Lexikon Die EU-Kommission lässt die Grille als Lebensmittel zu, Hubert Aiwanger ist empört. „Und in meinen Sinnen schrillen / kleine Wünsche mit den Grillen“ reimte allerdings nicht er sondern Rilke. Was man sonst noch über die Grille wissen muss


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Ausgabe 05/2023

Mmhhh, lecker!

Mmhhh, lecker!

Foto: Science Photo Library /Gschmeissner, Steve

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Anstandsdame Sobald Pinocchioseine Holzbeine hat, rennt er weg. Der Vater läuft ihm hinterher und hält ihn fest. Die Puppe schmeißt sich auf den Boden. „Der arme Junge“‚ denken die Leute und hetzen Polizisten auf Geppetto, der dann verhaftet wird. Autor Carlo Collodi war auf der Seite der Armen und prangerte in solchen Szenen die willkürliche Staatsgewalt an. „Il Grillo Parlante“, die Sprechende Grille, rät Pinocchio, er solle auf seinen Vater hören. Und zur Schule gehen, „sonst landest du im Krankenhaus oder im Gefängnis“. Die Grille ist die Anstandsdame, praktisch sein Gewissen. Aber der Holzkopf will keinen Tadel, lieber ein Leben als Vagabund. Pinocchio erschlägt die Grille mit dem Hammer, bis sie zerque

