Ob Ford in Köln oder Thyssenkrupp in Duisburg: Bundesweit haben Konzerne angekündigt, in den nächsten Jahren Jobs zu streichen. Doch wie läuft der Stellenabbau in Deutschland ab? Besuch bei Menschen, die um ihre Existenzgrundlage bangen


Vasif Özay (links) und Svenja Bolldorf

Fotos: Joscha Frahm


Als Erstes steigt einem der Schwefelgeruch in die Nase, der nicht recht zu den blühenden Kirschbäumen passen will. Auf dem Werksgelände von Thyssenkrupp im Duisburger Norden transportieren Lastwagen Stahlrollen, Hochöfen ragen in den Märzhimmel, es ist das größte zusammenhängende Industrieareal Westeuropas. Zur Mittagszeit eilen Beschäftigte in grau-roter Arbeitskleidung umher. Doch wie lange noch? Das Unternehmen hat angekündigt, in der Stahlsparte 5.000 Arbeitsplätze zu streichen und weitere 6.000 auslagern zu wollen.

Einer, der das verhindern will, ist Vasif Özay. Der 53-jährige Duisburger steht vor dem roten Zelt, das IG Metall und Betriebsrat vor Tor 1 aufgebaut haben. Es ist eine Form des Protests gegen den Stellenabbau,

