Der migrantische Mann wurde zum zentralen Angstbild stilisiert. Die deutsche Gesellschaft reagiert mit rassistischer Diskriminierung. Was es bedeutet, zur Bedrohung gemacht zu werden


Fikri Anıl Altıntaş, ein Porträt migrantischer Männlichkeit

Foto: Maria Schöning


Viele Menschen, wie meine Eltern und meine Großeltern, kamen nach Deutschland, um sich in Freiheit ein Leben aufzubauen. Das sollte für mich und meine Geschwister gelten. Ruhe zu finden, zu arbeiten und außerhalb von Gewalt zu sein. Während des Wahlkampfes schien diese Freiheit plötzlich in greifbare Nähe zu rücken: Alle Parteien signalisierten mehr oder weniger, wie wichtig es sei, Freiheit zu sichern und für sie zu kämpfen. Friedrich Merz versprach sogar, „nach innen und nach außen die Freiheit unseres Landes zu gewährleisten“. Klingt erst mal sinnvoll. Die Frage lautet jedoch: Wem galt diese Freiheit – und wer wird dafür verantwortlich gemacht, sie zu bedrohen?

In den letzten Jahren hat sich eine besorgniserreg

ht, sie zu bedrohen?In den letzten Jahren hat sich eine besorgniserregende Korrelation etabliert: Migranten, insbesondere als migrantisch markierte Männer, werden zunehmend als Bedrohung für die Freiheit stilisiert. Die gegenwärtige Diskursverschiebung zeichnet für die Zukunft genau das Gegenteil ab, wenn es nicht schon längst Tatsache ist: ein Leben in Unfreiheit.Früher waren wir vor allem eines: Arbeiter, mit und ohne Schnauzbart, gekommen und gegangen, geflohen und verlassen, oftmals zurückgekehrt. Wir hatten unseren Zweck, wir fanden in den Routinen zumindest Halt. Wenn ich heute den Fernseher anschalte, Radio höre, Zeitung lese, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Ursprünge der Probleme des Landes in unseren Körpern liegen. Das Problem der „toxischen Männlichkeit“, der sexualisierten Gewalt gegenüber Frauen, der öffentlichen Sicherheit in deutschen Großstädten, der Überforderungen von Kommunen durch junge, geflüchtete Männer, das Problem des „importierten“ Antisemitismus.Robert Misik warnte bereits 2023 in einem Essay für das Journal für Internationale Politik und Gesellschaft: Was sich als „das Eintreten für eine allgemeine Freiheit“ tarne, sei oft nichts anderes als „das Begehren nach Vorrechten auf Kosten anderer“.Freiheit für wen?Die Forderungen nach einem Ende der „illegalen“ Migration, verstärkt durch die schrecklichen Anschläge in Magdeburg und Aschaffenburg, spiegeln eine wachsende Besorgnis wider. Laut FDP-Chef Christian Lindner werde die Begrenzung der Einwanderung mittlerweile von der „politischen Mitte“ als wichtiges Anliegen erkannt. Diese sogenannte Mitte bewegt sich zurzeit in Lichtgeschwindigkeit nach rechts und verkommt zum Sprachrohr der politischen Rechten – und verändert damit auch die Lebensrealität migrantisch markierter Männer, also auch mir, grundlegend. Das ist keine neue Entwicklung, im Gegenteil. Der „gewalttätige Ausländer“ hat sich längst zur zentralen Angst- und Diskursfigur im deutschen Bewusstsein entwickelt, als Antithese zur Freiheit.Die Terroranschläge vom 11. September 2001 dienten für viele als Blaupause: Medien begannen, den Islam, und mit ihm vor allem Männer, die sich als muslimisch verstehen oder markiert werden, mit Gewalt, Terror und Frauenfeindlichkeit zu assoziieren. Die Politisierung des Begriffs „Islam“ hatte die Politisierung von Muslim:innen zur Folge, bei gleichzeitiger gewaltvoller Distanz der weißen Mehrheitsgesellschaft ihnen gegenüber. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung 2023 stellte fest, dass 57 Prozent der Menschen in Deutschland denken, dass der Islam zur Gewalt aufrufe, 65 Prozent, dass Muslim:innen frauenfeindlich sind.Infolge der Gewalttaten in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 nahm die mediale Fokussierung auf die vermeintlichen Probleme durch migrantische Männer drastisch zu. Überall dort, wo die öffentliche Sicherheit als gefährdet wahrgenommen wurde, wurde der migrantische Mann reflexhaft zum Feindbild erklärt. Berichte über Vorfälle in Berliner Schwimmbädern, bei denen die Polizei regelmäßig einschreiten musste und männlichen Geflüchteten sogar Verbote auferlegt wurden, schafften es in die Schlagzeilen und prägten das öffentliche Bild. Das ging nicht spurlos an mir vorbei: Ich entwickelte selber das Gefühl, dass ich ein Defizit war, Politik und Medien vielleicht doch recht hatten mit ihren Einschätzungen. Migrantische Männer als personifizierter chaotischer Zustand, menschgewordene Grenzüberschreitung.Gewaltbereit und frauenfeindlich: Das Bild migrantischer Männer in den MedienDie Folge war, dass nicht nur Innenstädte, sondern auch Orte der Erholung durch migrantische Männer potenziell gefährdet waren. Die Presse stürzte sich erfolgreich darauf und öffnete Tür und Tor für gefühlte Wahrheiten. Fakt ist: Wissenschaftliche Studien zeigen, dass 2019 in Fernsehbeiträgen die Herkunft ausländischer Tatverdächtiger 19-mal häufiger genannt wurde, als es ihrem statistischen Anteil entsprach. In Zeitungen war diese Überrepräsentation sogar 32-fach.Ich bin damit aufgewachsen, Türkisch für Anfänger und „Kaya Yanar“ zu schauen, dann kam 4Blocks und Asbest. Ich fand Orientierung darin, weil es wenig Alternativen gab. Lange Zeit war mir nicht bewusst, wie problematisch diese waren. Sie verstärkten die stereotype Sichtweise, dass wir hypermaskulin, religiös, gewaltbereit und frauenfeindlich sind. Meine weißen deutschen Freunde hingegen blieben von Stereotypen verschont: Ihre Gewalttaten waren Einzelfälle, während meine Männlichkeit hingegen als grundlegendes kulturelles Problem galt, das es notfalls abzuschieben, zu bestrafen und zu kontrollieren galt. Das Gegenteil also von Freiheit.Ich bin oft an Schulen und komme mit Lehrer*innen und Schüler*innen zu Männlichkeit und Geschlechtergerechtigkeit ins Gespräch. Lehrer*innen berichten mir von Problemen im Unterricht, die auf sogenannte toxische Männlichkeit zurückgeführt werden, was die Wahrnehmung dieser Kinder und Jugendlichen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Motivation beeinflusst.Ich bin selber damit aufgewachsen, zu denken, dass ich weniger schlau wäre, weil ich Türke bin, weniger von mir halten, denken und erträumen darf. Studien belegen diesen Zustand: Das Bewusstsein für gesellschaftliche Stereotype, bekannt als „Stereotype Threat“, kann die Begabungseinschätzung in der Schule negativ beeinträchtigen. Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab legt den diskursiven Grundstein dafür. Ein Zugehörigkeitsgefühl zur Mehrheitsgesellschaft ist aber entscheidend für die erfolgreiche Teilhabe am Bildungssystem und für eine faire Zukunft – das gesellschaftliche Stereotyp verwehrt ihnen diese Zugehörigkeit.Die Mitte verkommt zum Sprachrohr der RechtenDer gegenwärtige Diskurs wird von einem Großteil der politischen Parteien bereitwillig bedient, mehr noch, er zieht gefährliche Grenzen: Auf der einen Seite wir, die progressiven, modernen, gewaltfreien weißen Deutschen, auf der anderen Seite diejenigen, die das Gegenteil darstellen. Ängste, Unsicherheiten und Gewalt gegen Migranten werden dabei ignoriert. Der rechtsterroristische Anschlag von Hanau liegt erst fünf Jahre zurück. Noch immer brennen weiterhin Geflüchtetenunterkünfte, während die Gewalt gegen Migrant*innen zunimmt. Stattdessen wird im Chor gesungen, dass die Gewalt von ihnen – also von uns – ausgeht.Die vermeintliche Lösung schien für die Politik ausgemacht: Stärkung der Polizei und