Ausstellung Die Künstlerin Nan Goldin fotografiert so subjektiv und involviert wie niemand vor ihr. Was das bedeutet, zeigt aktuell die Akademie der Künste in Berlin
„Jimmy Paulette and Tabboo! in the Bathroom“ (1991)
Foto: Courtesy of the Artists and Marian Goodman Gallery
Als die Pandemie kam, war es ein Gottesgeschenk, dass du bei mir eingezogen bist. Ich wäre sonst weder geistig gesund noch abstinent geblieben.“ Nan Goldin sagt das zu Thora Siemsen in einem Gespräch, aufgezeichnet 2021 für die Marian Goodman Gallery. Die Fotografin und die fast 40 Jahre jüngere Autorin lernten sich kennen bei einem Interview, der Beginn einer engen Freundschaft. Es waren immer schon Freundschaften, die Ausgangspunkt waren für die Kunst der New Yorkerin. Sie fotografiert so subjektiv und involviert wie vor ihr niemand sonst.
Zwei Fotografien von Siemsen sind nun auch anlässlich des Käthe-Kollwitz-Preises für Nan Goldin in der Akademie der Künste in Berlin zu sehen. Thora vor dem Spiegel an Nans Frisierkommode, die Haut so h
Haut so hell wie die Umgebung dunkel, und auf Nans weißem, Falten werfenden Bett, die Beine übereinander geschlagen, den Blick zur Decke gerichtet. Zwei Akte, zart und opulent zugleich, wie in die Gegenwart übersetzte Meisterwerke aus der Barockmalerei, nur weniger inszeniert. Nan Goldin teilt ihr Leben mit den Protagonist*innen ihrer Bilder. Zwischen Auge, Kamera und Motiv passt hier kein Konzept.Gleich daneben: kleinformatigere Schwarz-Weiß-Fotografien von früheren Mitbewohner*innen und Freund*innen, aufgenommen Anfang der 70er Jahre in Boston. Goldin nimmt uns mit in Straßen, Clubs, Bars, Garderoben, Wohnungen und Betten. In ihre Tage und vor allem Nächte unter Bohemiens, Dragqueens und trans* Menschen. „Ich möchte Menschen zeigen, wie schön sie sind“, sagt sie, besonders denen, die nicht zu passen scheinen in die herkömmlichen Lebens- und Geschlechtervorstellungen der Mehrheitsgesellschaft. Damals noch sehr viel weniger als heute.Das Risiko der VerletzlichkeitZehntausende Fotos umfasst Nan Goldins Archiv. Aus den frühen Aufnahmen schöpft sie bis heute. Manches darin entdeckt sie erst, anderes arrangiert sie zu sich immer wieder verändernden Bildzyklen. Goldin versteht sich nicht als Fotografin, sondern als Filmemacherin. Mit Musik untermalte Slideshows sind ihr wichtigstes Medium, darunter The Ballad of Sexual Dependency („Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit“), ihr wohl bekanntestes Werk, der Titel angelehnt an den Brecht-Song aus der Dreigroschenoper. An die 700 Porträts erzählen darin aus ihrem Leben bis hinein in die 80er Jahre in Boston, New York und auch Berlin – wohin es sie als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes verschlug. Es sind intime Momente, voller Liebe und Härte, Sex und Drogen, Gesichter, von Aids gezeichnet, Abschied und Tod. Verstörend und berührend.Placeholder image-1Die Ballade war 2009 neben weiteren Dia-Serien Teil einer umfassenden Schau in den alten Räumen der Berliner C/O Galerie. Es ist eine dieser Ausstellungen, von denen Menschen mehr als zehn Jahre später immer noch erzählen. Prints daraus sind jetzt auch in der Akademie der Künste ausgestellt. Eines zeigt sie zusammen mit ihrem damaligen Freund Brian. Er sitzt rauchend, mit nacktem Oberkörper auf dem Bett, Goldin liegend, im Kimono, beobachtet ihn. Es ist ein ernster, vielsagender Blick. Wer ihr Werk kennt, denkt hier ein weiteres Foto mit, das ebenfalls von dieser toxischen Beziehung mit Brian erzählt: ein