Viertel nach zwei – morgens – in Berlin-Mitte: Die Straßen nördlich des Bahnhofs Friedrichstraße sind menschenleer. Es gibt keinen Grund, hier zu sein, auch nicht am Wochenende. Aber was ist das – ein Troll? Und dort – eine, äh, Katze mit prominenten Brüsten, die lasziv tanzt? Diesem kuriosen Treiben schaut eine Gruppe müde durch die Straßen schlurfender Menschen zu. Warum nur?

Die kleine Nachtwanderung ist Teil einer sechsstündigen Inszenierung am Berliner Ensemble, sie begann um 22 Uhr und heißt, klar, Insomnia. Dabei war man, so ehrlich muss man sein, doch gerade eingenickt auf dem gemütlichen Sitzsack, der im Werkraum, dem kleinsten Spielort des Berliner Ensembles, die Rezeptionshaltung festlegte. Also aufgerafft

e. Also aufgerafft und raus in den Nieselregen, das bringt immerhin den Kreislauf in Schwung.Auf in die fiktionale TheaterweltWas bisher geschah: Um 22 Uhr wurde man im Foyer des Werkraums von Regisseur Heiki Riipinen begrüßt und auf die Nacht eingestellt – inklusive Erklärung zum Fiktionalitätsstatus: Er habe natürlich nicht, wie eben behauptet, vom Bau des Theaters am Schiffbauerdamm geträumt, aber wir sollten doch bitte so tun, als ob. Also gut, gehen wir rein, machen es uns sockig gemütlich in der grün ausgekleideten Sitzlandschaft und lassen uns von Troll 1, Troll 2 und Troll 3 mitnehmen in die Nacht, jenen „Ort der Träume, des Unsichtbaren, der dunklen Fantasien und Wünsche“, wie es in der Ankündigung heißt. Riipinen und sein Team kommen aus Norwegen, deswegen die Trolle, klar. Die drei Troll-Darsteller:innen – Óluva Tvørfoss, Anna Jane Utermohl Lund und William Wittrup Fock – haben sogar etwas Deutsch gelernt, doch die großen Sprechrollen übernehmen mit Pauline Knof und Paul Grill zwei lokale Profis.Sie mimen Iphigenie und Don Juan, mit deren Stücken das Theater am Schiffbauerdamm eröffnet wurde, 1892 und 1954. Sie verlieben sich, ziehen aufs Land, damit Iphigenie ihrer Schlaflosigkeit entkommen kann, was jedoch nur bedingt klappt, woraufhin sie verrückt wird und schließlich das gemeinsame Kind (oder waren es drei?) erschießt, während Don Juan in Nord-Norwegen einer Chatroulette-Bekanntschaft nachstellt. Am Ende landen sie beim Paartherapeuten, aber da der kein Deutsch kann, bringt das auch nichts mehr.Was fehlt? Die typischen Nacht-BeschäftigungenSo weit, so seltsam. Was daran sechs Stunden dauert? Nun, das Thema ist Schlaflosigkeit, also muss lang und breit erkundet werden, was man eben so tut, mitten in der Nacht. Alte Filme auf Youtube gucken. Sich endlos durch Wikipedia klicken. Auf Tiktok versacken. Oder aber: den Nachtwächter des Theaters interviewen, was auf einer Tonspur eingespielt wird und zu den interessanteren Momenten der Nacht gehört. Nach dem Spaziergang legt die Musikerin Dragongirl durchaus gern gehörte Beats auf – doch wo bleiben Drogen, Sex oder wenigstens Masturbation? Es geht hier doch um die Nacht! So hat man viel Zeit, dem eigenen geistigen Verfall beizuwohnen. Die kritische Anspannung lässt nach zwei Stunden nach, man resigniert und beginnt, sich mit der Situation anzufreunden, bis das Denken irgendwann zerbröselt: Was war noch mal die Szene davor? Das Notizbuch hilft auch nicht mehr weiter.So richtig ärgern über dieses Stück kann man sich aber auch nicht, denn alle sind sehr liebenswert. Es gibt ein Picknick mit Trauben und Kaubonbons, am Ende auch etwas Orangensaftbowle, und sowieso wird die Stimmung sehr familiär – sodass das kurz vor Schluss ertönende Schnarchen nur liebevolles Schmunzeln hervorruft.Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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