Zeitgeschichte Ex-Premier Giuliano Amato hat in einem Interview an den bis heute ungeklärten Absturz einer italienischen Maschine über dem Mittelmeer erinnert und eine heftige Debatte ausgelöst. Galt der Anschlag seinerzeit Muammar al-Gaddafi?
Erst 16 Jahre nach dem Absturz bei Ustica waren die Trümmer der DC 9 vollständig geborgen
Foto: Giorgio Benvenuti / picture-alliance/ dpa / epa
Gegen Ende der Sommerpause kam jüngst Hektik auf in Rom. Außenminister und Vizepremier Antonio Tajani (Forza Italia) intervenierte gar von China aus in die unerwartet wieder eröffnete Debatte um ein ungelöstes Geheimnis. „Gerechtigkeit schafft man nicht mittels eines Interviews“, mahnte er. Der öffentlich Gescholtene war der Sozialist Giuliano Amato, Regierungschef 1992/93 und 2000/2001 und mit 85 Jahren längst im politischen Ruhestand. Gerade sein fortgeschrittenes Alter, rechtfertigte sich Amato, habe ihn dazu bewogen, in einem Gespräch für die Tageszeitung La Repubblica an einen immer noch ungeklärten Kriminalfall zu erinnern: den Abschuss einer Passagiermaschine nahe der Sizilien vorgelagerten Insel Ustica am 27. Juni 1980. Dabei
immer noch ungeklärten Kriminalfall zu erinnern: den Abschuss einer Passagiermaschine nahe der Sizilien vorgelagerten Insel Ustica am 27. Juni 1980. Dabei starben 81 Menschen, darunter 13 Kinder.Die DC-9 der Fluglinie Itavia war um 20.08 Uhr in Bologna gestartet. Kurz vor ihrem Zielort Palermo verschwand sie vom Radar. Letztes vom Airport Roma-Ciampino aufgezeichnetes Lebenszeichen war ein Wortfetzen des Piloten, gerichtet an ein Crewmitglied: „Gua…“, vermutlich die erste Silbe von „guarda“ – sieh! Dann stürzte das Flugzeug ins Meer, das an dieser Stelle 3.700 Meter tief ist. Erst 1996 waren die Trümmer vollständig geborgen.Giuliano Amato appelliert an Emmanuel MacronUrsache der Tragödie sei eine Bombe an Bord gewesen, behaupteten Militärs und Geheimdienstleute – eine wenig glaubwürdige Erklärung. Die DC-9 war in Bologna mit 113 Minuten Verspätung gestartet, ein Zeitzünder hätte die Explosion deutlich früher auslösen müssen. Dennoch gibt es bis heute einflussreiche Stimmen, die sich an diese Version klammern. Amato dagegen hält einen anderen Tathergang für sehr viel wahrscheinlicher. Demnach wurde die Maschine von einer Rakete getroffen, abgeschossen von einem Kampfjet eines der vier Staaten, die nachweislich an jenem Abend in der Region präsent waren: Frankreich, Belgien, die USA, Großbritannien. Mindestens elf Militärflugzeuge waren zur fraglichen Zeit in der Gegend unterwegs, wurde in einem NATO-Bericht aus dem Jahr 1997 festgehalten und vom italienischen Militärgeheimdienst SISMI bestätigt. 2013 entschied das Oberste Kassationsgericht in Rom, die Itavia-Maschine habe eine Luft-Luft-Rakete unbekannter Herkunft getroffen.In seinem jetzigen Interview hält Amato eine französische Täterschaft für wahrscheinlich. „Die glaubwürdigste Hypothese ist, dass die Rakete von einem französischen Kampfjet abgeschossen wurde, der entweder von einem Flugzeugträger nahe der Südküste Korsikas oder von der an diesem Abend sehr verkehrsreichen Militärbasis in Solenzara gestartet war“, sagte er. „Darüber hat Frankreich nie Klarheit geschaffen.“ Seine späte Wortmeldung solle bewirken, versäumte Aufklärung nachzuholen. Dabei könne vor allem Emmanuel Macron mithelfen.Für seinen Appell an Frankreichs Präsidenten musste sich Amato allerhand Kritik gefallen lassen. Die Behauptung, er habe von diesem eine Entschuldigung gefordert, wies er zurück: Ihm sei es um Wahrheitsfindung gegangen, er habe nur die plausibelste Version zusammengefasst, zur Sache aber nichts Neues beizutragen. Das stimmt, macht aber seinen Vorstoß keineswegs wertlos. Schließlich hat Amato auch mögliche Hintergründe des Absturzes in Erinnerung gerufen. Die bleiben hochbrisant, gerade in Zeiten, da viel von „Renaissance der Geopolitik“ in einer „multipolaren Welt“ die Rede ist.1980 herrschte im westlichen Lager beileibe keine Homogenität. Differenzen gab es nicht zuletzt in der Frage, wie einem gemeinsamen Feind zu begegnen sei, der in den 1970er-Jahren von Strategen in den USA und in Westeuropa als „Schurke Nr. 1“ gehandelt wurde: Libyens Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi (1942 – 2011). Als er regierte, wurde die libysche Armee massiv aufgerüstet, auch dank sowjetischer MIG-Jagdflugzeuge. Das Geld dafür kam aus