Die Syrien-Politik der Regierung in Ankara führt nicht zum Erfolg. Es lässt sich kein zentralistischer Staat durchsetzen, der vor allem die Rechte der Kurden beschneidet. Was bedeutet das für einen Friedensprozess mit der PKK in der Türkei?


Welchen Einfluss hat der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan noch?

Yasin Akgul/AFP


Als eine kurdische Delegation vor einer Woche im Zentrum von Istanbul die Botschaft des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan verlas, inspizierte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in einem weit davon entfernten Stadtteil die Baustelle einer neuen Autobahn. Ob nun zur Schau gestellt oder real – das Desinteresse des türkischen Alleinherrschers passt schlecht zur historischen Bedeutung, die der Aufforderung Öcalans an die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen, zugeschrieben wird.

Die Kurden der Türkei hoffen auf die Freilassung politischer Gefangener, mehr kulturelle Rechte und eine vorsichtige Rückkehr zur Demokratie. Türkische Nationalisten fürchten, dass noch die geringsten Zugestä

te und eine vorsichtige Rückkehr zur Demokratie. Türkische Nationalisten fürchten, dass noch die geringsten Zugeständnisse an die Kurden den Separatismus befördern und zur Aufteilung des Vaterlandes führen. Die Bevölkerung insgesamt ist des Konflikts müde, der in 23 Jahren weit über 40.000 Tote gefordert hat, mehrheitlich waren es Kurden.Für Erdoğans Zurückhaltung gibt es gleich mehrere Gründe. Zum ersten ist vollkommen offen, ob die militärische Führung der PKK Öcalans Worten in allem folgt. Der hat nicht nur die bedingungslose Auflösung der von ihm in den späten 1970er Jahren gegründeten Partei verlangt, sondern zugleich ausnahmslos allen ihren politischen Zielen abgeschworen. Einst gehörten dazu eine Eigenstaatlichkeit der Kurden oder eine föderale Struktur der zentralistischen Türkei, wenigstens aber eine kurdische Autonomie. Selbst eine lokale Selbstverwaltung und „kulturalistische Lösungen“ – sprich: Unterricht in der Muttersprache –, das alle führe nirgendwohin, sagte nunmehr Öcalan, der seit mittlerweile 26 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer in Haft sitzt. Ihm wurde für seinen Aufruf die Möglichkeit einer Begnadigung eröffnet.Man muss in Betracht ziehen, dass die PKK in der Türkei fast keine Rolle mehr spielt.Man muss in Betracht ziehen, dass die PKK in der Türkei fast keine Rolle mehr spielt. Seit circa acht Jahren schon befindet sie sich fast nur noch in der Defensive, erst in der Türkei, später auch im Nordirak, wo Ankaras Armee über 50 Stützpunkte errichtet hat. Türkische Kampfdrohnen haben die mittlere militärische Führungsebene der PKK zum großen Teil eliminiert. Es kommt hinzu, dass die Milizen der irakischen Kurden die türkische Armee beim Kampf gegen bewaffnete PKK-Formationen inzwischen unterstützen.PKK-Bekämpfung als VorwandSchließlich nutzt die Regierung in Ankara den Konflikt mit der PKK, die auch von der Europäischen Union und den USA als Terrororganisation eingestuft ist, als Vorwand, um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie weiter abzubauen. Fast alle Bürgermeister, die auf den Listen der pro-kurdischen Partei DEM (Demokratische Partei der Völker) gewählt worden sind, hat der türkische Staat abgesetzt. Sie werden beschuldigt, mit der PKK zu sympathisieren und ihr beizustehen. Gegenwärtig haben die Repressionen die stärkste Oppositionspartei, die säkulare CHP (Republikanische Volkspartei), erreicht. Auch CHP-Stadtoberhäupter verlieren ihre Ämter, wenn sie in ihrem Wahlkampf die Hilfe der pro-kurdischen DEM in