Im Odysseum in Köln läuft derzeit eine große Marvel-Ausstellung. Georg Seeßlen streift durch die Geschichte der Comic-Helden, deren Endlosschlägereien auch immer von den Höhen- und Sturzflügen der USA erzählen


Bange Frage: Wie werden sich die Marvel- Helden in Trump-Amerika verhalten?

Foto: Alamy


Dass die Marvel-Comics jetzt eine große Ausstellung in einem Museum in Europa bekommen, mag darauf hinweisen, dass man sie mittlerweile auch hierzulande als Teil der Bild- und Kulturgeschichte ansieht. Freilich sind die Zeiten, in denen die Comics eine primäre Schule des Sehens waren, längst vorbei, die Popularität der Marvel-Helden verdankt sich mittlerweile viel mehr den Kinofilmen, Streaming-Serien und PC-Spielen als den gedruckten Comics.

Der Ursprung dessen, was wir heute als Marvel-Kosmos kennen, liegt in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, als auch Superhelden in den Dienst der patriotischen Propaganda gestellt wurden. Der patriotischste von allen war natürlich ein Kerl im Star-Spangled-Kostüm namens Captain America. Doch auch Timely Comics, so hieß

hieß der Verlag damals, litt dann in der Nachkriegszeit unter der moralischen Reaktion und der Einführung des „Comics Code“, der eine Art rigider Selbstzensur verlangte. Die Wiedergeburt des Superhelden-Genres in den 1950er Jahren war sozusagen indirekte Folge einer kulturellen „Säuberung“. An die Stelle der boomenden Horror- und Crime-Geschichten trat das „saubere“ Genre der Superhelden.Man schuf Helden mit Problemen wie den jungen Peter Parker alias Spider-ManZwei Tricks waren es, die Marvel als wichtigsten Gegenspieler der übermächtigen DC-Comics, der Heimat von zum Beispiel Superman, Batman und Wonder Woman, etablierten: Einiges aus dem Genre von Monstern, Aliens und Gangstergeschichten wurde klammheimlich ins Superhelden-Format transferiert, und unter der Ägide eines gewissen Stan Lee erlaubte man sich einen Anteil an Sophistication. Damit begegnete man ab den 1960ern zunehmender Formelhaftigkeit und Infantilität des Genres.Die Marvel-Charaktere folgten mehr und mehr dem Konzept des „Helden mit Problemen“, und man schuf Identifikationsfiguren wie den ewig klammen, erkälteten und unsicheren jungen Peter Parker alias Spider-Man. Man schmuggelte etwas von der Lebenswirklichkeit der Kids und sogar kleine gesellschaftskritische Spitzen in die Endlosschlägereien zwischen Superhelden und Superschurken. Insbesondere „Spidey“ war durch seine sarkastischen Kommentare auch bei Highschool- und College-Studenten beliebt. Marvel erweiterte also den Konsumentenkreis sowohl hinsichtlich des Lesealters als auch des Bildungsstandes. Marvel-Comics-Lesen galt schließlich in den 1970ern als cool und vertrug sich mit Bob Dylan, Friedensmarsch und Marihuana.Den „Civil War“ gab es schonHinzu kam ein neuer Zeichenstil, für den vor allem die Gruppe um Jack „King“ Kirby oder Jim Steranko stand: eine neue, heroische und technizistische Körperlichkeit. Anders als die statischen Zeichnungen bei DC, anders aber auch als die anatomisch beeindruckenden Körperdarstellungen von Tarzan-Zeichner Burne Hogarth gab Marvel eine „maschinelle“ Version des Menschenkörpers; ein ständiges Oszillieren zwischen Organischem und Technischem. Alles geriet in explosive Bewegung, schien an der eigenen unterdrückten Energie zu leiden und nach einer neuen Dimension zu verlangen, wie sie der am meisten hippieske, „spirituelle“ Superheld Silver Surfer durchstreifen konnte. Und Marvel ging als Erstes dazu über, die Autoren und Zeichner zu nennen und nach und nach einen wahren Kult um die Stars zu starten. Über allem stand Stan Lee als Autor, Ideenlieferant und