Dreißig Meter unter der Stadt Kobane haben die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) ein wachsames Auge auf die türkische Grenze. Plasmabildschirme zeigen den Beobachtern in einem unterirdischen Befehlsstand Bilder von 16 Überwachungskameras. In diesen Katakomben hängen kurdische Flaggen zwischen Kalaschnikows und den Bildern Gefallener an den Wänden.

Die unterirdischen Anlagen, die groß genug sind, um Tausende von Kämpfern aufzunehmen, hat man komfortabel eingerichtet. Die Böden sind gefliest, die Räume mit Luftschleusen versehen. Kommunikationskanäle ermöglichen es den Kommandeuren, Kampfeinheiten von diesen Räumen aus zu führen, die bis zu zehn Stockwerke tief unter der Erde liegen. Das Tunnelnetz hat es den SDF ermöglicht, ihre Taktik zu ändern, um der Bedrohung durch die türkische Luftwaffe zu entgehen. Ihnen helfen die unterirdischen Positionen zudem, hinter feindlichen Linien aufzutauchen, einen Angriff auszuführen und über einen der versteckten Eingänge des Tunnelsystems wieder zu verschwinden.

Die Milizionäre wagen es nur selten, diese Schutzräume zu verlassen, sie müssen damit rechnen, von anfliegenden türkischen Drohnen getroffen zu werden. Sie bewegen sich fast nur noch zu Fuß, nicht in Fahrzeugen, zwischen den Anlagen ihres unterirdischen Netzwerks, dessen Eingänge in unscheinbaren Gebäuden versteckt sind.

Einigt man sich mit der HTS?

„Das Gros unserer Streitkräfte ist derzeit in solchen Tunneln konzentriert. Als die türkische Armee damit begann, uns zu beschießen, gingen wir in den Untergrund. Im Bewusstsein, dass die Türkei über die zweitgrößte Militärmacht der NATO verfügt, der wir nicht gewachsen sind, mussten wir uns eingraben“, sagt Zinarin Kobane, Kommandeur der SDF-Region Euphrat während einer Tour durch das Labyrinth der Unterwelt.

Als die syrische Islamistengruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS) Anfang Dezember vergangenen Jahres das Assad-Regime stürzte und die Macht übernahm, war es mit dem seit Jahren eingefrorenen Konflikt in Syrien vorbei. Das fragile Gleichgewicht zwischen den von den USA gestützten SDF und den mit der Türkei verbündeten Rebellengruppen des Anti-Assad-Lagers kam zu Ende. Die Fronten, an denen es seit 2019 weitgehend ruhig geblieben war, gerieten in Bewegung. Die SDF-Milizen wurden aus der nordsyrischen Stadt Manbidsch vertrieben, es kam täglich zu Zusammenstößen am Tischrin-Staudamm, der bis dahin eine natürliche Pufferzone zwischen den SDF und pro-türkischen Fraktionen war und die von Kurden kontrollierte Region mit Strom versorgte. Seit 2012 hatten sie hier ihre Autonomie verteidigt und sich mit der Assad-Armee arrangiert. Nun aber, mit dem Regimewechsel in Damaskus, hat der türkische Einfluss derart zugenommen, dass die kurdische Autonomie gegen ihren Untergang kämpft.

„Der Tischrin-Damm ist unsere erste Verteidigungslinie. Wenn sie dort durchbrechen, öffnet sich das Tor zur Besetzung der gesamten Region. Auch wenn wir in den Jahren der Kämpfe gegen den Islamischen Staat bereits 14.000 Menschen verloren haben – wir werden dieses Gebiet nicht aufgeben“, versichert Kobane. Auf dem Spiel stehe ein jahrzehntelanges politisches Projekt, das die Unterdrückung der syrischen Kurden beendet habe. Jetzt können Eltern ihre Kinder mit kurdischen Namen rufen und sie in Schulen schicken, in denen auf Kurdisch unterrichtet wird. Eine ethnische Minderheit hat sich Rechte verschafft, wie sie in der mehr als 50-jährigen Herrschaft der Assad-Familie undenkbar waren.

