Fünf Jahre nach dem „Rückgängigmachen“ einer Ministerpräsidentenwahl überlegen Juristen jetzt, wie man missliebige Landesregierungen mittels „Bundeszwang“ entmachten und zeitweise durch einen Staatskommissar ersetzen könnte.

von Peter Grimm

Sie erinnern sich vielleicht noch an den Herbst 2019. In Sachsen und Thüringen wurde jeweils ein neuer Landtag gewählt. Und die Thüringer Wähler bescherten den bundesdeutschen Politikern ein für die Bundesrepublik bis dato historisch einmaliges Wahlergebnis: Eine Mehrheit der Wähler stimmte für die AfD und die SED-Erben. Alle Parteien der alten Bundesrepublik zusammen hatten keine Mehrheit mehr in einem demokratisch gewählten Parlament.

Als Monate später im Februar 2020 ein FDP-Ministerpräsident mit den Stimmen der CDU und der AfD gewählt wurde, hatte die damalige Bundeskanzlerin bekanntlich aus dem fernen Südafrika erklärt, dass diese Wahl rückgängig gemacht werden müsse. Der frisch gewählte Thomas Kemmerich wurde plötzlich von allen Seiten, auch von seiner eigenen Berliner Parteiführung, zum Rücktritt gedrängt und gab diesem Druck nach. All das war bis dato undenkbar in der Bundesrepublik.

Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht der damaligen Bundeskanzlerin zwar attestiert, dass sie mit dem Aufruf zur Rückabwicklung der Wahl eines Landesministerpräsidenten verfassungswidrig gehandelt hätte, aber das hatte keine Konsequenzen. Angela Merkel war zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr im Amt.

Wieder ins Amt als Thüringer Ministerpräsident kam Bodo Ramelow mit seiner rot-rot-grünen Regierung, die von den Wählern im Herbst zuvor abgewählt worden war. Doch nun verhalf ihr die CDU ins Amt, und um die Bürger mit diesem Coup nicht zu verprellen, versprachen alle beteiligten Parteien Neuwahlen. Dieses Versprechen haben sie gebrochen. Eine volle Legislaturperiode regierte die Linksregierung mit CDU-Unterstützung. Beliebter wurde sie dadurch in den letzten Jahren aber nicht.

Bröckelnde Gewissheiten

Nun stehen reguläre Wahlen an, die sich nicht einfach absagen oder verschieben lassen. Das politische Establishment und viele Medienvertreter zeigen sich wieder erschrocken darüber, dass die AfD nach Umfragen als stärkste Partei und mit einer noch größeren Fraktion in den Landtag einziehen könnte. Ausgerechnet der Landesverband, der von Björn Höcke geführt wird. Kaum ein deutscher Politiker hat eine schlechtere Presse als er. Aber offenbar ist die Wut vieler Wähler, die mehrheitlich nicht links wählten, aber eine linke Regierung bekamen, größer als die Hemmung, eine Proteststimme abzugeben. Noch weiß man nicht genau, wie viele Parteien eigentlich in den nächsten Landtag einziehen werden. Sicher scheint aber, dass alle Parteien der alten Bundesrepublik zusammen wieder nur eine Minderheit der Mandate erringen werden. Und dann? Bröckelt die Brandmauer? Was schon länger vernehmbar bröckelt, ist die bisherige Gewissheit, dass die AfD schon nicht in Regierungsämter kommen werde. Dessen ist man sich bekanntlich auch in Sachsen nicht mehr sicher. Dort ist – nach Umfragen – die AfD noch stärker als in Thüringen. Da einige Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern könnten, träumt manch sächsischer AfDler sogar schon von einer eigenen Mandatsmehrheit.

Und wenn Derartiges tatsächlich geschieht? Wenn die AfD im Herbst tatsächlich in ein oder zwei Bundesländern regieren darf? Was tun dann die politischen Verantwortungsträger, die seit Jahren mit ihren Versuchen scheitern, die AfD durch Ab- und Ausgrenzung statt im inhaltlichen politischen Wettbewerb niederzuringen? Akzeptieren sie dann das Votum der Wähler in einer demokratischen Wahl oder suchen sie nach Wegen, wie sich der Griff der AfD zur Macht auf administrativem Wege verhindern ließe?

Die Diskussion über ein AfD-Verbot ist inzwischen weitgehend verstummt. Das Verfahren könnte vor dem Wahltermin in Sachsen und Thüringen selbst bei größten Erfolgsaussichten kaum noch abgeschlossen werden. Wer gehofft hatte, allein die Diskussion darüber würde den Ruf der AfD so sehr beschädigen, dass sie nennenswert an Zuspruch verliert, dürfte angesichts der Umfrageergebnisse enttäuscht sein. Viele Verfechter der zusehends erfolglosen Appelle zur Ab- und Ausgrenzung der AfD fragen sich nun: Gibt es noch eine Möglichkeit, die AfD am Regieren zu hindern?