Herausgeber.Eine andere Innovation gegenüber der Superhelden-Konkurrenz lag in einer Veränderung der Erzählweise, die heute als selbstverständlich gilt, in den 60ern aber durchaus „revolutionär“ war. Der traditionelle Superhelden-Comic hatte bis dahin die Struktur einer abgeschlossenen Kurzgeschichte, nur gelegentlich wurde ein größerer Erzählbogen gespannt.Bei Marvel hingegen dehnte man die Geschichten schon relativ früh ins „Epische“, verwendete nicht nur die „Cliffhanger“-Dramaturgie, sondern entwickelte auch Nebenhandlungen, ließ Figuren aus dem Hintergrund mit einem Mal ins Zentrum der Story rücken oder nahm lose Enden aus früheren Storys wieder auf. Die Erzählungen wurden durch Rückblenden oder Parallelführungen komplexer, und dabei wurde Raum geschaffen für Abschweifungen und Kommentare. Die Kästen, in denen Herausgeber Stan Lee oder die Autoren ihre Leserschaft auf ältere Geschehnisse oder vergessene Charaktere aufmerksam machten, gehörten definitiv zum Lesespaß der Marvel-Comics, vor allem, weil sich darin auch ein spezieller Jargon („Nuff Said!“) und eine ironische Komplizenschaft entfalteten.Erzählerische Innovationen und die Entstehung des Marvel-UniversumsDer nächste Schritt war eine immer stärkere Verknüpfung der verschiedenen Serien untereinander zu dem, was man etwas später das „Marvel-Universum“ nannte: Alle Helden des Verlages agierten in einer gemeinsamen „Realität“ und konnten sich dementsprechend auch zu Teams zusammentun oder sich bei Gelegenheit auch gegenseitig in die Haare geraten. Wollte man die Abenteuer seines Lieblingshelden bis in alle Verzweigungen verfolgen, war man gezwungen, auch andere Hefte zu kaufen. Die verschachtelte Erzählweise freilich hatte zwei Haken, die mehrfach nahezu zum Zusammenbruch dieses Erzählkosmos führen sollten.Zum einen überforderte man dabei gelegentlich nicht nur die Kaufkraft, sondern auch die Aufnahmebereitschaft der Konsumenten. Die Erzählungen wurden so unübersichtlich, dass es kaum noch Möglichkeiten gab, neu einzusteigen. Zum anderen musste aber auch die Erzählmaschine selbst immer an den Rand ihrer Kapazität gelangen, denn es galt ja, bei aller Verschachtelung, einem etablierten Kanon zu folgen, der die Superkräfte der Helden ebenso anbelangt wie ihre privaten Beziehungen. Über den Kanon zu wachen, war das nerdigste Vergnügen von avancierten Comic-Fans.Das Prinzip „Hero with problems“ wurde immer weiter entwickelt; die Helden hatten körperliche Defekte (Thor war im Zivilleben gehbehindert, Daredevil sogar blind, Tony Stark alias Ironman konnte nur durch sein Außenskelett überleben, und Spider-Man wiederum hatte Probleme im Privat- und Liebesleben. Die ironischen Brechungen und die gelegentlich selbstzweckhaften Super-Kämpfe der Helden untereinander wurden in den 80er Jahren durch ein neues Konzept des „Grim and Gritty“ ersetzt. Davon betroffen war nicht zuletzt der Ur-Held Captain America selber. Cap taumelte von einer Krise in die andere, und stets durfte geargwöhnt werden, es handele sich dabei auch um eine Widerspiegelung der amerikanischen Gesellschaft.Kultureller Wandel im Marvel-KosmosFür das Dilemma einer Erzählmaschine, die mit ihrer eigenen Programmierung nicht mehr mitkommt, gab es zwei Lösungen. Das eine war, nicht mehr die Comics, sondern die Filme als eigentliches Erzählkonstrukt zu verwenden. Damit war bereits eine Vereinfachung vorgegeben – mittlerweile freilich ist auch das „Marvel Cinematic Universe“ (MCU) durch die Vernetzung der Filme untereinander in die gleiche Falle zunehmender Überkonstruktion geraten. Die zweite Lösung war die Struktur des „Events“, einer serienübergreifenden Meta-Story, die oft mit einem