Berlin Einen Tag verbringt unsere Autorin mit drei Aktivist:innen der Initiative „Ich bin Armutsbetroffen“. Sie sprechen über ihr Leben mit wenig Geld, warum sie sich nicht mehr schämen wollen und fordern von der Regierung, endlich zu handeln

Durch das soziale Netz zu fallen hat nichts mit Faulheit zu tun

Durch das soziale Netz zu fallen hat nichts mit Faulheit zu tun

Illustration: der Freitag

Der Flix-Zug aus Dortmund erreicht Berlin pünktlich um zwölf Uhr. Nini Klein kann also noch eine Cola trinken und sich kurz setzen. „Das ist wichtig, dass ich hier bin, das gibt den anderen Hoffnung“, erzählt die 46-jährige ausgebildete Erzieherin und alleinerziehende Mutter eines Kindes. Viele könnten eben nicht einfach mal so nach Berlin reisen, wegen körperlicher oder psychischer Gebrechen. Auch für sie sei Nini Klein heute hier. Ein wenig aufgeregt sei sie jetzt schon. In der Schlange vor der Toilette im Hauptbahnhof wurde sie gerade erkannt, erzählt sie, von den Berliner Organisatoren der heutigen „Armut ist nicht sexy“-Kundgebung in Berlin: Man kennt sich von Twitter. Die sportliche Frau zieht sich im Menschengetümm