Dieser Frage haben sich in letzter Zeit einige Juristen gewidmet. Und auch wenn es jetzt noch unvorstellbar erscheint – wie so vieles, was wir in den letzten Jahren erlebt haben –, man sollte diese Überlegungen ernst nehmen.

„Ein Wahlsieg ist kein Freibrief“

Anfang April fragte beispielsweise Dr. Christian Rath in der Legal Tribune Online nach einem: „Bundeszwang gegen AfD-regierte Länder“. Der Bund kann nämlich eine Landesregierung entmachten und zeitweise eine Art Staatskommissar einsetzen, wenn sich das Land nicht mehr an die Rechtsordnung hält. So steht es in Artikel 37 des Grundgesetzes:

„(1) Wenn ein Land die ihm nach dem Grundgesetze oder einem anderen Bundesgesetze obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. (2) Zur Durchführung des Bundeszwanges hat die Bundesregierung oder ihr Beauftragter das Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und ihren Behörden.“

Angewandt wurde diese Zwangsmaßnahme noch nie, bislang wohl auch noch von keiner Bundesregierung ernsthaft in Erwägung gezogen. Es gibt also keine Erfahrungen in der Frage, ab wann diese Bundesbefugnis greift. Liest der Laie den Verfassungsartikel, so kann das nur ein Land betreffen, das sich der Erfüllung einer konkreten gesetzlichen Pflicht verweigert und nicht eine Landesregierung, von der man lediglich annimmt, sie werde die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden. Doch Dr. Rath bietet als Jurist weitergehende Auslegungen an:

„Dabei geht es natürlich nicht darum, jede politische Änderung nach einem AfD-Wahlsieg in einem Bundesland zu blockieren. Wahlen müssen Wirkung haben. Ein Wahlsieg ist aber kein Freibrief, die freiheitlich-demokratische Grundordnung – also Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde – zu beeinträchtigen. Hier hat der Bund eine Garantiefunktion. (…) Der Bundeszwang ist anwendbar, wenn das Land Bundespflichten verletzt. Artikel 37 steht deshalb im Grundgesetz-Abschnitt ,Der Bund und die Länder‘. Seine Bedeutung geht aber weit über Föderalismus-Fragen hinaus. Dies ergibt sich schon aus Artikel 28 Abs. 3 GG: , Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht.’ Es geht also um das große Ganze: die Bewahrung des ,republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates‘ (Art. 28 Abs. 1 GG). Der Bundeszwang gem. Art. 37 GG ist ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen.“

„Der Bund braucht starke Zwangsmittel“

Und hier bieten sich Auslegungsspielräume an. Christian Rath hat da ganz konkrete Vorstellungen:

„Konkret sind zum Beispiel folgende Anwendungsfälle denkbar: Ein Bundesland weigert sich, bestimmte Bundesgesetze umzusetzen, zB. die Unterbringung von Asyl-Antragsteller:innen, die im Asylgesetz geregelt ist. Ein Bundesland ignoriert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, obwohl diese gem. § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz bindend sind. Ein Bundesland verletzt seine grundgesetzlichen Schutzpflichten, indem es tatenlos zusieht, wenn Personen mit Migrationshintergrund durch rechtsextremistische Gruppen schikaniert und angegriffen werden, um diese zu vertreiben.“

Bürgern von Bundesländern wie Berlin könnte hier der ketzerische Gedanke kommen, dass der Bund nach dieser Lesart auch eingreifen könnte, wenn es eine Landesregierung nicht hinbekommt, rechtmäßiges Verwaltungshandeln sicherzustellen, wenn sie bei der Organisation von Wahlen versagt, eine Bildungskrise zu verantworten hat oder Polizei und Justiz unzureichend ausstattet. Allerdings verflüchtigt sich dieser Gedanke wahrscheinlich schnell, denn wer hätte die Hoffnung, ein von der Ampel-Regierung eingesetzter Staatskommissar würde in diesen Bereichen eine Verbesserung bewirken? Kommen wir zurück zu Dr. Rath. Der erklärt uns nämlich auch, was der Bund seiner Ansicht nach im Rahmen des Bundeszwangs so alles machen darf:

