Nicht der Antiamerikanismus scheidet bis heute Ost und West, sondern der Anti-Antiamerikanismus: Bemerkungen zu einer deutsch-deutschen Gretchenfrage
Checkpoint Charie, Berlin: Wo ist er nur, der 51. State of America?
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Eines hatte die erneute Präsidentschaft Donald Trumps auch in der deutschen Politik- und Mediensprache bewirkt. Es war das weitgehende Verstummen des Antiamerikanismus-Vorwurfs. Andernfalls könnten die antitrumpistischen Medien- und Politikmilieus Deutschlands leicht der Amerika- oder Amerikanerfeindlichkeit bezichtigt werden: Sie hadern mit dem, was eine Mehrheit der US-amerikanischen Wählerschaft entschieden hat.
Dennoch sind die Tage des Antiamerikanismus-Vorwurfs noch nicht gezählt. Er ist ein Relikt des Kalten Krieges, dessen Blockdenken derzeit auflebt. Verstörte Transatlantiker von Grün bis Schwarz sehen sich alleingelassen in einer multipolaren Welt. Bipolare Konfliktschemata versprechen Halt und Orientierung. Das zeigt sich besonders am Ukrainekonflikt
nekonflikt. In Ostdeutschland sind Sorgen vor einer noch tieferen Verstrickung in ihn und ein entsprechendes Wahlverhalten verbreitet. Dies wiederum wird gern einem antiamerikanischen, weil prorussischen Ressentiment-Erbe zugeschrieben.Wer so argumentiert, ist in der Regel westdeutsch sozialisiert, kann sich die östliche Bewusstseinsrealität vor und nach 1990 nur aus SED-Propagandazeugnissen rekonstruieren und unterstellt daher, die innere Anverwandlung an „seine“ Besatzungsmacht habe in dem ihm unbekannten Landesteil analog stattgefunden. Diese Analogie trügt jedoch. Im Ostblock, speziell in der DDR, suchte nur eine Minderheit die kulturelle Nähe zur Sowjetunion. Hingegen verschwamm in 40 Jahren BRD dem bundesdeutschen Gemüt allmählich das Westdeutsche mit dem Westlichen und das Westliche mit dem US-Amerikanischen.Die Chiffre AmerikaWestdeutschlands stets betonte US-Nähe und der Antiamerikanismus-Topos seit dem Kalten Krieg gehören zusammen. Das verweist zunächst auf eine Problematik des bürgerlichen Westens insgesamt. In seinen Idealen existiert er seit dem historischen Siegeszug des Bürgertums universell, in seinen Interessen war er sozial und lange auch national partikular. Wie Konkretes und Allgemeines zur Deckung bringen? „Amerika“ als staatliche Konkretion universell-westlicher „Werte“ verspricht genau dies. Praktisch werden kann der emphatische Amerikabegriff aber erst im Vorwurf und Verdacht des „Antiamerikanismus“.Darin holt die Westdeutschen ihr verfrühter Abschied von deutscher Einheits-, damit aber auch Schuld- und Schuldengeschichte ein. Ihr mehrheitlicher Entschluss war es 1949 gewesen, nur mehr in einem Staatskonstrukt aus materiellen und moralischen „Werten“ zu leben. Nach den Segnungen von Marshallplan und Wirtschaftswunder wuchs der Wunsch, von deutscher Schuldvergangenheit freigesprochen, unter den Völkern wertgeschätzt zu sein. Ein Wunsch, der den Westdeutschen konkret nur durch die Zuneigung der US-Amerikaner erfüllbar schien, deren treuester Verbündeter sie wurden. Ihre Überzeugung, sich rechtschaffen „amerikanisiert“ zu haben, verteidigen viele Altbundesdeutsche bis heute als ihre nun endlich erlangte Weltoffenheit.Nun ist aber „Amerika“ so wenig eine Einheit oder etwas Eindeutiges wie die Wunschbilder, die aus Deutschlands medialem Raum an es herangetragen werden. Doch sind diese Wunschvorstellungen mentalitätshistorisch harte Fakten. Sie künden von Problemen bundesdeutscher Selbstvergewisserung oder zeitgemäß: Identität. Die zwiespältige Identität als Nation jenseits des Nationalstaats bedingte, dass die Bundesrepublik ihre Selbstbilder nur aus ideologischen Gegenbildern gewinnen konnte. Das waren nacheinander Antibolschewismus, Antitotalitarismus, Antifaschismus und jüngst wieder Anti-Antiamerikanismus.Mit