IQ als Deutsche. In Bezug auf Farhad N. hob Sellner hervor, dass Integration eine Lüge und ausschließlich „Remigration“ die Lösung sei. Es ist traurig, aber wahr: Die Ansichten dieses ideologisierten Fanatikers haben schon längst die sogenannte politische Mitte erreicht. Erst vor wenigen Wochen spielte Friedrich Merz den Rechtsextremen gleich mehrmals in die Hände, etwa als er die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Fall von migrantischen Straftätern in den Raum warf oder als er im Bundestag im Kontext des sogenannten Zustrombegrenzungsgesetzes die Mehrheit der AfD suchte.