Nach den Plänen der Regierung von Premier Tusk soll in Polen spätestens in der zweiten Hälfte der 2030er Jahre Strom aus Kernenergie gewonnen werden. Die erste Bauphase eines Atomkraftwerks an der Ostsee steht unmittelbar bevor
Mitglieder von „Baltyckie-SOS“ diskutieren mit Jaroslaw Bach, Bürgermeister der Gemeinde Choczewo, in deren Umfeld viel Wald gerodet wurde, um Baufreiheit für das geplante Kernkraftwerk zu schaffen
Foto: Maciek Nabrdalik/NYT/Laif
An einem sonnigen Tag läuft Agnieszka Olszewska einen von zwei langen Bauzäunen eingehegten Weg entlang. Es geht an Kiefern und Tannen vorbei, die nahe Ostsee rauscht. Olszewska ist 47 Jahre alt, sie trägt an diesem Tag ein rotes Kleid, spricht leise, aber eindringlich. „Ich komme selten hierher, weil es wehtut, das alles zu sehen.“ In diesem Moment drückt ein Windstoß knirschend ein Tor im Zaun auf. Eine weite gerodete Fläche gerät in den Blick – Schlamm, Sand, Reifenspuren. Hier soll das erste polnische Kernkraftwerk entstehen. Olszewska findet, das sei „ein einziger Albtraum“.
Die Gemeinde Choczewo liegt etwa 60 Kilometer von Danzig entfernt, sie lebt vom Tourismus, der Ostseestrand hier ist breit, der Handyempfang schlecht
g schlecht. Obwohl die eigentliche Bautätigkeit am neuen Kraftwerk noch nicht begonnen hat, laufen vorbereitende Arbeiten sowie geologische Untersuchungen. Etwa 35 Hektar Wald sind bereits gerodet, gut 50 Fußballfelder. Insgesamt könnten es tausend Hektar werden, wenn die für den Meiler nötigen Straßen, Schienen und Versorgungsgebäude entstehen, hat Olszewska mit ihrer Organisation „Bałtyckie-SOS“ ausgerechnet. An diesem Tag begleiten sie noch zwei andere Aktivisten zur Baustelle. Sie fragen Passanten unterwegs zum Strand nach ihrer Meinung. Ein Vater mit drei Kindern schüttelt beim Blick auf den Bauzaun ungläubig den Kopf: „Das sind Barbaren!“Der Meiler soll 2040 ans NetzAktuell gewinnt Polen etwa 70 Prozent seines Stroms aus Kohle. Um Umweltziele zu erreichen – das ist politischer Konsens –, muss der Energiesektor reformiert werden. Als wichtigen Baustein betrachtet Premier Donald Tusk die bislang nicht genutzte Atomkraft. Drei Reaktoren sollen in Choczewo 2033 ans Netz gehen, zuletzt hat die Industrieministerin das Jahr 2040 als realistischer bezeichnet. Parallel sollen auch Sonne und Wind als Energieträger ausgebaut werden. „Sie wollen für das Kraftwerk einen Steg ins Meer bauen, 150 Meter lang und 30 Meter breit, hier wird alles tot sein, auch im Meer, wohin sie das erhitzte Kühlwasser leiten werden.“Agnieszka Olszewska sagt, diese Baustelle habe sie gezwungen, zur Expertin für Umweltfragen zu werden, eigentlich sei Logistik ihr Metier, für das sie lange in Deutschland gearbeitet habe. Mit ihrem Umzug nach Choczewo im Herbst 2021 sei sie bei der Nachricht über das kommende Kraftwerk „aus allen Wolken gefallen“. Sie wolle nicht nur ihr eigenes Haus im Grünen, sondern die Natur einer Region erhalten. „Natürlich muss der Ausstieg aus der Kohle gelingen, aber doch nicht mit Atomkraft!“ Olszewska verweist auf Zahlen der nationalen Energieagentur, wonach bis 2040 etwa elf Gigawatt Strom aus Offshore-Anlagen entlang der polnischen Ostseeküste gewonnen werden könnten. Die erhoffte Leistung des Kernkraftwerks von 3,75 Gigawatt falle dagegen eher bescheiden aus.Für Andrzej Gąsiorowski ist trotzdem klar: „Wir brauchen dieses Kraftwerk unbedingt!“ Gąsiorowski ist Gründer der NGO „Fota4Climate“, die eine Dekarbonisierung der Wirtschaft durch erneuerbare Energiequellen fordert – und durch Kernenergie. Er kommt zum Strand unweit der Baustelle mit seiner Tochter, die ein T-Shirt trägt, auf dem ein Baum und das bekannte Atomsymbol aus drei Ellipsen fröhlich lächelnd Freundschaft schließen. Als einer der umtriebigsten Pro-Atom-Aktivisten des Landes kämpft Gąsiorowski um ein positives Bild der Atomenergie, seiner Meinung nach braucht Polen neun Reaktoren, von denen drei in Choczewo entstehen könnten und die anderen sechs an zwei weiteren Standorten. Natürlich klinge das ambitioniert. „Aber wenn Polen eine Nationaleigenschaft hat, dann das Angehen von großen Herausforderungen.“Placeholder image-1Gąsiorowski, 48 Jahre alt, ist ein später Experte. Er war zunächst Anwalt für Familienrecht und hat sich dann mit modernen Technologien beschäftigt. „Die Gründe für die Ablehnung der Atomkraft durch Deutschland sind in deutscher Romantik zu suchen“, glaubt er. „Viele reagieren beim Thema Kernkraftwerke irrational verängstigt.