der Einheit war der Verdächtigenkreis für Antiamerikanismus um 16 Millionen Köpfe erweitert. Bald zeigte sich, wie beliebig der Begriff geworden war: So wurden den wenigen wirtschaftlichen Aufsteigern aus dem Osten sozialethische Defizite unterstellt, demokratiepraktische ohnehin. Westdeutsche Soziologen etablierten hierfür ein Deutungsmuster, wonach dem freiheitspolitisch bewegten Citoyen West der sozial indifferente Neureiche Ost, dem Kulturbürger West der Turbounternehmer Ost gegenüberstehe, der seine Profitinteressen auch unter Moskaus Knute ungerührt verfolgen würde.Jahrelang pflegten „Veteranen des Westdeutschen“ – so sarkastisch der sächsische Autor Peter Richter – einen ostentativ anti-antiamerikanischen Groll gegen den Osten, der pauschal antiamerikanischer Ressentiments geziehen wurde. Kultureller Hochmut gegenüber der US-Konsumkultur – so jüngst Thomas Petersen in Das Gesicht des Totalitären – war noch der geringste Vorwurf, „leistungsträges Ost-Ressentiment“ versus westlichen Leistungsstolz – so zuletzt im Tagesspiegel Erhard Schütz – wog schon schwerer. Doch macht sich inzwischen auch klammheimliches Grauen vor einem leistungsbesessenen Osten breit. Ostdeutscher Selbstausbeutungswille, das Malochertum der Dumpinglöhner etwa, wurde durch den Kasseler Soziologen Heinz Bude einer brutal-prolligen „Avantgarde des Amerikanismus“ zugeschrieben, die westdeutscher Demokratiesorge und Lebenslockerheit abhold sei.Die Wärme einstiger LoyalitätDerlei Anti-Antiamerikanismus per Ossi-Bashing (wie auch umgekehrt!) sollte nur einmal schwächeln, während der Ära Gerhard Schröder. Ein urwestdeutscher Aufsteigertyp zwar, der aber sein Land gegen die Bush-Aufwärterin und Kanzlerschaftskandidatin Angela Merkel aus den nahöstlichen US-Abenteuern heraushalten wollte!Nach dem offenen Ausbruch des Ukrainekriegs 2022 lebte der Antiamerikanismus-Verdacht altbundesdeutscher Leitmedien wieder kräftig auf. Gängig war die Unterstellung, beim falsch wählenden und politisch falsch empfindenden Osten handele sich um ein Land der Putinknechte, russlandhörig und antiamerikanisch aus Unterwerfungslust, aber auch aus kultursentimentalen Neigungen. Oder wären die Ossis gar gemütsverwandt mit dem isolationistischen, reaktionären, trumpistischen und also falschen Amerika? Einige Medien der Alt-BRD verfolgten diese Linie: Die Ossis sind unsolidarisch, mit ihrem Wir-Gefühl ist es nicht weit her, sie denken historisch kurz, nur an sich und ihren Frieden. Oder denken sie zu weit zurück, etwa an den letzten Krieg, den ja der Osten Deutschlands für den Westen mitbezahlen musste? Je länger die Invasion andauert, desto öfter ist von antiamerikanisch-prorussischer Loyalität des Ostens zu hören, wenn es um die dort verbreitete Kriegsunlust geht. Die mittlere und ältere Generation der Alt-BRD, im Kalten Krieg sozialisiert, ohne lebensweltliche Möglichkeit des Systemvergleichs, behilft sich angesichts der westlichen Blockfragilität von heute mit Reminiszenzen einstiger Blockloyalität.Doch das verzerrt die historische Sachlage. Die Amerikapolitik der DDR war so wenig autark wie die der BRD. Vor allem konnte das staatspropagandistische Amerika-bild der DDR-Amerikapolitik nicht dienlich sein, weil es fast wirkungslos blieb. Beide deutsche Staaten hatten in den 1980ern trotz ihrer „Schutzmacht“-Loyalitäten nach vorteilhaften Sonderwegen gesucht, auch in Form der außenpolitischen Intrige. Die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen wurden aber durch den konservativen, marktradikalen Backlash im gesamten Westen – in der BRD „geistig-moralische Wende“ betitelt – schwer belastet. Hinzu kam die Militärherrschaft in Polen, die einer Intervention Moskaus vorbauen sollte. Die „Eiszeit“ zwischen den Blöcken wurde zu einer deutsch-deutschen. Der Gegensatz USA-UdSSR