Katja Hoyer ist überrascht, wie lange die SPD ihre Realitätsverweigerung durchhielt. Mit Jakob Augstein spricht die Historikerin nach der Wahl über einen erledigten Bundeskanzler und erklärt, warum es der Liberalismus hierzulande schwer hat


Am 24. Februar 2025 war Katja Hoyer zu Gast bei Jakob Augstein im Renaissance-Theater

Foto: Philipp Plum für der Freitag


Manchmal kann der Blick von außen die Dinge besser ins Verhältnis setzen. Die Historikerin Katja Hoyer, obschon selber aus Brandenburg stammend, guckt normalerweise von England aus auf Deutschland und die Deutschen. Das führt dazu, dass sie etwa die Rolle der AfD in Ostdeutschland anders einschätzt als die meisten Beobachter. Doch dieses Mal hat sie den Wahltag in Strausberg verbracht. Und dann am Tag danach im Berliner Renaissance-Theater mit Jakob Augstein gesprochen.

Jakob Augstein: Frau Hoyer, verraten Sie uns, wo Sie den Wahlabend verbracht haben?

Katja Hoyer: In der Nähe von Strausberg, also außerhalb von Berlin. Im Speckgürtel sozusagen. Ich musste an dem Abend in einer ziemlichen Geschwindigkeit drei Artikel über das Ergebnis schreiben. Ich hat

sozusagen. Ich musste an dem Abend in einer ziemlichen Geschwindigkeit drei Artikel über das Ergebnis schreiben. Ich hatte also einen Laptop vor mir, einen Teller mit einem Döner und neben mir lief der Fernseher. Dort habe ich dann die menschlichen Dramen beobachtet, die sich da abgespielt haben.Die SPD hat das schlechteste Ergebnis seit 1887 eingefahren. Hat die Partei das verdient?Ich war schon überrascht, wie lange man sich eingeredet hat, dass alles in Ordnung ist. Vielleicht kann das keine Partei so gut wie die SPD. Nach den zwei katastrophalen Landtagswahlen im Osten hat man gesagt, na ja, immerhin sind wir noch in den Landtagen. Da sind offensichtlich auch die Ansprüche ziemlich abgerutscht.Heute trauen laut Infratest dimap nur noch 26 Prozent der SPD am ehesten zu, sich um soziale Gerechtigkeit zu kümmern. 52 Prozent meinen, die Sozialdemokraten vernachlässigten die Interessen der Arbeitnehmer.Das überrascht mich nicht. Die Wählergruppen, denen das Thema wichtig ist, haben sich längst von der SPD abgewendet. Ich hab heute gesehen, dass unter den Arbeitern 14 Prozent weniger SPD gewählt haben als noch 2021. Die AfD hat deutschlandweit bei den Arbeitern gewonnen. Haushoch sogar: mit 38 Prozent. Offenbar ist beim Thema Sozialpolitik das Vertrauen der ehemaligen Kernklientel in die SPD fast komplett eingebrochen.Wenn man sich in SPD-Kreisen umhört, hört man, dass Scholz schon immer einen Ruf als Besserwisser hatteJetzt wird sie wohl in eine Große Koalition mit der CDU eintreten …Ist es nicht verrückt, welche Sorgen man sich in den 60ern gemacht hat, als sich die erste Groko bildete? Damals hieß es, ob es aus demokratischer Perspektive wohl so gut ist, dass SPD und CDU zusammen 90 Prozent der Stimmen im Bundestag haben. Heute hat man eher das gegenteilige Problem: Die beiden ehemaligen Volksparteien kommen zusammen nur noch auf etwas mehr als die Hälfte der Sitze im Parlament.Trotz seiner Regierungserfahrung hat Olaf Scholz als Kanzler versagt. Warum ist das so?Wenn man sich in SPD-Kreisen umhört, hört man, dass Scholz schon immer einen Ruf als Besserwisser hatte, der bei eigenen Fehlern stur bei seiner Formulierung bleibt: Ich sehe das gar nicht ein, das war trotzdem richtig! Ich glaube, die meisten Bürger finden es erfrischend, wenn Politiker mal sagen: Ups, das war ein Fehler.Die FDP bekam nur 4,3 Prozent und flog aus dem Bundestag. Wieso hat der politische Liberalismus so einen schweren Stand hier bei uns in Deutschland?Das kann man vermutlich mit unserer Geschichte erklären. Die Wirtschaftskrise in den späten 20ern führte zu Massenarbeitslosigkeit und hat am Ende zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen. In Deutschland gibt es seit dem späten 19. Jahrhundert die Sorge, dass die Stimmung kippt, wenn es den Leuten wirtschaftlich schlecht geht. Otto von Bismarck wollte verhindern, dass die Menschen zur SPD rennen, wenn es kein Sicherheitsnetz gibt. In Großbritannien, wo ich wohne, hat keiner Angst, dass die Menschen zu Faschisten oder Kommunisten werden, wenn es ihnen nicht gut geht. Dort ist der Individualismus stärker verankert und es gibt weniger Regulierung.Wie wurde die Wahl in England und den USA aufgenommen?Mit riesigem Interesse. Ich berichtete für die BBC und Bloomberg darüber und habe die letzten Wochen eigentlich nichts anderes gemacht. Die Hoffnung, dass sich jetzt in Berlin etwas ändert, ist groß. Es wird erwartet, dass Deutschland als große Wirtschaftsmacht eine größere Rolle einnimmt in der Geopolitik, sowohl in Europa als auch in der Welt.Wieso hat es die Partei von Sahra Wagenknecht nicht in den Bundestag geschafft? Sie scheiterte knapp mit 4,97 Prozent.Das BSW bringt eine sehr spezielle Kombination von Themen zusammen, die nicht jedem gefällt. Man muss die restriktiven Migrationspläne mögen, eine gewisse Russland-Affinität haben und außerdem eine soziale Arbeitsmarktpolitik befürworten. Das ist eine wilde Mischung aus konservativ und links. Tatsächlich habe ich von vielen unentschiedenen Wählern gehört, dass sie entweder mit dem einen oder mit dem anderen Aspekt des Programms hadern und deswegen nicht das BSW wählen.Wenn man, wie Mathias Döpfner, sagt, aus den Ossis werden nie Demokraten, schreibt man die Leute ab. Dann sind Millionen von Menschen unrettbar für die Demokratie verlorenSie gehören zu denen, die sich immer dagegen gewehrt haben, die AfD als ein Ostphänomen zu betrachten. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Frau Hoyer, aber schauen Sie sich mal die Karte an: Die ehemalige DDR ist komplett blau, die alte BRD schwarz.Das streite ich doch auch gar nicht ab! Natürlich ist die AfD im Osten größer. Sie kommt dort auf 34,5 Prozent. Aber wenn man, wie Mathias Döpfner, sagt, aus den Ossis werden nie Demokraten, schreibt man die Leute ab. Dann gibt es keinen Ausweg mehr und Millionen von Menschen sind unrettbar für die Demokratie verloren. Wollen wir das wirklich? Und warum wählt dann auch ein Drittel der Österreicher FPÖ? Liegt das daran, dass die Österreicher genauso „diktaturgeschädigt“ sind wie die Ossis? Das ist doch absurd! Wir sollten stattdessen lieber fragen, warum sich die Menschen von den etablierten Parteien abwenden.Ja, erklären Sie uns das bitte: Wie kriegen es die Ostdeutschen hin, dass sie, obwohl sie nur 17 Prozent der Bevölkerung ausmachen, dennoch der AfD 20 Prozent ihrer Wählerschaft liefern?Das tun sie doch gar nicht. Im Westen wählen auch mehr AfD. Dass der Anteil im Osten höher ist, hat viel mit den großen Veränderungen zu tun, die dort in den letzten 35 Jahren stattgefunden haben. Letztes Jahr war ich in Dresden und wollte vom Hotel zum Bahnhof laufen. Da hat die Rezeptionistin zu