Anspruch genommen haben. Auch in diesem Fall lautet der Vorwurf, dies habe die PKK begünstigt.Nicht ohne Grund fürchtet die CHP, dass eine Welle der Vergeltung am Ende auch Ekrem İmamoğlu erreicht, den überaus populären CHP-Bürgermeister von Istanbul, der als aussichtsreichster Konkurrent von Staatschef Erdoğan bei den nächsten Präsidentenwahlen gilt. Schon laufen drei Gerichtsprozesse gegen İmamoğlu. Wird er verurteilt, ist das gleichbedeutend mit dem Verbot, sich politisch zu betätigen. Löst sich aber die PKK tatsächlich auf, läuft diese Strategie Erdoğans ins Leere, weshalb die CHP und mit ihr die gesamte demokratische Opposition den Aufruf Öcalans begrüßt haben.Der Wunsch nach Einfluss in SyrienDer wichtigste Grund dafür, dass der türkische Präsident der Initiative des PKK-Begründers keine allzu große Bedeutung beimisst, ist allerdings außenpolitischer Natur. Es geht um Syrien. Dort hatte seine Regierung das Komitee zur Befreiung der Levante (HTS), unter dessen Führung das Regime von Baschar al-Assad Anfang Dezember 2024 gestürzt wurde, jahrelang vor russischen Angriffen militärisch geschützt und es ihm ermöglicht, in der nordsyrischen Provinz Idlib zur bestimmenden Kraft zu werden, um dort erste Regierungserfahrung zu sammeln. Nach der Flucht Assads aus Damaskus Anfang Dezember waren der türkische Geheimdienstchef Ibrahim Kalın und sein Vorgänger im Amt, der heutige Außenminister Hakan Fidan, die ersten Vertreter eines ausländischen Staates, die in der syrischen Hauptstadt Flagge zeigten. Erdoğan selbst hatte nach dem Fall Assads geprahlt: „So wie in Syrien verweist alles, was in letzter Zeit in unserer Region passiert, auf uns.“ Es sei das Schicksal der Türkei, Führungsnation zu werden. „Die wahre Türkei ist größer als die heutige Türkei“, gab sich Erdoğan überzeugt und forderte seine Nation auf, über die 782.000 Quadratkilometer der Republik Türkei hinauszudenken.Es ist das vorrangige Ziel der Regierung in Ankara, die von syrischen Kurden dominierte Selbstverwaltung im syrischen Nordosten zu zerstören.Im Umfeld seiner Partei AKP war man sicher, künftig den Lauf der Dinge in Syrien maßgeblich bestimmen zu können. Doch die Geschehnisse dort tendieren nicht in die gewünschte Richtung. Immerhin ist es das vorrangige Ziel der Regierung in Ankara, die von syrischen Kurden dominierte Selbstverwaltung im syrischen Nordosten zu zerstören. In dieser Region herrschen die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), in denen die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) das Sagen hat. Deren Miliz, die YPG, rekrutiert mit den Volksverteidigungseinheiten die größten militärischen Verbände der syrischen Kurden. Die PYD wurde 2003 auf Anraten Abdullah Öcalans und mit Hilfe der PKK gegründet, weshalb die Türkei sie umgehend mit der PKK gleichsetzte. Doch wollte sich die PYD nicht an deren Krieg gegen die Türkei beteiligen. Sie hat vielmehr kurdisches Siedlungsgebiet wie 2014 die Stadt Kobane unter erheblichen Opfern gegen den Islamischen Staat (IS) verteidigt.Damals begann auch eine Kooperation mit den Vereinigten Staaten, von denen die syrischen Kurden in den folgenden Jahren großzügig mit Waffen ausgestattet worden sind. Ankara droht schon lange mit einer weiteren militärischen Intervention und hält sich bisher nur aus Furcht vor den USA zurück, die nach wie vor mit circa 2.000 Soldaten in Nordostsyrien präsent sind. Für wie lange das noch der Fall sein wird, ist eine offene Frage.In seinem Aufruf an die PKK, sie solle sich auflösen, hat Öcalan die PYD und Syrien nicht erwähnt und damit Ankaras wichtigste Hoffnung enttäuscht. Denn