dem Verkauf gigantischer Ölvorräte, von denen wiederum Italien in hohem Maße abhängig war. Entsprechend galten in Rom stabile Beziehungen zu Libyen als unumgänglich. Frankreich dagegen geriet in einen offenen Konflikt, als Libyen im Tschad, das Paris als seine Domäne betrachtete, in den 1978 begonnenen Bürgerkrieg eingriff. Für die ehemalige Kolonialmacht stand der ungehinderte Zugang zu den dortigen Uranvorkommen auf dem Spiel.Die USA, die NATO und GaddafiAuch wenn für Frankreich das größte Interesse bestand, Gaddafi auszuschalten, konnte man einen solchen Plan kaum an den USA und der NATO vorbei verfolgen – einen Plan, der dramatisch scheiterte. Wenn es ihn gab, kostete er 81 Menschen das Leben. Bis heute beschäftigt die Frage: Hatte ein Whistleblower Gaddafi von einem geplanten Flug abgehalten? Amato glaubt, dass sein Parteifreund, der spätere Premier Bettino Craxi (1934 – 2000), dies gewesen sein könnte. Dessen Kinder bestreiten das ebenso vehement wie glaubwürdig. Erst 1986 habe Craxi den libyschen Staatschef vor einem bevorstehenden Luftangriff der USA auf Tripolis und Bengasi gewarnt.Einer anderen Version zufolge war Gaddafi am 27. Juni 1980 tatsächlich mit dem Flugzeug über dem Mittelmeer Richtung Warschau unterwegs, entkam aber aus einem anderen Grund, wie der SISMI-General Demetrio Cogliandro (1929 – 2003) in einem 15 Seiten starken Dossier behauptete. Es wurde im Januar 1996 in seiner Wohnung sichergestellt, war aber schon 1984 angelegt worden. Darin heißt es: „Gaddafis Flugzeug überflog das Mittelmeer; ein libyscher Jäger oder auch zwei folgten ihm, um ihn abzuschießen (sie wurden von Offizieren gelenkt, die gegen das Regime rebellierten); ein oder zwei französische Jäger stiegen auf und schossen einen libyschen Jäger ab, der in Kalabrien abstürzte. In der kurzen Luftschlacht entkam Gaddafis Flugzeug und wurde mit dem Zivilflugzeug verwechselt, das zum Ziel der französischen Rakete wurde.“Widersprüchliche Versionen: War Korsika der Ausgangspunkt?Auch der hohe italienische Geheimdienstmann Cogliandro beschuldigt also Frankreich. Ausgangspunkt der tödlichen Mission könnte die Basis Solenzara auf Korsika gewesen sein. Dort sei an dem Tag aber schon um 17 Uhr Feierabend gewesen, hieß es jahrelang von französischer Seite – eine Lüge, die später widerlegt wurde. In jedem Fall aber befand sich mindestens ein Flugzeug in gefährlicher Nähe zur Passagiermaschine der Itavia, wie ein Experte von McDonnell-Douglas, der Herstellerfirma der DC-9, Tage nach dem Abschuss festhielt. Neben der DC-9 habe es ein anderes Objekt gegeben, „das dann plötzlich in einer Weise den Kurs änderte, die wie ein Angriffsmanöver erscheinen konnte“.Wenn über Täter, Motive und Tathergang immer noch widersprüchliche Versionen im Umlauf sind, liegt das in erster Linie am Schweigen der involvierten Regierungen, Militärs und Geheimdienste. Das nährt Spekulationen bis hin zu Verschwörungserzählungen, etwa über mysteriöse Todesfälle diverser Zeugen. Warum die italienische Generalität an dem Märchen von der Bombe an Bord festhält, ist leicht nachvollziehbar. Der Beweis des Gegenteils würde bedeuten, dass die italienischen Streitkräfte bei der Verteidigung des eigenen Luftraums – und der dort befindlichen Landsleute – katastrophal versagt haben. Genau aus diesem Grund verurteilte das Kassationsgericht 2013 den italienischen Staat, 100 Millionen Euro an die Hinterbliebenen der Opfer zu zahlen – das einzige rechtskräftige Urteil in dieser Sache.Heute ist Italiens regierende Rechte noch aus einem anderen Grund daran interessiert, das Thema schnell wieder der Öffentlichkeit zu entziehen. Es geht dabei nicht nur um Italiens sensibles Verhältnis zum Nachbarn Frankreich, sondern zur NATO insgesamt. Den Angehörigen der Opfer, die 43 Jahre danach endlich Klarheit fordern, ist das durchaus bewusst. „Wir sprechen von Frankreich“, sagte Daria Bonfietti, Präsidentin der Vereinigung für Opferfamilien von Ustica, „aber ich spreche auch von Amerika, England, Belgien, die in jener Nacht in unserem Luftraum präsent waren, wie die NATO uns erklärte“. Mit der aber will die Regierung in Rom Spannungen aller Art vermeiden. Namentlich Ministerpräsidentin Giorgia Meloni inszeniert sich neuerdings mit Vorliebe als „Hyper-Atlantikerin“. Die Erinnerung an alliierte Täter und Komplizen eines ungesühnten Massenmordes kommt da denkbar ungelegen.