Grille mit dem Hammer, bis sie zerquetscht an der Wand klebt, wie bei Tarantino. Sie kehrt als Gespenst zurück und warnt Pinocchio vor der betrügerischen Katze und dem gierigen Fuchs ( ➝ Vorsorge).Maxi Leinkauf BBiblisch Nach jeder Weigerung des Pharao, Moses mit seinem Volk ziehen zu lassen, schickte JHWH den Ägyptern eine weitere Plage. Nummer acht waren die Heuschrecken, die „alles fraßen, was im Land wuchs und was der Hagel (Plage sieben) gelassen hatte“. Zuletzt suchten die gefräßigen Hüpfer 2021 Äthiopien und Somalia heim. Entstehen können solche Katastrophen, wenn in einer Wüste wegen Regenfällen die Vegetation zu sprießen beginnt und sich damit Populationen punktuell explosionsartig vermehren. Beeeindruckend wird so ein Heuschreckenüberfall in Terrence Malicks Film Days of Heaven dargestellt. Innerhalb weniger Minuten verdunkelt sich der Himmel und vernichten Millionen der Tiere die Weizenernte eines ganzen Jahres. Nur mit einem Feuer kann die Plage bekämpft werden. Inferno wird mit Inferno niedergerungen. Womöglich ein Sinnbild zukünftiger Überlebenskämpfe. Tatsächlich werden Heuschreckenplagen vermehrt – wie so mancher Unbill – wegen des Klimawandels auftreten. Marc OttikerCCrickets Auch Walther von der Vogelweide hatte seine bellizistische Phase. Er mahnte den Ritterstand, es mit dem Pflichtbewusstsein der Ameisen zu halten und tunlichst an den Kreuzzügen teilzunehmen, statt müßig „auf der Wiese mit den Grillen zu singen“ (➝ Vorsorge). Walthers Berufsstand gab in jüngerer Zeit so einigen Pop-Kapellen ihren Namen: The Troubadours in England oder Skaldowie nach den nordischen Skalden in Polen. Die Grille als sorglos fröhliche Musikantin gefiel dagegen Buddy Holly als Namensgeberin für seine erste Band: The Crickets (Die Grillen).Ihr erstes Album (und Buddys einziges zu seinen Lebzeiten) wurde mit The Chirping Crickets (1957) betitelt. Zwölf Songs in 26 Minuten! Mitautor: Roy Orbison. Allesamt unzählbar oft gecovert. Not Fade Away zum Beispiel von den Rolling Stones. Crickets-Fans waren auch John, Paul, George and Ringo, die schließlich ihre Band Holly zu Ehren ebenfalls angelehnt an ein Insekt benannten. Grillenhaft sorglos performen die Crickets mit Frontmann Buddy Holly in der Ed Sullivan Show am 1. Dezember 1957 ihren Hit That’ll Be The Day (… when I die). Ein gutes Jahr später fällt die fröhliche Grille vom Himmel und stirbt am harten Erdboden. Michael SuckowFFake News Hubert Aiwanger #hatessatt. Bayerns Vize-Ministerpräsident ist wütend, dass die Grille als Lebensmittel in der EU zugelassen ist, nur damit Veganer*innen ihr „tierisches Eiweiß“ bekommen. Verstehen Sie nicht? Nun, damit sind Sie nicht alleine. Etliche Kommentare weisen ihn darauf hin, dass ein vegan lebender Mensch tierisches Eiweiß weder konsumiert noch benötigt. Aiwangers Reaktion darauf: Was, wenn Veganer*innen jetzt ohne ihr Wissen Grillen verspeisen? Ich finde es ja beachtlich, dass er als Konservativer sich um die ethische Unversehrtheit der von ihm kritisierten „veganen In-Crowd“ bemüht. Ein Paradebeispiel für politische Toleranz. Die Antwort der EU-Kommission auf seinen Tweet, dass die Grille als Zutat deklarierungspflichtig ist und natürlich nicht einfach beigemischt wird, lässt er unkommentiert.Clara von RauchGGrasshoppers Im August des Jahres 1886 gründete eine Handvoll junger Männer im Café Stäubli zu Zürich den Fußballklub Grasshoppers. Treibende Kraft hinter der exotischen Unternehmung – Fußball galt in der Schweiz als Randsportart – war der Engländer Tom E. Griffith, der zur Ausbildung in Zürich weilte und sein geliebtes „Soccer“ vermisste. Die ersten Wettkämpfe fanden auf einer öffentlichen Wiese gegen zumeist spontan zusammengewürfelte Mannschaften statt. Meilenweit vom heutigen Ausverkauf des Spiels entfernt war das. MOHHeimchen Dem Heimchen am Herde bescheinigte der Focus das größte Glück auf Erden. „Heimchen“ bedeutet „Grille“, diese wiederum „schrulliger Gedanke“. „Am zufriedensten mit der Ehe“, liest man, „sind Hausfrauen, deren allein verdienende Männer ihnen gegenüber emotionales Engagement zeigen.“ Ehrenamtlich sozusagen. Wer den grillenhaften Artikel verfasst hat, ist nicht ersichtlich – Frau? Mann? Divers? Eine Grille? Charles Dickens kann’s nicht gewesen sein, er schrieb schon 1845 die Novelle Heimchen am Herd. Darin wird auch viel geheiratet – und das Heimchen im Ofen bringt das Glück dazu. Von der Liebe wusste die mindestens zweimal verheiratete Ella Fitzgerald in The Cricket Song besser zu zirpen – ohne Alleinverdiener.Katharina KörtingRRilke Rainer Maria Rilke reimte häufig, manchmal gut, gelegentlich in parodistischer Absicht. In seinen späten Jahren las er in der Zeitung ein Gedicht von Franziska Stoecklin. Sie schrieb: „Willst du ein Kleid? Willst du ein Leid? Wir sind so schwer und doch zu leer.“ Rilke antwortete in Gegenstrophe: „Willst du ein Bad? Willst du Salat –? Wir sind so dumm, und doch nicht stumm.