„Halbinsel“, der neue Roman von Kristine Bilkau, porträtiert eine nicht ganz unkomplizierte Mutter-Tochter-Geschichte und fragt: Wie viel Verantwortung trägt man?


Die Schriftstellerin Kristine Bilkau

Foto: Thorsten Kirves


Vielleicht könnte man das Genre als Küstenliteratur bezeichnen? Eine Frau um die 50 muss ihr Leben neu sortieren. Sie lebt am nordfriesischen Wattenmeer, und die beständige Brise, die unvermittelt in Sturm übergehen kann, ist ein Sinnbild für ihr Leben. Vielleicht kann man sich so an den für den diesjährigen Leipziger Buchpreis nominierten Roman Halbinsel der Hamburger Schriftstellerin und Journalistin Kristine Bilkau herantasten. Statt Coming-of-Age, also Adoleszenzgeschichte, Coming-of-Middle-Age. Die Tochter Linn, Mitte 20, ist ausgeflogen, und Protagonistin Annett hängt in einem Leben, das hier und da Sinnfragen aufwirft: An Ort und Stelle bleiben oder wegziehen? Was verankert sie noch an diesem Ort? Und was würde sie in der Fremde erwarten?

de erwarten? Wie viel Verantwortung muss man noch für das erwachsene Kind tragen?Man dichtet gerne den Männern Midlife-Krisen an. Zu selten wird über die Phase der (Peri-)Menopause der Frauen nachgedacht, in der sich alles radikal ändert. Sie kaufen dann seltener einen Porsche. Vielmehr bewerten sie kritisch das bisherige Leben. Oder das der eigenen Tochter. Bilkaus Roman nämlich beginnt mit einem Schwächeanfall der Tochter, als diese einen Vortrag hält. Natürlich lässt die Mutter sofort alles stehen und liegen, um sich um die Tochter zu kümmern – und holt sie zu sich nach Hause.Was anfangs noch recht harmonisch und für Annett sogar belebend erscheint, verwandelt sich abrupt, als sich herausstellt, dass Linn ihr Leben nachhaltig ändern möchte. Weg von der Überholspur, hin zu einem entspannten Leben, das wirklich Sinn stiftet. Plötzlich kommt sehr viel auf den Tisch zwischen Mutter und Tochter: der Absturz einer High Performerin (Linn), die womöglich nachholen sollte, was der Mutter selbst verwehrt blieb, eine doch nicht ganz so unkomplizierte Mutter-Kind-Konstellation, die durch den frühen Tod von Linns Vater verursacht wird, und nicht zuletzt der Klimawandel.Linn hat zuvor bei einem Unternehmen gearbeitet, das sich angeblich nachhaltigem Wirtschaften und Aufforstungsprojekten widmen wollte. Doch schließlich entlarvt sie die Firmenstrategie als Greenwashing. Linns Zusammenbruch bei dem Vortrag spiegelt in gewisser Weise die Verzweiflung der Jugend im Angesicht der Klimakrise und der mangelhaften Maßnahmen zur Abwendung derselben. Die erzählerische Funktion der Rückkehr der jungen Frau auf die mütterliche Halbinsel liegt auf der Hand: Hier wird der Klimawandel über kurz oder lang das Land verschlingen. No future, nur anders als damals in den 1970ern. „Wie oft die Leute davon schwärmten, nah am Wasser zu leben, ein Haus mit Blick auf das Meer, ein Gartenstück am Flussufer.“„Doch selbst ein schmaler, friedlicher Fluss konnte sich in ein Ungeheuer verwandeln, sobald die stürmische Winterzeit anbrach und der verregnete Frühling folgte“, denkt Ich-Erzählerin Annett. Bilkau erzählt mit ihr keine unerhörte Begebenheit, sondern die Ruhe und die graduellen Umbrüche des Lebens, die Menschen durchmachen. Obendrein eine zarte Mutter-Tochter-Geschichte, in der es um Nähe und Abstand, Selbstständigkeit und Verbundenheit geht. Um die feine Hoffnung, von der Tochter doch noch gebraucht zu werden – und die Sorge, die damit ins Leben der Mutter zurückkehrt. Die Frage auch nach dem guten Leben im falschen. Nicht ganz überraschend sind es landflüchtige Großstädter, die diese Frage an Annett herantragen: Linn selbst, aber auch die neuen Dorfbewohner Agnes, Marie und Levin, die sich im Haus neben Annett eingemietet haben und nach einem besseren Leben suchen. Mit Levin wird Annett zart anbändeln und damit die Erotik in ihr Leben zurückkehren sehen.Erzählt ist das alles ganz souverän und unaufgeregt, ohne formale oder stilistische Spitzfindigkeiten, so nüchtern und bodenständig, wie Annett eben ist. Atmosphäre und Lebenseckdaten sind mit leichter Hand skizziert. Dafür sorgt die Szenerie selbst: das Halbinsel-Dasein, die Küstenlandschaft, die Wattwanderungen, die allgemeine Entschleunigung. Selbst die Liebelei bleibt nüchtern, Annett flüchtet sich nicht in Fantasien, sie erlaubt sich nur ein wenig Genuss.Dass Annett selbst eine Halbinsel ist – verbunden mit der Tochter, nicht ganz abgeschnitten und doch auf sich gestellt – das begreift man sofort. So hegt Annett großes Verständnis für Linns Wunsch, die Welt zu verbessern. Mit Unverständnis hingegen reagiert sie auf deren Rückzug in den mütterlichen Haushalt, beinahe in den Mutterleib, geht er doch scheinbar mit dem Verlust von Eigenständigkeit und Ambition einher. Diese Ambivalenz mutet tatsächlich eigentümlich an. Annett tut alles – und viel zu viel –, um ihrer Tochter zu helfen, und ist doch erschrocken über deren Rückkehr ins Halbinsel-Leben.Bittersüßer WiderspruchWobei Bilkau in ihrem neuesten Roman bisweilen zu viel ausbuchstabiert. Welche Konflikte da zwischen Mutter und Tochter lauern, das ist von Anfang an deutlich. Trotzdem wird Annetts emotionale Ambivalenz und Verunsicherung noch einmal ganz deutlich benannt: „Ich dachte über Fürsorge nach, für das eigene Kind. Wie sehr stand diese Fürsorge der Freiheit des Kindes im Weg? Darin lag ein Konflikt, tatsächlich ein Widerspruch. Ich hatte die beiden Seiten, Fürsorge und Freiheit, jeden Tag aufs Neue ausgelotet. Ohne den Widerspruch auflösen zu können. Mit einem bittersüßen Gefühl der Ungewissheit.“Auch das bei einer Wattwanderung plötzlich durchgehende Pferd – ein Grauschimmel – wird als Dingsymbol, eigentlich unnötig, ausbuchstabiert. Wer nicht von selbst auf den Bezug zum unheilverkündenden Schimmelreiter kommt, dem wird es im Text erläutert. Dabei ist das Wesen, das unbeirrbar dem eigenen Untergang entgegenrennt, ein ausreichend starkes Sinnbild im Zeitalter des menschengemachten Klimawandels.Halbinsel Kristine Bilkau Luchterhand 2025, 224 S., 24 €



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Von Veritatis

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