;mmel am Eingang des Bahnhofs noch schnell ihr FDP-blaues „Ich halte Christian Lindner nicht mehr aus“-T-Shirt über, dann eilt sie mit einem Rucksack auf dem Rücken und einer Edeka-Tüte in der Hand in Richtung Kanzleramt.Wenn man fleißig ist, wird man nicht arm. Dieser Satz treibt nicht nur seit der Einführung der Agenda 2010 sein Unwesen. Vielleicht ist er eingewoben in die bundesrepublikanische DNA seit den Wirtschaftswunderjahren, wo Arbeiten auch gleich Konsumieren bedeutete. Dieser Satz leugnet aber auch, wie sehr Armut oder Wohlstand von Zufällen abhängig ist. Seitdem die inflationären Lebensmittel- und Energiepreise auch die Ängste der Mittelschicht an die Oberfläche treiben, ist die Angst, arm zu werden, noch einmal gestiegen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2021 hat das Risiko, aus der Mittelschicht abzusteigen, in den vergangenen Jahren vor allem in der unteren Mittelschicht zugenommen.Kurz vor 13 Uhr kommt Nini Klein bei der Kundgebung an. Ein paar Kamerateams bringen sich vor dem Kanzleramt in Position, etwa drei Dutzend Menschen stehen locker beisammen. Nini Klein hält sich an ihrem selbst gemalten Schild „Soforthilfe für Arme!“ fest und wird angesprochen. Journalisten fragen sie nach Statements, Mikrofone und Objektive recken sich ihr entgegen. Sie redet, erklärt und zeigt ihr Schild hoch. Die Wiese vor dem Kanzleramt füllt sich. Wenige linke Gruppierungen sind vor Ort, Janine Wissler, Chefin der Linken, und Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, gesellen sich zu den mittlerweile knapp 200 Menschen. Alles in allem überschaubar, und trotzdem ein Erfolg. Denn an diesem frühlingshaften 15. Oktober treffen viele Gesichter, die den Hashtag #ichbinarmutsbetroffen in den sozialen Medien seit Mai mitprägten, zum ersten Mal in Berlin aufeinander und zeigen sich ohne Scham in der Öffentlichkeit.Arm krank und krank armDen Hashtag #IchBinArmutsbetroffen hat sich Anni W. ausgedacht. Am 12. Mai erzählte sie auf Twitter zum ersten Mal aus ihrem Leben als Hartz-IV-Bezieherin und Mutter von zwei Kindern. Ihr folgten viele weitere und twitterten ebenfalls über ihren Alltag: das fehlende Geld, die Sorgen und die fehlende Anerkennung im Freundeskreis und der Gesellschaft. Die Initiative war geboren. Auch Anni W. ist heute hier. Armutsbetroffene nennen sie sich, weil Armut wie ein Schlag in die Magengrube ist, immer wieder, und keine Zuschreibung. Knapp 14 Millionen Menschen sind es laut „Armutsbericht 2022“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Besonders gefährdet sind Mütter. Laut Statistischem Bundesamt sind 88 Prozent der Alleinerziehenden Frauen und haben mit 43 Prozent das höchste Armutsrisiko aller Familienformen, obwohl etwa zwei Drittel von ihnen berufstätig sind.Viele aus der Armutsbetroffen-Initiative sind aus dem gesamten Bundesgebiet angereist. Zwölf Menschen aus der Bewegung trauen sich auf die kleine Bühne vorm Kanzleramt. Ein Plakat mit der Aufschrift „Krankheit macht arm, Armut macht krank“ hängt an der Treppe zum Mikrofon. Olaf aus Kiel ist wütend darüber, dass das Neun-Euro-Ticket nicht weiterfinanziert wird. Ihm sei es ganz wichtig, dass die Bewegung Armutsbetroffen sich nicht „von den Rechten“ vereinnahmen lasse. „Armut kennt keinen Pass, es gibt nur arme Menschen!“, ruft er ins Mikrofon. Applaus und Jubelrufe. Die anderen Rednerinnen erzählen von ihren Leben als chronisch kranke Auszubildende, als Rentnerin mit Multipler Sklerose oder als Mutter von einem Kind, das es vielleicht nicht aufs Gymnasium schafft, weil soziale Herkunft noch immer über den Bildungsweg entscheidet. Alle, die von der Bühne wieder auf das Trottoir vor dem Bundeskanzleramt treten, werden umarmt und geherzt. Am Ende wollen die Initatoren Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ihren Offenen Brief übergeben, unterzeichnet von über 65.000 Menschen. „Noch nie lebten so viele Menschen in Deutschland am Existenzminimum wie heute“, beginnt der Brief an die Regierung. Aber bis zum Ende der Kundgebung wird weder Olaf Scholz noch Hubertus Heil vorbeischauen.David Hinder steht am Rand der Kundgebung. 39 Jahre alt ist er. Er sieht jünger aus mit seinem blonden Kurzhaarschnitt und dem Trenchcoat. Hinder leitet seine Geschichte ein mit: „Ich war Mittelschicht.“ Als er 18 Jahre alt war, verließ sein sehr gut verdienender Vater die Familie mit dem gesamten Vermögen. So musste er mehrere Jahre Burger braten und Kaffee servieren, um seine Mutter und Schwester durchzubringen. Mit Mitte 20 machte er an der Abendschule sein Abi nach. Auf seinen Studienwunsch, Lehramt, konnte er sich nicht bewerben, weil das Bafög-Amt sich nicht auf seine mehrfachen Anträge meldete. Nie. Heute verdient er Mindestlohn in seinem Vollzeitjob im Homeoffice und wird recht zynisch, wenn er über seine Arbeit als Callcenter-Agent redet. „In ein paar Jahren bin ich eh durch einen Bot ersetzt“, lacht er. Früher habe er etwas vorgeschoben, wenn seine Freunde aus der Mitelschicht, „Ingenieure, Psychologen“, mit ihm weggehen wollten. „Ich bin überrascht, wie viel Verständnis meine Freunde haben“, sagt er, nachdem er ihnen erzählt habe, dass er arm sei.Auf der Kundgebung ist er einer der wenigen Männer, die sich als Armutsbetroffene outen. „Bei Männern kommt ja noch das Stigma dazu, dass man seine Familie nicht ernähren kann, Stichwort toxische Männlichkeit“, sagt Hinder. Ihn, der aus der Mittelschicht in die Armut gepurzelt sei, verbinde mit den anderen, egal ob „working poor“, Rentnerin oder Hartz-IV-Empfänger, dass sie am Ende des Monats mit wenigen Euros die Zeit bis zum Geldeingang überbrücken müssten. „Das ist das große verbindende Element“, sagt David Hinder.Im Ortsverband von #IchBinArmutsbetroffen im Ruhrgebiet ist er weiterhin aktiv, wünscht sich aber weitreichendere Unterstützung, „vor allem von der Arbeiterpartei SPD“, wie er lacht. Arm sein im Erwachsenenalter kann auch bedeuten, dass sich Lebenstüren schließen. David Hinder will das Selbstbewusstsein, das ihm die Bewegung und auch seine Arbeit in den sozialen Medien, wo er sich „Asifluencer“ nennt, gibt, nutzen – auch dafür, sich beruflich neu zu orientieren.Die Mutter, die auf der Bühne bessere Bildungschancen für arme Kinder fordert, ist Wiken B., 46 Jahre alt. Ihr Teenager ist ebenfalls auf der Kundgebung in Berlin dabei, hilft bei der Technik und umarmt sie nach ihrer Rede. Wiken B. hat recht: Laut den jährlichen OECD-Berichten schneidet Deutschland im internationalen Vergleich schlecht ab. Die soziale Herkunft entscheidet noch immer über den Bildungserfolg armer Kinder. So erreichen nur 15 Prozent der Studierenden ohne Eltern mit Abitur den Hochschulabschluss. B. arbeitet momentan als Betreuerin in einem Pflegeheim.Eine Mahlzeit pro TagDavor hat sie jahrelang in Callcentern gejobbt und mit 32 Jahren eine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht. Das erzählt sie zwei Wochen nach der Berliner Kundgebung in einem Café an der Hamburger Alster, unweit des prächtigen Hotel Atlantic. Inzwischen gab es noch eine Demonstration: Mehr als 2.500 Protestierende in der Hamburger Innenstadt, bei über 70 Unterstützerorganisationen – „toll“, strahlt Wiken B. Die Aktivist*innen beraten auch schon über weitere Aktionen und Demos. Bis ins Frühjahr 2023 reichen die Planungen.Für Wiken B. ist die Vernetzung über das Digitale ideal, neben ihrem anstrengenden Job. Momentan betreut sie den Twitteraccount und den Tiktok-Account der Armutsbetroffen-Bewegung und erklärt dort unzähligen grimmigen Kommentatoren geduldig, dass sie mit ihrem Niedriglohn immer noch mehr verdiene als mit dem neuen Bürgergeld. Trotzdem werde immer wieder gegen Hartzer und Arme gehetzt. Das Bild der faulen Langzeitarbeitslosen werde von Medien wie RTL 2 festgeklopft, und auch von der Politik. Wer „Gratismentalität“ rufe, wie Christian Lindner, gieße Öl ins Feuer.Wiken B. wohnt mit ihrem Kind an der Peripherie von Hamburg und ist auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Anderthalb Stunden braucht sie, um in die Hamburger Innenstadt hineinzufahren. Als Betreuerin in einem Pflegeheim ist sie im Zwei-Schicht-Dienst und bräuchte bei den vielen Ausfällen und Verspätungen eigentlich ein Auto, aber das kann sie sich nicht leisten. Sie komme aus einer wohlhabenden Familie, erzählt sie, als sie in ihrem Michkaffee rührt. Mit dem Tod ihres Vaters verließ sie ein Jahr vor dem Abitur das Internat. „Ich war rebellisch“, sagt sie, und ihre freundlichen braunen Augen blitzen unter der Brille hervor. Wiken B. jobbte lange in Kölner Callcentern und lernte in dieser Zeit den Vater ihres Sohnes kennen. Als er zuschlug, befreite sie sich mit dem „Lütten“, wie sie ihren Sohn liebevoll nennt, aus der Beziehung, kam wieder nach Hamburg und suchte sich schnell Wohnung und Job.Noch möchte der „Lütte“ Jura studieren. Doch die Schule hat ihm keine Gymnasialempfehlung ausgesprochen. Unzählige Gespräche hatte Wiken B. in der Schule, um die Lehrer davon zu überzeugen, dass ihre Sohn das Potenzial habe. „Dann macht er das Abi eben über den 2. Bildungsweg“, verspricht sie sich laut und erzählt davon, dass sie durch den ganzen Stress nur noch einmal am Tag esse. Auch ihr Kind komme mit einer täglichen Mahlzeit aus.Eine Kostenaufstellung hat sie mitgebracht. Von 1.200 Euro Lohn gehen bereits 600 Euro Miete und 110 Euro Stromkosten weg. „Alles, was Geld kostet, geht eigentlich nicht“, sagt sie und erzählt, dass sie beim letzten Familientreffen einen satten Bauch vorgetäuscht habe, nur damit ihr Kind Steak und Pommes bestellen kann. Ihre Familie und nahe Freundinnen würden nicht verstehen, warum sie sich nun in der Bewegung engagiere. „Mit Armut will keiner was zu tun haben“, sagt die Aktivistin. Sie hofft trotzdem auf eine breitere Unterstützung und Solidarität, auch von denjenigen, die noch nicht betroffen sind.Nini Klein konnte sich inzwischen von der Berliner Kundgebung erholen. Ein Tag Protest, drei Tage Migräne, so geht ihre Rechnung, erklärt sie lakonisch, das sei der Preis, wenn man sich mit chronischer Krankheit und Armut sozial engagiert. Doch die Gemeinschaft gibt ihr Kraft: Die Sichtbarkeit ihres Schildes, die Umarmungen hinter der Bühne. „Das ist das Wichtigste für mich“, sagt Nini Klein, „das Menschliche.“



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Von Veritatis

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