Kommandeur Kobane sagt, die Kampftaktik der pro-türkischen Milizen in Syrien habe sich seit Dezember verändert, sie seien jetzt besser auf die türkische Militärtaktik abgestimmt. „Während sie am Boden kämpfen, bieten türkische Drohnen und Kampfflugzeuge von oben her Deckung und treffen häufig Ziele weit jenseits der Frontlinie.“

Während zuletzt die Gefechte kaum etwas an Intensität verlieren, haben Verhandlungen zwischen SDF-Führern und der neuen syrischen Regierung in Damaskus begonnen. Anfang Januar traf SDF-Chef, General Mazloum Abdi, den HTS-Führer Ahmed al-Sharaa, gegenwärtig syrischer Regierungschef. Abdi nannte das Treffen hinterher „positiv“. Man habe sich auf allgemeine Grundsätze geeinigt und zwei technische Ausschüsse für militärische und zivile Angelegenheiten eingerichtet. „Wir waren uns einig, dass wir ein Teil Syriens sind und Syrien geeint halten wollen“, so der SDF-Führer. „Aber unsere Ansichten darüber, wie man in Damaskus mit der Übergangsphase umgeht, gehen weit auseinander.“ Es sei leider so, dass eine andauernde türkische Intervention Verhandlungen extrem erschwert.

Syriens provisorische Regierung verlangt die Auflösung der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten und deren Integration in ein neues nationales Verteidigungssystem, damit der Nordosten wieder unter die Kontrolle des Staates fällt. Die SDF sind augenscheinlich bereit, sich einer neuen syrischen Armee zur Verfügung zu stellen, aber keineswegs auf ein gewisses Maß an Autonomie zu verzichten.

Offen ist, was mit den gut 2.000 US-Soldaten im Osten Syriens geschieht, deren Auftrag es bisher war, den SDF im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) beizustehen. Die Truppenpräsenz galt darüber hinaus als Abschreckung, um einen türkischen Einmarsch in die von Kurden gehaltenen Gebiete zu verhindern. Die Regierung Trump hat sich bisher nicht zur künftigen US-Politik in Syrien geäußert, aber ihr generelles Ziel, US-Verbände im Ausland zu reduzieren, beunruhigt die kurdische Führung ungemein. 2014 waren die USA mit den SDF eine Partnerschaft eingegangen, um den IS zu besiegen, der damals beträchtliche Territorien im Irak und in Syrien als Teil seines „Kalifats“ beherrschte. Im vergangenen Jahrzehnt wurde diese Partnerschaft zu einem Eckpfeiler für die Sicherheit der kurdischen Autonomie. Gepanzerte US-Fahrzeuge patrouillieren seither durch die Straßen von Städten wie al-Hasaka im Nordosten Syriens, während die Menschen unbeeindruckt an ihnen vorbeilaufen, weil sie sich an ihre Anwesenheit gewöhnt haben.

Es wird allerdings zunehmend schwieriger für die USA, dieses Engagement einer Türkei zu erklären, die SDF-Formationen als syrischen Arm der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) betrachtet und ausschalten will. Ankara stuft die PKK nach wie vor als terroristische Gruppierung ein, mit der man seit 45 Jahren einen bewaffneten Konflikt austrägt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Regierung in Washington schon zu Zeiten von Joe Biden unter Druck gesetzt, ihren kurdischen Partner fallenzulassen. Jetzt dürfte er damit eher Erfolg haben. Der US-Diplomat James Jeffrey – einst Botschafter in der Türkei, Gesandter in Syrien und Emissär für die internationale Koalition zum Kampf gegen den IS – formuliert es so: „Das Problem ist, dass viele Gründe, aus denen heraus wir eine Partnerschaft mit den SDF eingingen, weggefallen sind. Sagen Sie mir, wie soll das ausgehen? Die Türken fragen sich und mich: ‚Was ist aus dem Projekt geworden, das ihr früher stets als zeitlich begrenzte Geschäftsbeziehung bezeichnet habt?‘“

William Christou ist einer der Nahost-Korrespondenten des Guardian



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Von Veritatis

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