Wen genau wählen eigentlich Menschen mit Migrationsgeschichte? Die Datenlage ist zwar noch dürftig, doch es gibt einige gute Hinweise


Ein Wahlhelfer der Linken verteilt Werbematerial für den Direktkandidaten Ferat Kocak am Rathaus Neukölln

Foto: Emmanuele Contini/Imago Images


Wir sind Zeitzeug:innen einer Veränderung der Wählerschaft in Deutschland: Bei der Bundestagswahl, die wahrscheinlich 2029 stattfinden wird, ist zu erwarten, dass mindestens 30 Prozent der Wählerschaft einen Migrationshintergrund haben werden. Momentan sind es rund 12 Prozent. Meine These: Wer die Community-Ansprache nicht so professionell wie die rechtsextreme AfD oder zuletzt die Linke angeht, wird an Relevanz verlieren.

Besonders interessant ist dabei die Gleichzeitigkeit der Migrantisierung der Wählerschaft und des rechtsautoritären Rucks in Deutschland. Die AfD hat diese Gleichzeitigkeit früh erkannt: Sie möchte Migrant:innen remigrieren (oder „deportieren“), wirbt aber gleichzeitig, vor allem in den sozialen Medien, gezielt um ihre Gunst

Migrant:innen remigrieren (oder „deportieren“), wirbt aber gleichzeitig, vor allem in den sozialen Medien, gezielt um ihre Gunst bei den Wahlen. Ein gefährliches Doppelspiel, umso mehr, weil die politische Mitte die Vielfalt der Wählerschaft größtenteils ignoriert.Im Gegensatz zur AfD versäumt es die politische Mitte derzeit, zu begreifen, dass Deutsche mit Migrationsgeschichte längst Wahlergebnisse (mit)entscheiden. Die Linke hat im Wahlkampf vorgemacht, wie diese politische Kraft mobilisiert werden kann – unter Muslim:innen wurde sie laut der Forschungsgruppe Wahlen beispielsweise die stärkste Kraft. Das liegt möglicherweise auch an Influencer*innen wie Anas Islam oder Yunus Peace oder auch Guldan, die explizit Wahlaufrufe für die Wahlen lancierten und auch dazu aufriefen, die Linkspartei zu wählen.Die demokratische Mitte steckt in der KriseDie Versäumnisse der demokratischen Mitte in zentralen politischen Fragen – sei es Migration, soziale Gerechtigkeit, Infrastruktur, internationale Diplomatie, Inflation oder Wohnungspolitik – zeigen sich in den Wahlergebnissen. Das Vertrauen in demokratische Parteien sinkt dramatisch. Auch die Wahlpräferenzen in den Communitys sind sehr unterschiedlich. So gilt die SPD bei den migrantischen Wähler:innen aus dem mitteleuropäischen Raum laut einer aktuellen Studie des DeZim-Instituts mit 72 Prozent als wählbar, während die CDU/CSU bei den Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion mit knapp 69 Prozent hoch im Kurs steht.Die Studie zeigt auch, dass die Potenziale der Grünen bei allen migrantischen Communitys massiv schlechter sind als bei Wähler:innen ohne Migrationsgeschichte. Laut Forschungsgruppe Wahlen sind sie bei explizit muslimischen Wähler:innen mit vier Prozent nicht sehr beliebt. Im Vergleich: Der Bundesdurchschnitt aller Wähler beträgt 11 Prozent (wo natürlich die vier Prozent ebenfalls enthalten sind). Die Linke als strategische NutznießerinSeit dem 7. Oktober 2023 lässt sich ein großer Vertrauensverlust in „die Politik“ feststellen – am stärksten unter muslimischen Deutschen. Doch die Linke konnte von den Versäumnissen von SPD und Grünen profitieren – insbesondere bei progressiven Wähler:innen. Menschenrechtsbezogene Positionen in internationalen Konflikten – etwa im Umgang mit der palästinensischen Bevölkerung – wurde von den Mitte-Links-Parteien ignoriert oder Richtung Mitte-Rechts bis rechtsautoritärer Positionen verlassen. Diese Verschiebungen öffneten angebotsseitig ein progressives Loch, das die Linke erfolgreich vereinnahmen konnte. Das funktionierte nur, weil einseitige Strömungen im Nahost-Konflikt die Partei nicht mehr ausbremsen konnten. Die Kanäle innerhalb der Partei öffneten sich und gleichzeitig öffneten die SPD und Grüne durch ihre Verschiebungen eine Nische im parteipolitischen Wettbewerb. Die Strategie ging auf, weil dieses Angebot perfekt mit der Nachfrage unter migrantischen Communitys matchte. Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Erfolg der Linken unter muslimischen Wähler:innen. Mit 29 Prozent war sie hier die stärkste Kraft.Der neue israelkritische und palästinasolidarische Kurs der Partei spielte für muslimische Wahlberechtigte eine entscheidende Rolle, während sich SPD und Grüne im Wahlkampf zum Nahost-Konflikt ausschwiegen oder einseitig auf die Seite der rechtsextremen Netanyahu-Regierung stellten. Während der EU-Wahl 2024 hatte das BSW noch ein Alleinstellungsmerkmal für diese Nische. Die Linke hat dem BSW erfolgreich das Alleinstellungsmerkmal genommen. Was lernen wir aus der Bundestagswahl? Der Bundestagswahlkampf 2025 offenbarte drei Lehren:Erstens: Social Media ist längst der zentrale politische Informationsraum für viele Menschen. Eine professionelle und authentische Ansprache verspricht eine treffsichere Vermittlung von politischen Botschaften in alle Wählergruppen – also auch in migrantische Communitys. Die Linke hat in ihrem Wahlkampf 2025 gezeigt, wie eine professionelle Social-Media-Ansprache, auch mit progressiven Inhalten, funktionieren kann. Nicht wenige in Deutschland hielten das aufgrund rechtsdriftender Empfehlungsalgorithmen für unmöglich. Die Linke schaffte es mit einer klugen Kombination aus Unterhaltung und politischer Botschaften, die dominanten Marktanteile der AfD auf TikTok zu beschneiden. Statt auf sterile Werbekampagnen in Hochglanz und inhaltslose Social-Media-Clips zu setzen, arbeitete sie mit emotionalen, politischen Botschaften und konnte diese – auch mit der Hilfe von Influencer:innen in verschiedene Wählergruppen – und migrantische Communitys verbreiten. Dazu kommt auch: Die Konzentration auf politische Persönlichkeiten wie Heidi Reichinnek, Jan van Aken und Gregor Gysi war eine erfolgreiche Strategie – aber immer in Kombination mit politischen Inhalten.Zweitens: Eine communityorientierte Ansprache ist essenziell. Migrantische Communitys sind nicht homogen und erst recht nicht nur an Integrationspolitik interessiert. Parteien müssen gezielt auf Themen wie soziale Gerechtigkeit, Bildung, nationale, regionale und internationale Sicherheit, Wohnen und Wirtschaft aus der Perspektive migrantischer Communitys eingehen. Migrantische Communitys haben selbstverständlich Bedarfe, die sich mit anderen Wählergruppen überlappen, aber sie haben auch eigene Interessen. Beides benötigt communitybasierte, politische Angebote. Tölpelhafte Social-Media-Auftritte in Döner-Imbissen (von CSU bis Grüne) dienen eher als Beweis für die Communityferne, statt Communitynähe zu erzeugen – und ist somit mehr Eigentor als Ansprache. Drittens und letztens: Unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse halten nicht Schritt mit den Realitäten der migrantischen Wählerschaft. Im Vorfeld der Wahlen und am Wahltag werden Daten über Wahlentscheidungen erhoben. Sie erlauben dezidierte Analysen nach Geschlecht, Alter, Einkommen und Beruf. Der Migrationshintergrund wird hingegen nicht erhoben. Die Frage ist also, ob wir uns diese Ignoranz angesichts einer Demografie von bald 30 Prozent Wahlberechtigten mit Migrationsgeschichte eigentlich leisten?



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert