Hohe Krankenhauskosten, kein Mutterschutz und kein bundesweites Recht auf Abtreibung. Schwangere Frauen werden in den USA systematisch benachteiligt. Ganz im Sinne des Kapitalismus


Das fehlende soziale Sicherungsnetz zwingt Frauen, möglichst schnell wieder zu arbeiten

Foto: Andrew Harnik/Getty Images


In Deutschland wird wieder verstärkt über das Recht auf Abtreibung diskutiert. Aus gutem Grund: Die USA haben vorgemacht, wie schnell das grundlegende Recht auf den Abbruch einer Schwangerschaft eliminiert werden kann. Die USA sind jedoch auch in anderer Hinsicht ein mahnendes Beispiel.

Während sich sogenannte Pro-Life-Aktivisten vor Abtreibungskliniken versammeln und für die Rechte der Ungeborenen kämpfen, kümmern sich dieselben Personen wenig darum, was aus Babys und ihren Müttern wird, ist der Embryo erst einmal eine Person außerhalb des Mutterleibes. Und die Mütter- wie die Säuglingssterblichkeit in den USA sind hoch: Im Schnitt sterben dort zehn Mütter pro 100.000 Lebendgeburten. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 3,5.

Diese Todesfälle wären zu einem großen Teil vermeidbar, hätten alle Mütter, unabhängig von ihrem ökonomischen Status, Zugang zu guter Gesundheitsversorgung. Das gilt nicht nur für jene, die keine Krankenversicherung haben. Selbst wer krankenversichert ist, bekommt manchmal einen bösen Schreck, wenn die Rechnung für die Entbindung im Briefkasten liegt: Nicht selten bringen sie Verbindlichkeiten von Tausenden Dollar mit ihrem Neugeborenen nach Hause.

Horrende Gesundheitskosten, kein staatlich garantierter Mutterschutz, kein Elterngeld und exorbitante Kosten für private Kinderbetreuung: Man wundert sich aus deutscher Sicht, warum Frauen in den USA überhaupt Kinder in die Welt setzen.

Traumhafte Verhältnisse aus kapitalistischer Sicht

Und hier kommt erneut das Recht auf Abtreibung ins Spiel: Kreiert man ein System, in dem das Kinderhaben ein Luxus ist und im schlimmsten Fall mit hoher Verschuldung einhergeht, dann muss man schon sicherstellen, dass trotzdem Kinder in die Welt gesetzt werden. Bisher betrachten wir die strengen Abtreibungsverbote in einigen US-Bundesstaaten lediglich als Ausdruck religiöser Ideologie (bei welcher der Evangelikalismus den Katholizismus in seiner Radikalität noch zu übertreffen scheint). Aber Religion bekommt in einem kapitalistischen Staat nur dann ihr Recht, wenn sich deren Interessen mit denen des Kapitals decken. In den USA ist das der Fall.

Das fehlende soziale Sicherungsnetz zwingt Frauen, möglichst rasch an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Ein landesweites Recht auf bezahlten Mutterschutz gibt es aus Rücksicht auf die Interessen der Wirtschaft nicht. So kommt es, dass ein Viertel aller US-Mütter bereits acht Wochen nach der Geburt wieder arbeiten.

Aus kapitalistischer Sicht sind das traumhafte Verhältnisse: So stellt man Reproduktion sicher, wenn Verhütungsmittel teuer und Abtreibungen unmöglich sind und Mütter unter allen Umständen arbeiten müssen. Der Widerspruch zwischen Produktion und Reproduktion wird aufgelöst – jedenfalls im Sinne des Staates, der das Kinderkriegen als Privatvergnügen betrachtet. Die Mütter sollen eben nicht an den Herd gezwungen werden, sondern an die Werkbank – das galt bereits für die Arbeiterinnen des 19. Jahrhunderts.

Das ist der Grund, warum wir Europäerinnen wachsam bleiben müssen; nicht nur, was die Abtreibungsfrage anbelangt, sondern auch in Fragen der Rücknahme sozialer Errungenschaften wie bezahlbarer Kinderbetreuung oder des Elterngeldes. Wo Hardcore-Libertäre und rechte Lebensschutz-Ideologen Liebesehen eingehen, können wir Frauen nur verlieren.

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Mutti Politics

Marlen Hobrack ist Schriftstellerin, Journalistin, Mutter und Autorin der monatlichen Freitag-Kolumne „Mutti Politics“. Ihr Buch Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet (2022) ist gerade in einer Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.

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Marlen Hobrack ist Schriftstellerin, Journalistin, Mutter und Autorin der monatlichen Freitag-Kolumne „Mutti Politics“. Ihr Buch Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet (2022) ist gerade in einer Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.



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Von Veritatis

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