. Der 53-jährige Duisburger steht vor dem roten Zelt, das IG Metall und Betriebsrat vor Tor 1 aufgebaut haben. Es ist eine Form des Protests gegen den Stellenabbau, die gerade zulässig ist – frühestens 2026 dürfen die Beschäftigten erst wieder streiken. Özay trägt einen Turnbeutel mit Gewerkschaftslogo, eine Übergangsjacke und eine Kappe. Seine grauen Haare hat er zu einem Dutt gebunden. Der Industriemechaniker arbeitet hier, seit er 16 Jahre alt ist. „Ich wohne zur Miete, habe kein Eigentum und nicht viel gespart“, sagt er. Den Job zu verlieren, wäre eine Katastrophe.Seit das Ausmaß des Stellenabbaus bekannt ist, engagiert sich Özay in der Gewerkschaft. Er betreut Social-Media-Kanäle und hat Sticker entworfen, die er aus der Jackentasche zieht. Eine Faust, darunter steht „Tor 1 – Steel Guerilla“. „Im Ruhrgebiet findet gerade der letzte große Arbeitskampf statt“, sagt Özay. Immer wieder gibt es Aktionstage, an denen demonstriert wird. „Einige Kollegen verstehen noch nicht, was ihnen blühen könnte, wenn die Stahlsparte nicht überlebt“, sagt der Industriemechaniker. Schon jetzt gelte der Duisburger Norden als sozialer Brennpunkt. „Wenn hier das Geld von Thyssen fehlt, wird es noch schlimmer.“ Dann sei der Aufstieg der AfD nicht mehr aufzuhalten. Nieselregen tropft auf das Zeltdach.Audi will 7.500 Stellen bis 2029 wegfallen lassenÖzays Betrieb ist nicht der einzige, der Sorgen macht. Zahlreiche Unternehmen haben in jüngster Zeit massive Stellenstreichungen angekündigt. Siemens will 2.850 Stellen in Deutschland abbauen, vor allem in der Automatisierungssparte – zuletzt hatte das Unternehmen noch einen Rekordjahresgewinn von neun Milliarden Euro verkündet. Volkswagen: 35.000 Stellen bis 2030, Audi: 7.500 bis 2029, Bosch: 7.000 bis 2032, Continental AG: 1.450 bis 2026, Schaeffler: 2.800 bis 2027. Ähnliche Pläne von Deutsche Post, Bayer, Audi, Commerzbank, Deutsche Bank, ZF Friedrichshafen, Biontech, DB Cargo, Porsche, Coca Cola, Ford, SAP – die Liste ließe sich fortsetzen. Den übergreifenden Charakter der Krise machte die IG Metall deutlich, als sie Mitte März bundesweit mehr als 80.000 Beschäftigte auf die Straße mobilisierte.Am Taumeln ist die deutsche Industrie schon seit 2019. Auf die Corona-Pandemie folgte der Krieg in der Ukraine, auf den eine Art Wirtschaftskrieg zwischen den USA, China und der EU zu folgen droht. Die etwa acht Millionen Industrie-Arbeiter*innen im Land haben mit den Folgen zu kämpfen: hohe Energiepreise, sinkende Nachfrage, Konkurrenz durch China, Zollpolitik der USA, marode Infrastruktur, fehlende Investitionen, kein Plan zum ökologischen Umbau.Seit zwei Jahren befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer Rezession. 2025 sei nur mit einem Wachstum von 0,2 Prozent zu rechnen, prognostizierte jüngst das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Die Zahl der Erwerbslosen wird dieses Jahr um 140.000 auf 2,92 Millionen Personen steigen. Eine Mitschuld gibt die Gewerkschaft der Politik.Der Stellenabbau wird als Angriff der Kapitalseite wahrgenommen„Neben gravierenden Fehlern und einem Strategiemangel in den Chefetagen hat die Ampelregierung nicht die Kraft gefunden zu einer konsistenten, solide finanzierten Industrie- und Wirtschaftspolitik“, sagt Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der IG Metall. Die aktuelle Unsicherheit führe nun zu „Mut- und Kopflosigkeit“ in den Unternehmen. „Es geht wieder nur um kurzfristige Renditen und Margenoptimierung“, kritisiert Kerner. „Investitionen, Innovationen, langfristige Zukunftsstrategien – Fehlanzeige.“ Das neue Sondervermögen für Infrastruktur könne gleichwohl die Rahmenbedingungen wieder verbessern. Kerner betont, dass die Transformation gestaltet werden müsse – aber gemeinsam mit den Beschäftigten. „Beim Umbau der Industrie sind wir Partner. Beim Abbau entschiedener Gegner.“Dort, wo noch ein relativ hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad besteht, kommt es in der Regel nicht zu einem sofortigen Kahlschlag. Vielmehr befinden sich Arbeitnehmervertretungen und Unternehmensleitungen in einer anhaltenden Auseinandersetzung darüber, wie ein notwendiger Wandel aussehen soll. Dabei wird auch die Berechtigung von Stellenabbauplänen grundsätzlich infrage gestellt. So kündigte die Geschäftsführung der VW-Softwaretochter Cariad im März an, 1.600 Stellen abbauen zu wollen. Der Gesamtbetriebsrat wies diese Zahl umgehend als „frei erfunden“ zurück. Im Rahmen eines Tarifvertrages sei ein „Freiwilligenprogramm“ vereinbart worden, das keine konkreten Abbauzahlen enthalte.Die Abbaupläne werden nicht nur als Reaktion auf eine Krise, sondern als Angriff der Kapitalseite wahrgenommen. Trotz Krise bleiben die Gewinne der meisten größten Unternehmen schließlich riesig – die Unternehmen wollen die aktuelle Situation aber nutzen, um ihre Profitraten hoch zu halten.In Köln-Niehl haben sie AngstEntsprechend versuchen die Gewerkschaften, um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen, betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden und eigene Forderungen zu stellen. Bei Audi beispielsweise waren betriebsbedingte Kündigungen bis vor kurzem nur bis 2029 ausgeschlossen – in Gesprächen gelang es IG Metall und Gesamtbetriebsrat, die Beschäftigungssicherung für weitere vier Jahre zu sichern und Investitionszusagen zu erhalten. „Wir wollten in den Verhandlungen mit dem Unternehmen Sicherheit in unsicheren Zeiten erreichen – das haben wir geschafft“, sagt Audi-Gesamtbetriebsratschef Jörg Schlagbauer. Die Personalveränderungen bis 2033 seien „zur Gänze sozialverträglich abgesichert“, also über Altersteilzeitprogramme oder Vorruhestandsregelungen.Auf die Kraft der Gewerkschaft setzen auch viele Menschen im Kölner Stadtteil Niehl.Dort bangen 11.500 Beschäftigte des Ford-Werks um ihre Zukunft. Drei Straßenbahnhaltestellen wurden eigens für die Belegschaft gebaut. Schon jetzt steigen hier aber deutlich weniger Menschen aus als noch vor einigen Jahren: Seit 2019 wurden an den deutschen Ford-Standorten knapp 5.000 Stellen abgebaut, im vergangenen Herbst kündigte das Management an, weitere 2.900 Stellen streichen zu wollen und schickte rund 2.000 Beschäftigte in Kurzarbeit. Im März dann die nächste Hiobsbotschaft: Der US-Konzern kündigte die sogenannte Patronatserklärung – eine Art Insolvenzschutz.Gehen die deutschen Standorte pleite, sind sie nun nicht mehr abgesichert. Betriebsbedingte Kündigungen hatte das Unternehmen bis 2032 ausgeschlossen. Mit einer Insolvenz wäre dieser Schutz hinfällig. Betriebsrat und IG Metall versuchen nun, eine Lösung für die Belegschaft zu finden. Verhandlungstermine für Sozialtarifverträge wurden angesetzt, die Gewerkschaft will diese mit Warnstreiks begleiten.Ford-Mitarbeiter: „Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll, wenn Ford jetzt echt zumacht“Vor dem Ford-Werk in Köln-Niehl hoffen viele Beschäftigte auf Abfindungen. Im Ford-Werk in Saarlouis, das Ende 2025 schließen wird, hatte der US-Autobauer den Beschäftigten bis zu 200.000 Euro angeboten. Auch Mercedes bietet laut Handelsblatt langjährigen Mitarbeiter*innen teilweise hohe sechsstellige Abfindungen. Hier in Köln klingen solche Zahlen weit weg – es herrscht Unsicherheit.„Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll, wenn Ford jetzt echt zumacht“, sagt ein 26-Jähriger, der seinen Namen nicht nennen will. Er trägt kurz geschorene blonde Haare, Jeans und eine orange-graue Arbeitsjacke mit Ford-Logo. Am Hals hat er den Namen seiner Freundin tätowiert. Seit vier Jahren fertigt er bei Ford Elektrobatterien. Der Kölner hatte gehofft, seiner Freundin und den zwei kleinen Kindern finanzielle Sicherheit bieten zu können, sagt er. Er blickt ins Leere, dann geht er in den Feierabend.Selbst wenn ein „sozialverträglicher“ Stellenabbau gelänge, drohe eine Verdichtung der Arbeit, stellt die Wirtschaftsinformatikerin Svenja Bolldorf vor dem Werkstor fest. „Es gibt weniger Menschen, aber nicht weniger Arbeit“, sagt die 38-Jährige, die in der IT-Abteilung arbeitet. Dies sei auch das Resultat des bisherigen Stellenabbaus gewesen – für viele Kolleg*innen eine frustrierende Erfahrung. Bolldorf ist seit zehn Jahren bei Ford, seit acht engagiert sie sich in der Gewerkschaft. Finanziell, so hofft sie, könnte sie sich auch im Ernstfall über Wasser halten – Wirtschaftsinformatiker*innen seien gefragt. Für viele Kolleg*innen könnte es schwieriger werden.Viele beschäftigt nicht nur die Frage, wie sie über die Runden kommen, sondern auch, wie es zur Krise gekommen ist. „Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer tiefen Strukturkrise, die durch Jahrzehnte von fehlenden Investitionen, das Verschlafen der günstigen, massentauglichen Elektromobilität sowie durch fehlende Nachfrage aufgrund stagnierender Reallöhne und zunehmender Ungleichheit gekennzeichnet ist“, meint Matthias Schmelzer, Transformationsforscher an der Europa-Uni Flensburg. „Dass dies jetzt einseitig auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird – bei immer noch erheblichen Profitraten – verstärkt das Problem nur weiter.“ Nötig sei eine sozial-ökologische Industriepolitik, die auch Konversion und „gerechte Übergänge“ für fossile Betriebe einschließe.Klaus Dörre: „Kriege und gestörte Güterketten sind Gift für ihre Geschäfte“Der Jenaer Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre betont außerdem die Bedeutung von Planungssicherheit für energie- und ressourcenintensive Unternehmen. „Kriege und gestörte Güterketten sind Gift für ihre Geschäfte“, so Dörre. Für die deutsche und EU-Wirtschaft komme hinzu, dass ihre Wirtschaftsmodelle zwischen dem „Neo-Merkantilismus der USA mit Zöllen und der chinesischen Staatswirtschaft regelrecht eingeklemmt“ seien. „In einer solchen Konstellation darf man die Wirtschaft nicht dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen“, sagt Dörre.Es brauche den Staat, der „in Zukunftsmärkte investiert, deren Produkte noch nicht marktgängig sind“. Das gelte nicht nur für E-Autos, sondern auch für grünen Stahl oder den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft. In der Realität zeichne sich jedoch eine Abkehr von den Nachhaltigkeitszielen ab. „Ein Grundproblem ist, dass die Politik auf nationaler wie auf EU-Ebene Signale sendet, die die Planungsunsicherheit für Unternehmen verstärken.“Vor dem Werksgelände von Thyssenkrupp in Duisburg denkt der Industriemechaniker Vasif Özay an die Planungssicherheit seiner Familie. Die ist auf die 3.500 Euro netto im Monat angewiesen, die beiden Kinder studieren. Eigentlich habe er sich gewünscht, dass auch seine Kinder einmal zu Thyssenkrupp gehen, sagt Özay. „Aber das ist denen zu unsicher.“



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Von Veritatis

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