mir gesagt: Sie können da doch nicht alleine hinlaufen, das ist nicht sicher! Als ich nachgefragt habe, sagte sie, dass sie sich nicht mehr sicher fühle wegen der angestiegenen Migration.In Dresden beträgt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund nur 16,9 Prozent.Ja, man könnte fragen, worüber beschweren die sich eigentlich? Aber das greift zu kurz. In Dresden ging es früher wenig divers zu. Abgesehen von Studenten und ein paar Vertragsarbeitern war das eine relativ homogene Gesellschaft. In Frankfurt am Main oder in Köln wusste man schon in den 70er Jahren, dass man als Frau nachts besser nicht alleine vom Haus zum Bahnhof läuft, weil das unter Umständen gefährlich sein könnte. Aber im Osten war die Situation anders. Und wenn die Rezeptionistin zu mir sagt, das hier ist nicht mehr meine Stadt, müssen wir dieses Gefühl ernst nehmen.Meiner Meinung nach fehlt seit der Merkel-Ära eine konservative Partei im moderaten Spektrum, der die Menschen in Ostdeutschland vertrauenDas Problem im Osten ist die Strukturschwäche. Es gibt von allem zu wenig: Bahnhöfe, Ärzte, Jobs, Supermärkte. Dafür können die Ausländer aber nichts.Das stimmt, ändert aber nichts daran, dass sich laut Umfragen zwei Drittel der Bevölkerung eine schärfere Migrationspolitik wünschen. Meiner Meinung nach fehlt seit der Merkel-Ära eine konservative Partei im moderaten Spektrum, der auch die Menschen in Ostdeutschland vertrauen. Im Westen ist das traditionell die CDU/CSU. Dort erinnert man sich noch an die Wirtschaftswunderzeit und die positive Rolle der Union darin. Damals hat sich die Bundesrepublik stabilisiert nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenn Friedrich Merz jetzt sagt, Angela Merkel und 2015 waren eine Ausnahme und wir werden das korrigieren, dann glaubt man ihm das im Westen eher. Die Ostdeutschen haben dieses Vertrauen weniger.Wieso wählen Menschen, die Veränderung skeptisch sehen, oft die maximale Disruption? In Amerika mit Donald Trump, in Deutschland mit der AfD.Das Versprechen ist ja, dass man zu etwas zurückkehrt. Wenn man als AfD zum Beispiel von Remigration redet, schwingt da mit, wir stellen das alte Deutschland wieder her. Das ist natürlich völlig absurd, weil das gar nicht geht und darüber hinaus völlig unmenschlich wäre. Aber nehmen Sie ein anderes Beispiel: den britischen Klempner, der durch die Niedriglöhne von Arbeitern aus Osteuropa stark unter Druck geraten war. Der war natürlich für den Brexit, weil die Message der EU-Gegner war: Wir machen die Grenzen dicht und holen nur die Leute rein, die wir brauchen – ansonsten lassen wir den Arbeitsmarkt euch. Das hat eine Sehnsucht vieler Menschen angesprochen, die man irgendwo auch verstehen muss.Ich war neulich in Saarlouis, da sind alle unter 35 Ausländer und alle über 65 Deutsche. Wenn man sagt, die Ausländer sollen alle raus, sind die Senioren dort bald alleine. Da kann ich nur sagen: viel Spaß!Sie nehmen das vielleicht anders wahr, weil Sie aus einer anderen Schicht kommen und in einer bestimmten Welt leben. Ich glaube, dass auch die meisten anderen Menschen einsehen, dass wir die Krankenschwester aus dem Ausland brauchen, um hier den Laden am Laufen zu halten. Aber sie wollen, dass wir sie gezielt anwerben. Die Realität ist hingegen, dass wir gar nicht wissen, wer hier ist und auch die Leute, die Attentate begehen, oft gar nicht mehr hätten hier sein dürfen, aber die Rückführungen nicht geklappt haben. Dieses Gefühl von Kontrollverlust ist der Knackpunkt. Die zehn Prozent der Wähler, die der AfD bei dieser Bundestagswahl eine Verdoppelung ihres Ergebnisses beschert haben, wachen doch nicht eines Morgens auf und sagen: Ich bin jetzt mal rechtsradikal! Das sind Leute, die keinen Weg finden, ihrer Meinung demokratisch Ausdruck zu verleihen. Das müssen wir ändern.Wenn sich der Zeitgeist in eine andere Richtung bewegt, werden die Jugendlichen auch wieder andere Parteien als AfD und Linke wählenGlauben Sie, Merz kann Kanzler?Ich hoffe es.Hat die Linkspartei von seinen Migrationsplänen profitiert? Oder wären die auch sonst so durch die Decke gegangen mit ihren 8,8 Prozent?Ich glaube schon, dass sie davon profitiert haben. Als Merz sein Zustrombegrenzungsgesetz in den Bundestag einbrachte, haben SPD und Grüne ja trotzdem keine Koalition mit der CDU nach der Wahl ausgeschlossen. Wer also absolut dagegen war, fand bei der Linken ein politisches Zuhause.Die unter 25-Jährigen haben zu einem Fünftel AfD und zu einem Viertel die Linke gewählt. Wie kommt es, dass die Jugend radikal wählt und die Älteren eher die Parteien der Mitte?Das war schon immer so. Ich war am Wahlsonntag mit der BBC in Strausberg unterwegs, um einen Radiobeitrag aufzunehmen. Wir haben da einen Mann aus Vietnam getroffen, der als DDR-Vertragsarbeiter kam und jetzt einen Obstladen hat. Er hat uns erzählt, er stimme heute für die CDU, weil er die Migration begrenzen und weniger Steuern zahlen möchte. Seit der Pandemie käme er mit seinem kleinen Laden nicht mehr zurecht, deswegen wünscht er sich weniger Regulierung des Marktes. Zumindest die CDU hat schon immer ältere Wähler gehabt. Bei der Landtagswahl in Brandenburg haben der SPD vor allem die Rentner zum Sieg verholfen.Die Jüngeren haben diesmal nur zu zwölf Prozent SPD gewählt.Ja, die Jugend wählt eben wechselhafter. Mit 17, 18, 19 ist man idealistischer und will verändern. Wenn die Eltern ihr Kreuz bei Grünen, SPD oder CDU machen, ist es rebellischer, an die Ränder zu gehen. Aber das kann sich jederzeit ändern, wenn sich der Zeitgeist in eine andere Richtung bewegt.



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Von Veritatis

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