Selbstporträt von Goldin, brutal verprügelt, die Augen geschwollen, blau. Goldin zeigt, was sie miterlebt. Selbst in solchen Momenten kompromisslos offen. Das Risiko der Verletzlichkeit, die das mit sich bringt, ist hier doppelt eingeschrieben. Ihre radikale Ehrlichkeit zeugt also auch von einer großen Kraft.Die Sichtbarmachung gehört zur Selbstbehauptung dazu. Das galt damals für die LGBT-Community, in der sie ihre Ersatzfamilie fand und die sie rückblickend als Pioniere im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung sieht. Und das gilt heute für Nan Goldins Kampf gegen die Kunstmäzene Sackler, die Milliardärsfamilie, deren Pharmakonzern Purdue beschuldigt wird, mit aggressiven Verkaufsmethoden seines Schmerzmittels Oxycontin zur Opioid-Epidemie in den USA beigetragen zu haben. Genauso wie Künstlerin ist Goldin Aktivistin. Mit der von ihr gegründeten Gruppe P.A.I.N. hat sie viel erreicht. Zahlreiche Museen, darunter die Tate, das Guggenheim und das Metropolitan, distanzierten sich von der Sackler-Familie und entfernten deren Namen aus den Spenderlisten.Goldin weiß auch hier genau, worum es geht: Sie selbst war jahrelang abhängig von Opioiden, kennt das Stigma. Das stärkt ihre Integrität. Der Film All the Beauty and the Bloodshed von Laura Poitras dokumentiert Goldins unermüdliches Engagement. Und ihren Mut, es als Künstlerin mit dem Kunstmarkt aufzunehmen.Placeholder image-2Künstlerisch haben sich die düsteren Abgründe der Abhängigkeit in ihre Slideshow Memory Lost (2019 – 2021) eingeschrieben – derzeit in einer großen Retrospektive im Moderna Museet in Stockholm ausgestellt, die ab Herbst in die Neue Nationalgalerie in Berlin wandert. Von Drogen beeinflusste Bewusstseinszustände sieht Goldin am ehesten in ihren unpräzisen Landschaftsaufnahmen gespiegelt, die sie selbst als „Kamerafehler“ und gleichzeitig als „magisch“ bezeichnet, als „abstrakte Gedankenausschnitte“.Einige davon hängen nun auch in Berlin. Es bleibt ein kleiner Ausschnitt, der in der Akademie der Künste gezeigt wird. Die ganze Wucht des Werks vermittelt sich hier nicht. Der Einblick lohnt sich trotzdem, umspannt die ganzen 50 Jahre ihres Schaffens, und ist spannungsvoll präsentiert: Vor dunkelgrau gestrichenen Wänden und in schwarzen Rahmen wirken die von Spots angestrahlten Fotografien wie Leuchtkästen, die Protagonist*innen wie Stars. Das untermalt die Zuneigung und Empathie, mit denen Goldin ihnen begegnet. Und es verstärkt noch einmal den Effekt des Blitzlichts in den meist nachts entstandenen Bildern, das den Menschen darauf eine starke Präsenz verleiht. Auch wenn hier das Rauschen des Projektors, das Klacken der Dias und vor allem der Soundtrack fehlt, mit dem Goldin ihre Slideshows unterlegt. Zur Ausstellungseröffnung in Berlin wurde lediglich I’ll Be Your Mirror von The Velvet Underground eingespielt.Der Spiegel ist eins der Motive, die sich durch ihre Arbeiten ziehen. Ganz konkret, wie in einem der drei großformatigen Grids in der Ausstellung – Collagen mit neun „mirror“-Bildern von Yogo in Bangkok oder Joey in Berlin aus teilweise mehreren Jahrzehnten. Aber auch im übertragenen Sinne. „Du wolltest die Geschichte unserer Beziehung anhand von Bildern meines Gesichts erzählen“, sagt Thora Siemsen in dem anfangs erwähnten Gespräch. Das macht noch einmal deutlich, wie nah Nan Goldin den Menschen kommt. Und auch dazu gehört Mut: Hinzuschauen und auszuhalten, was immer man sieht. Fern von Voyeurismus. Umso mehr, wenn man Teil dieser Erzählung ist, wie sie.