Sicherheitskräfte, als ob sie nicht Teil des Problems ist. Nach den Angriffen auf Polizei- und Rettungskräfte an Silvester 2022 in deutschen Städten, insbesondere in Berlin, spricht Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) von der Notwendigkeit, das Problem der „gewaltbereiten Integrationsverweigerer“ in den Griff zu bekommen. Diese gesellschaftspolitische Rhetorik nutzte vor allem die CDU, die durch ihre Forderungen nach einer Law-and-Order-Politik bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2023 die meisten Stimmen gewann.Die Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2025 lassen darauf schließen, dass eine positive Veränderung in naher Zukunft schwer zu erreichen sein wird. Jens Spahn (CDU), der den Begriff der „kulturell vermittelten toxischen Männlichkeit“ prägte, benannte in einem Interview mit der Rheinischen Post bereits konkrete Feindbilder. Er merkte an, dass auf den Marktplätzen mittelgroßer Städte „junge Männer ohne Beschäftigung – oft aus einem arabisch-muslimisch geprägten Kulturraum“ zu sehen seien und dass dies „etwas in Deutschland verändert“. Solche Äußerungen klingen nicht nur bedrohlich, sie sind auch ein warnendes Zeichen für die gesellschaftliche Stimmung – und verdeutlichen eine Zukunftsaussicht, die rassistische Gewalt gegen sie ermöglicht.Immer nur das StereotypDie Pauschalisierung und Stigmatisierung lässt sich mit den Forderungen nach „Talahon“-freien Zonen rechter Influencer auf Tiktok vergleichen, die ähnliche Ängste schüren. „Talahon“ wird dabei als Begriff genutzt, um hauptsächlich junge, muslimisch gelesene Männer abzuwerten. Der erste KI-generierte Song in den deutschen Singlecharts trägt den Titel Verliebt in einen Talahon, mitsamt rassistischen Stereotypen und der Zeile „Und das Messer in seiner Tasche ist bestimmt nicht fürs Butterbrot“. Hier kommt alles zusammen, was diskursiv vorbereitet wurde: Nichts ist mehr sicher, Innenstädte, weiße Frauen, die Freiheit in Deutschland.Der Begriff „Talahon“ konnte sich auch deshalb so verschieben, weil die Abwertung anschlussfähig sei in einem Teil der Gesellschaft, der ohnehin migrationskritisch eingestellt sei, so Seyran Bostancı, Sozialwissenschaftlerin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung.Anstatt in geschlechterreflektierte Arbeit zu investieren, die Demokratieförderung stärkt und sozialen Ungerechtigkeiten begegnet, werden migrantische Jungs verurteilt. Die Botschaft von Spahn ist klar: Nach spätestens zwei Straftaten müssen sie das Land verlassen. Gilt das auch für andere junge Männer? Studien zeigen, dass bei Männern im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter in allen Kulturen und zu allen Zeiten die höchsten Kriminalitätsraten zu beobachten sind.In den Klassenzimmern spreche ich mit den Jungs kaum über Freiheit. Kaum über die große Politik. Eines bleibt aber immer hängen: dass auch sie genervt und ernüchtert sind. Von den Zeitungen und einer Politik, die ein Bild von ihnen malt, ohne einmal bei ihnen gewesen zu sein, geschweige sich angehört zu haben, was ihre Probleme, ihre Unsicherheiten, ihre Erfahrungen in diesem Leben mit und trotz Deutschland ist. Die verurteilenden Blicke auf den Straßen und im Netz nehmen zu, erzählen sie mir. Wie sagte Max Frisch schon: Sie riefen Arbeiter, es kamen Menschen. Unsere Väter und Großväter trugen die Last der Problematisierung, ihre Enkel tragen sie weiter und blicken nun auf eine neue, enthemmte deutsche Realität. Sie atmen Luft, die mit Gewalt aufgeladen ist. Denn Freiheit hört genau dort auf, wo mit Worten Grenzen zwischen Menschen gezogen werden.



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Von Veritatis

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