Neustart oder einer Revision verbunden ist. In einem Comic-Event wird die Erzählmaschine gewissermaßen umprogrammiert, um eine Produktlinie anzupassen oder zu verändern (zum Beispiel auch durch Neubesetzungen von Helden-Rollen wie Captain America oder Spider-Man).In den 90ern hätte sich Marvel beinahe zu Tode expandiert; nach dem Platzen der Nostalgie- und Sammel-Blase stand Marvel mit seiner Überproduktion vor dem Bankrott. Nach einer radikalen Verschlankung des Angebots und mit neuen Konzepten rettete man sich ins neue Jahrhundert. Die Abschaffung des „Comic Code“ im Jahr 2001 führte dazu, dass man sein Angebot diversifizieren konnte: Dieselben Helden konnten nun in Serien für den Mainstream der kindlichen und jugendlichen Leser erscheinen und in anderen mit einem größeren Anteil von Horror, Gewalt und Sex, aber auch zeichnerischem und literarischem Ehrgeiz für erwachsene Leser.Die ikonografische Spannweite von Spider-Man beispielsweise reichte seitdem von Lego-Spielkästen über mehr oder weniger familientaugliche Blockbuster-Filme bis zu Graphic Novels voller literarischer und politischer Anspielungen. Auch erwies sich das erwähnte Konzept der „Events“ als besonders erfolgreich. In einem Event verwandelte sich eine Mehrzahl von Marvel-Helden in furchterregende Zombies, in einem andern namens Civil War mussten sich die Helden und Heldinnen unter einem Dekret der Regierung entscheiden, ob sie sich unterwerfen oder nicht, was zu einem bitteren Krieg unter den Marvel-Charakteren führte.Die verschiedenen Stränge ließen es auch zu, das Personal zu diversifizieren. Marvel hatte mit dem Black Panther den ersten afrikanisch-amerikanischen Superhelden geschaffen, in den Teams konnten nicht nur männliche und weibliche Helden gemeinsam auftreten, sondern auch lesbische und homosexuelle Charaktere. Diversity war das Motto von Marvel in den Zehnerjahren.Marvels Blick auf die GegenwartDas Marvel Cinematic Universe hatte 2001 mit Sam Raimis Spider-Man (2001) recht eigentlich begonnen, Gestalt anzunehmen.Zuvor beschränkten sich die filmischen Versuche auf Animationsserien für das Samstagvormittagsprogramm und bescheidene Real-Serien um Spider-Man und Captain America. Erst mit der Entwicklung der Computergrafik war es möglich geworden, filmische Effekte auszuführen, die dem „Alles ist möglich“-Stil der Comics entsprachen. In den folgenden 20 Jahren sollte sich das MCU zu einem der lukrativsten Zweige der Traumfabrik entwickeln. Nun gehört auch dieses Universum zum gefräßigen Disney-Konzern.Die Comics sind mittlerweile fast schon ein Nischenprodukt, am ehesten noch ein Experimentierfeld für Autoren und Konzepte. Doch scheint eine bange Frage aus dem Hintergrund auf: Wie werden sich die Marvel-Helden, die vordem als eher liberale Charaktere erschienen und, nur zum Beispiel, seinerzeit direkte Wahlwerbung für Barack Obama machten, in Trump-Amerika verhalten? Sie haben, wie wir wissen, einen internen „Civil War“ schon hinter sich, aber die Frage, welchem Code sie folgen – dem der demokratischen Werte oder dem der nationalen Macht –, ist damit noch nicht beantwortet.Eine Möglichkeit liegt in post-klassischen Figuren wie Deadpool, eine zynische Variante des Antihelden als Universal-Söldner, oder Venom, dem Alien-Wesen, das von verschiedenen Menschen Besitz ergreifen kann. Ihr Nihilismus macht sie zugleich zu genauen Beobachtern ihrer Umwelt und zu egomanen Opportunisten. Sie haben sich von einer Eigenschaft der Helden weitgehend befreit. Dem Glauben an die Verbesserbarkeit der Welt.



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Von Veritatis

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