dominierte zusehends die Innenpolitik der Vasallen. Ronald Reagan sollte am 8. Juni 1982 in London die UdSSR als „Reich des Bösen“ bezeichnen und Geopolitik blockweit ideologisieren.Die Wirtschaft zog nach. 1983 traf das US-Getreideembargo gegen den Ostblock auch die DDR. Misstrauisch verfolgte man in Washington die Kontakte zwischen SPD und SED und entsandte mit dem Außenminister-Vize Richard Burt einen Mann nach Berlin, der Staats- und Parteichef Erich Honecker die amerikanische Politik – an Moskau vorbei – aus erster Hand darlegen sollte. Zur Zeit der zweiten Reagan-Regierung hatte das State Department somit eine eigene DDR-Politik eingeleitet.Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die DDR-Führung jedoch trotz wirtschaftlicher Nachteile bereits auf den Primat des Ideologischen festgelegt, was sich etwa in Honeckers Äußerungen zur Menschenrechtsfrage zeigte. Diese Zusammenhänge waren der DDR-Bevölkerung kaum bekannt und für sie auch wenig relevant. Sie hatten keine Auswirkungen auf ihr Amerikabild. Zur negativen Bewertung von Reagans Politik trug viel effektiver das öffentlich-rechtliche West-Fernsehen bei. Doch auch dies bewirkte keine „antiamerikanische“, etwa nationalpazifistische Empörung. Die DDR-Friedensbewegung speiste sich aus anderen Impulsen, die der grünen Jugendkultur Westdeutschlands ähnelten.Als das Demoskopieinstitut Allensbach 1991 erstmals in der Ex-DDR erkunden wollte, ob die dortigen Deutschen die Amerikaner wertschätzten, und wenn ja, in welchem Ausmaß, zeigten sich – für die westlichen Befrager überraschend – 37 Prozent der Befragten positiv eingestellt. Nur 23 Prozent mochten die Amerikaner „nicht besonders“, der Rest blieb indifferent.Der Chic des BösenUnmittelbar nach der Einheit galt im Osten ein Michail Gorbatschow mehr als jeder US-Politiker. Doch war dies im Westen nicht anders. Wie sehr man dort bereits die eigene US-Abhängigkeit zugunsten eines Selbstporträts mit mediterranem Strohhut zu verkennen liebte, zeigt eine andere Umfrage: In Westdeutschland fühlte sich in den 1990ern eine Mehrheit den Franzosen näher als den Amerikanern. Hingegen rangierten in Ostdeutschland die Amerikaner vor den Russen, die sich dezent aus ihren Kasernen zurückzogen. Auch die Befürwortung der Einheit durch die USA wurde im Osten realistischer als im Westen beurteilt. Nur drei Prozent der Ostdeutschen, jedoch fünf Prozent der Westdeutschen unterstellten den USA Einheitsfeindschaft.Von kulturellen Faktoren wäre ebenfalls zu sprechen, etwa von der Präsenz des „Progressiven Hollywood-Kinos“ in der DDR. Deren staatliche Ankaufstrategie sowie die Verlags- und Pressepolitik sollten ein realistisches, sprich: düster-gefährliches Bild vom Alltag zumal der US-Metropolen zeichnen. Die Wirkung war gegenteilig, lief auf ästhetische Faszination dank des Chics des Bösen hinaus. Die USA bedeuteten, in Unkenntnis ihrer agrarweltlichen, kleinstädtischen Dimension, für DDR-Bürger oft das Idol eines Daseins frei von Staatsbevormundung, einer grausamen, aber unverfälschten Realität großstädtischen Lebens. Kurz, das Freund-Feind-Schema der DDR-Medienpolitik blieb weitgehend erfolglos.Lieblingsvölker im Guten oder im Bösen zu haben ist atavistisch, dementiert unfreiwillig das, was behauptet werden soll: Bürgerschaft in großer Welt. Die provinzielle Mentalität der alten Bundesrepublik, die derzeit unsanft aus ihren deutsch-amerikanischen Freundschaftsfantasien aufgestört wird, verwechselte Völkerfreundschaft und Staatsabhängigkeit. Der nüchterne Blick der Ostdeutschen auf diese Differenz gehörte zu den wenigen Privilegien, die sie sich über den Untergang der DDR hinaus bewahren konnten.Jürgen Große ist Kulturhistoriker. Zuletzt erschienen: Der ewige Westen. Wie ein Land nach sich selbst suchte und die alte Bundesrepublik fand (Das Neue Berlin 2024)