“ Er wolle auch den Ausbau von Sonnen- und Windenergie, „aber Tatsache bleibt, dass wir sie nicht ausreichend speichern können. Dieser Standort hier hat natürlich den Nachteil einer wunderschönen Natur. Aber nach einem neuen Standort zu suchen, das würde Polen um Jahre zurückwerfen.“ Gąsiorowski schaut in die tief stehende Sonne am Horizont und sagt: „Mein Traum ist, dass an diesem Ort in 15 Jahren alles läuft, vielleicht jedoch sind 20 oder 25 Jahre realistischer.“Auch in publizistischer Hinsicht dominieren in Polen die Atomfreunde. Einer der profiliertesten unter ihnen ist Jakub Wiech, ein 33-jähriger Journalist, der sich selbst als „grünen Konservativen“ bezeichnet. In einem Telefonat macht Wiech seinen Standpunkt sofort klar: „Wir brauchen händeringend Kernkraft in Polen.“ Die Prognose der Industrieministerin, wonach das Kraftwerk in Choczewo womöglich erst 2040 Energie liefert, will Wiech nicht so stehen lassen. „Die Ministerin ist da missverstanden worden. Sie meinte das gesamte Projekt. Der erste Reaktor könnte 2035 ans Netz gehen.“ Wiech verweist auf Pläne, nach denen Polen irgendwann bis zu neun Gigawatt Atomstrom an verschiedenen Standorten produzieren könnte. „Es gibt keinen perfekten Standort. In Choczewo ist immerhin der Zugang zu Meerwasser für die Kühlung gesichert“, findet Wiech.Aktuell zeigen Umfragen, dass eine Mehrheit der Polen von gut 75 Prozent der Kernkraft positiv gegenübersteht. Informationskampagnen und ein unermüdliches Trommeln zeigen Wirkung. Im Übrigen, sagt Jakub Wiech, müsse man in Europa nur auf Frankreich schauen, das mit 56 Kernreaktoren seine Wirtschaft vorangetrieben habe. „Auch die deutsche Energiewende würde mit Atomkraft deutlich schneller gelingen.“ Für gänzlich entschieden hält Wiech die Zukunft der Energiegewinnung in Deutschland noch nicht. Man solle an die atomfreundlichen Aussagen des designierten Kanzlers Friedrich Merz denken.Erste Touristen sagen abEs ist das Wesen von Debatten um Atomkraft, dass sie mit so vielen Facetten geführt werden, dass eine Verständigung schwierig erscheint. Langfristige Überlegungen treffen auf kurzfristige ökonomische Nöte. Sorgen vor den epischen Halbwertszeiten nuklearer Abfallstoffe treffen auf den Wunsch, in den kommenden Jahrzehnten die Kohlendioxidemissionen zu senken. Letztlich wird fast immer eine ganze Region umgepflügt, damit ein Land irgendwann die Atomkraft nutzt, falls sie dann auch so günstig sein wird, wie ihre Anhänger heute glauben.An einem Vorfrühlingsabend treffen sich vier Mitglieder von Bałtyckie-SOS zu einer Teamsitzung. Sie kommen im Haus von Hanna Trybusiewicz zusammen, es gibt selbst gebackenen Kuchen, eine aufgeregte Gegenwart scheint fern. Agnieszka Olszewska ist diesmal nicht dabei, dafür aber Ola Zacharewicz, eine Einheimische, die 1992 als Erste in der Region ihr Bauernhaus für Urlauber geöffnet hat, eine lokale Pionierin des Agrotourismus. Wie alle anderen ist auch Zacharewicz schon im Rentenalter, stockt aber durch Feriengäste ihre Pension auf. „Jede einzelne Familie hier lebt vom Tourismus. Wir haben nichts außer unserem unberührten Wald und dem Strand.“ Obwohl das Kraftwerk erst noch gebaut werden soll, hätten ihr schon viele Familien abgesagt, weil die Nachrichten vom gerodeten Wald abschrecken. Zacharewicz liest aus dem Brief eines langjährigen Stammgastes aus Warschau vor, der „wegen der Situation rund um die Baustelle“ schweren Herzens absagt.Gastgeberin Hanna Trybusiewicz, eine Frau mit kurzem blonden Haar, die schnell und eindringlich spricht, regt sich über die Antworten auf, die sie auf ihre Nachfragen bei Bürgerdialogen bekommen hat. Wenn demnächst bis zu 12.000 Arbeiter auf der Baustelle schuften, „können Sie ja in der Kantine arbeiten“, hätte ihr jemand aus der künftigen Betreiberfirma gesagt. „Keine Arbeit ist eine Schande, aber ich will mich nicht in die Ecke drängen lassen!“ Ola Zacharewicz fügt hinzu, dass allein diese Zahl an Arbeitern schon viel aussage. Im Umfeld der Baustelle leben etwa 5.000 Menschen. „Wir wären dann in der Unterzahl.“Der Ansage aus der Politik, wonach sie ihre Gasthäuser statt an Urlaubsgäste an Bauarbeiter vermieten könnten, glauben die Mitglieder von „Bałtyckie-SOS“ nicht. Schon heute würden die Baufirmen deutlich weniger zahlen als Urlaubsgäste, die wegen der weitläufigen Strände kämen. Eine Entschädigung hätte ihnen bisher niemand angeboten. Als Aktivisten werden sie es künftig nicht leicht haben, schließlich besteht ihre Gruppe aus gerade einmal 50 Mitgliedern, von denen nur der harte Kern von einem Dutzend wirklich aktiv ist. Die Nachbarn aus den würfelförmigen Neubauten, die bei Hanna Trybusiewicz aus dem Küchenfenster zu sehen sind, würden in der Regel nicht mitmachen.