“ Ob eine parodistische Absicht hinter dem Gedicht „Abend hat mich müd gemacht, / und in meinen Sinnen schrillen / kleine Wünsche mit den Grillen. // Wo das blasse Land verflacht, / liegen lauter weiße Villen / hinter roter Rosenpracht. // Liegen wie auf leiser Wacht / weiße Villen an dem stillen // Uferrand der Frühlingsnacht“ steckt, soll an dieser Stelle offenbleiben. Der Vergleich von Wünschen mit schrillenden Grillen wird Naturliebende bezaubern, und auch wer sich sonst etwas sehnlich wünscht, kann sich gut vorstellen, wie die Wünsche sich im Innern ausdauernd wie Grillengezirp Gehör verschaffen und auf Befriedigung drängen.Beate TrögerSSchallwellenangriff Schwindel, Gedächtnisstörungen, Übelkeit: 2016 beklagten Mitarbeiter aus Kanada und den USA merkwürdige Geräusche in ihren diplomatischen Vertretungen auf Kuba. Rund 40 Personen waren betroffen, auch Hör- und Sehprobleme gehörten zu dem bald Havanna-Symptom genannten Phänomen. Setzte hier ein Geheimdienst eine Hightech-Waffe ein? Über Mikrowellen wurde spekuliert, viele glaubten an einen gezielten Angriff mit Schallwellen.Zwei Biologen fanden einen natürlichen Ursprung der Töne: das laute Zirpen der Karibischen Kurzschwanz-Grille. Sie werteten eine Tonaufnahme aus und ihre Analyse passte auf das schrille, auf einer Frequenz von sieben Kilohertz liegende Geräusch. Nur konnte das nicht die teils massiven körperlichen Beeinträchtigungen erklären. ➝ Zirpen kann zwar nerven, aber dadurch ausgelöste Schäden sind unbekannt. Mittlerweile stehen Insektenvernichtungsmittel in Verdacht: Damals herrschte eine Gelbmückenplage auf Kuba. Die Grille lieferte die zufällige Begleitmusik.Tobias PrüwerTTschechow Die Grille – so hieß 1955 ein sowjetischer Film nach Anton Tschechows Novelle Poprygunja. Dieses Wort hat keine eindeutige deutsche Entsprechung. Windbeutel hieß die erste Übersetzung 1897 und die englische 1908 The Grashopper. Irrwisch, Die Leichtbeschwingte, Springinsfeld, Flattergeist waren weitere Titel. Es geht um eine junge Frau, die – so beginnt der Film – in ihrer Wohnung eine wilde Party macht, mit anderen Männern flirtet und überhaupt nicht merkt, wie ihr Gatte müde und hungrig nach Hause kommt. Ein aufopferungsvoller Arzt, fast zehn Jahre älter – abgöttisch liebt er sie, doch seine Welt ist ihr fremd. Was sie fasziniert, ist das Künstlermilieu. Sie hintergeht ihn, nutzt ihn aus. Erst mit seinem frühen Tod (er hatte sich im Dienst mit Diphterie infiziert) begreift sie, was sie an ihm hatte. Eine psychologisch differenzierte Ehegeschichte, leider mit moralisierendem Schluss: Als ob es bloß eine „Grille“ wäre, die hier zur Debatte steht!Allüre, Flause, Laune, Marotte – was hat man Frauen nicht alles nachgesagt, wenn sie mit tradierten Geschlechterrollen nicht zurechtkamen. Eine lebenshungrige 22-Jährige mit einem viel beschäftigten Ehemann: Von Hausarbeit war sie weitgehend frei (➝ Heimchen). Ein Beruf war für sie nicht vorgesehen. Sie langweilt sich, und der Künstler, in den sie sich vergafft, liebt sie nicht wirklich. Vergeblich hat sie für sich nach Lebenssinn gesucht und im Leichtsinn nur faden Ersatz gefunden.Irmtraud GutschkeVVorsorge „Fiedeln oder Vorsorgen, Grille oder Ameise?“, fragt regelmäßig der Wirtschaftsteil. Denn das Bild ist herrlich moralisch. Während die Grille den ganzen Sommer müßig ihr Lied geigt, rackert sich die Ameise Vorräte anhäufend ab. Dann kommt der Winter und die hungrige Grille muss betteln gehen. Und je nach moralischer Vorliebe hält die Ameise einen belehrenden (➝ Anstandsdame) Vortrag, teilt ihre Rücklage aber – oder eben nicht. Beim altgriechischen Autor Äsop, der die Fabel zuerst überliefert, ist sie hartherzig gegenüber dem faulen Tier, das hier noch eine Heuschrecke ist.Der französische Dichter Jean de La Fontaine verwandelt sie zur Grille. Auch Walt Disney übernimmt den wie für den kapitalistischen Traum gemachten Stoff für einen Kurzfilm. Es stirbt das faulenzende Tier beim russischen Fabeldichter Iwan Krylow, dessen Version ebenfalls als Zeichentrickfilm vorliegt. Im DDR-Kinderbuch Die lustige Grille erbarmen sich die Ameisen und laden sie in ihren Bau – um zu ihrer Fiedel zu tanzen.TPZZirpen Ein warmer Sommerabend an der Küste. Ein Zirpen schleicht sich an, breitet sich lautstark aus. Was zuerst lästig erscheint, hat irgendwann etwas Beruhigendes. In warmen Regionen handelt es sich jedoch nicht um Grillen, sondern Zikaden. Sokrates warnt im Phaidros-Dialog, sich nicht von den Geräuschen der über den Köpfen singenden Zikaden ermüden zu lassen. Er sagt, dass sie einmal Menschen waren, die durch ihren Gesang vergaßen, sich am Leben zu halten. Sie wurden zu Zikaden und bekamen die Aufgabe, zu singen, die Menschen zu beobachten und ihr Treiben weiterzutragen. Das Zirpen der Grille ist hingegen als Paarungsmelodie zu verstehen und dient banal der Fortpflanzung.Liz Jacobs



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Von Veritatis

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