besteht die Selbstverwaltung weiter, erlangen kurdische Kräfte nicht nur im Irak, sondern ebenso in Syrien eine – wenn auch begrenzte – Autonomie, schürt das in der türkischen Führung die Angst, der Funke könnte überspringen, wenn man den eigenen Kurden nicht entgegenkommt. Um die Gefahr einer kurdischen Autonomie in Nordsyrien zu bannen, drängt Ankara die neuen Herrscher in Damaskus, den strikten Zentralismus eines Baschar Al-Assad fortzuführen. Syrien soll sich erneut als Arabische Republik definieren und keinerlei Dezentralisierung mehr zulassen.Kein Interesse an DezentralisierungAhmad al-Scharaa, Anführer der HTS und selbsternannter interimistischer Regierungschef, liegt voll auf dieser Linie. Freilich mehrten sich jüngst die Anzeichen dafür, dass nicht nur die Kurden, sondern auch andere ethnische und religiöse Gruppen Syriens auf politische Mitsprache drängen und eine Dezentralisierung oder gar Autonomie als Weg dahin begreifen. So formieren sich im Süden nahe der Grenze zu Israel und Jordanien Teile der drusischen Bevölkerung und fordern für ihr Siedlungsgebiet mehr Souveränität. Sie haben damit begonnen, militärischen Selbstschutz aufzubauen und verweigern Militärverbänden aus Damaskus die Kontrolle über ihr Territorium.Im Westen gärt es an der Mittelmeerküste unter der alawitischen Minderheit, die nicht nur unter der Assad-Familie, sondern seit der Unabhängigkeit von 1946 zur syrischen Staatselite gehörte. Auch hier haben sich bereits bewaffnete Gruppen formiert und öffentlich Autonomie verlangt. Dass die neuen Herrscher in Damaskus zu ihrer groß angekündigten Konferenz für einen nationalen Dialog, die am 26. Februar zu Ende ging, keine Vertreter der Minderheiten einluden, hat Öl ins Feuer gegossen.Die feindlichen Nachbarn des neuen Regimes werden das für sich zu nutzen suchen. Israel hat nicht nur zu verstehen gegeben, seine Besatzung der syrischen Golan-Höhen zu verstetigen, es will auch Schutzmacht der Drusen im Süden sein. Israelische Militärs haben in deren Siedlungsraum bereits sieben Stützpunkte gegründet. Es wird ein Gewaltmonopol beansprucht, wenn Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ultimativ verlangt, dieses Terrain ansonsten zu demilitarisieren. Es dürfte für Ankara ausgesprochen alarmierend sein, dass Israel auch zu den syrischen Kurden Verbindung aufgenommen hat. Man betrachte sie als natürliche Verbündete, meinte Ende 2024 Außenminister Gideon Sa‘ar.Es dürfte für Ankara ausgesprochen alarmierend sein, dass Israel auch zu den syrischen Kurden Verbindung aufgenommen hat.Noch ist längst nicht ausgemacht, dass die Türkei vom Machtwechsel in Syrien tatsächlich so profitiert, wie sich das Präsident Erdoğan vorstellt. Und wahrscheinlich hat auch Abdullah Öcalan sein letztes Wort noch nicht gesprochen, selbst wenn die PKK mittlerweile einen Waffenstillstand mit der Türkei verkündet hat. Die Formel lautet: „Solange keine Angriffe auf uns erfolgen, werden unsere Kräfte keine bewaffneten Aktionen durchführen.“ Und es wird ein Junktim als unerlässlich erachtet – die Freilassung Öcalans als Bedingung für einen erfolgreichen Vollzug seines Aufrufs. Er müsse „in die Lage versetzt werden, unter freien Bedingungen zu leben und zu arbeiten“. Die Waffen der PKK könnten nur unter der Führung Abdullah Öcalans niedergelegt werden.Günter Seufert ist Soziologe und Buchautor. Er war zudem Gründungsdirektor des Zentrums für Angewandte Türkeistudien (CATS) bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)



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Von Veritatis

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