„Laut Art. 37 GG kann die Bundesregierung beim Bundeszwang die ,notwendigen Maßnahmen‘ ergreifen. Diese Bestimmung ist denkbar weit und soll es auch sein. So kann der Bund zeitweise treuhänderisch die Staatsgewalt in den Ländern übernehmen. Im Wege der Ersatzvornahme kann er so ausnahmsweise Landesgesetze beschließen oder Entscheidungen im Namen von Landesbehörden treffen. Er kann eine Person als Beauftragte benennen, die die Staatsgewalt im Land zeitweise übernimmt, eine Art Staatskommissar:in. Diese Beauftragte ist in Art. 37 Abs. 2 GG ausdrücklich erwähnt. Der Bund und/oder die Beauftragte können Weisungen erteilen, die im Land umzusetzen sind. Auch dies ergibt sich aus Art. 37 Abs. 2 GG. Weil es beim Bundeszwang um Zwang geht, braucht der Bund starke Zwangsmittel. So kann er sich die Polizei des Landes unterstellen, aber auch die Bundespolizei einsetzen. Auch die Landespolizeien anderer Länder kann er für den Bundeszwang einsetzen. Möglich sind auch Boykottmaßnahmen, um den Widerstand des Landes zu brechen, etwa die Abriegelung der Grenzen des Landes oder die Unterbindung bestimmter Warenverkehre.“

„Kein Fremdkörper im Grundgesetz“

Das hört sich alles nicht gerade nach der stabilen und gefestigten Demokratie an, die die Bundesrepublik doch immer sein wollte. Auch wer schnelle historische Vergleiche lieber meidet, wie der Autor dieser Zeilen, denkt wahrscheinlich kurz an die Weimarer Republik, in der dreimal eine Landesregierung von der jeweiligen Reichsregierung abgesetzt wurde. 1923 betrieb Reichskanzler Stresemann die Absetzung der rot-roten Landesregierungen in Sachsen und Thüringen, weil die sich weigerten, kommunistische Milizen zu entwaffnen, und 1932 war es Reichskanzler von Papen, der die kommissarische Regierung Preußens absetzte. Letzteres wurde als „Preußenschlag“ bekannt und blieb den Nachkriegsdeutschen zumeist als ein Schritt auf dem Weg von der Demokratie zur Diktatur im kollektiven Gedächtnis. Das ist sicher auch ein Grund, warum bislang kaum jemand laut über den Bundeszwang nachgedacht hat.

Der Bundeszwang unterscheidet sich allerdings in manchen Punkten von der Reichsexekution, wie die Weimarer Verfassung diese Notstands-Entmachtung einer Landesregierung nannte. Die Reichsregierung durfte beispielsweise zur Durchsetzung ihrer Maßnahmen die Reichswehr einsetzen, während ein Einsatz der Bundeswehr im Innern nicht zur Bundeszwangs-Durchsetzung erlaubt ist. Rath weist auch darauf hin, dass die Maßnahmen des Bundeszwangs nur vorübergehender Natur sein dürfen. Eine Landesregierung könne daher nicht abgesetzt, sondern nur vorübergehend suspendiert werden.

Es gibt auch eine Reihe weiterer Beschränkungen, aber niemand weiß, wie tragfähig sie am Ende sind, denn da der Bundeszwang noch nie genutzt wurde, gab es auch keine Klagen und Gerichtsverfahren und demzufolge auch keine Urteile, an denen Juristen ihre Bewertung orientieren könnten. Als Laie lohnt es sich da nicht einmal, zu spekulieren. Blicken wir deshalb lieber auf das Fazit des Beitrags von Dr. Rath:

„Der Bundeszwang ist also ein mächtiges Instrument, das mit seinen Checks and Balances aber auch kein Fremdkörper im Grundgesetz ist. Dass der Bund hiermit eine beeindruckend starke Reservefunktion hat, sollte die Sorge vor möglichen AfD-Wahlsiegen auf Landesebene etwas reduzieren. In der Diskussion, ob ein AfD-Verbotsverfahren sinnvoll oder kontraproduktiv wäre, spricht die starke Reservefunktion des Bundeszwangs für einen Verzicht auf voreilige Präventivmaßnahmen.“

Unverständnis gegenüber vielen Wählern

Das hieße im Klartext also, solange eine AfD-Landesregierung beim Regieren nicht allzu sehr vom Kurs der anderen Landesregierungen abweicht, bleibt es bei der Drohung, dass sie auch entmachtet werden könnte?

Nun können Sie sich fragen, ob wir hier die Betrachtungen eines Dr. Rath nicht etwas zu wichtig nehmen. Der Mann ist zwar promovierter Verfassungsjurist und rechtspolitischer Korrespondent verschiedener Zeitungen, aber vielleicht vertritt er ja nur eine Einzelmeinung. Viel liest man in den Medien in der Tat noch nicht zu dem Thema, aber ein paar weitere Juristen denken schon über den Bundeszwang als letztes Mittel gegen die AfD-Politik nach. Der Jurist und Verfassungsblog-Gründer Maximilian Steinbeis sagte der Rheinischen Post bereits im letzten Sommer:

„Niemand hat den Artikel jemals angewandt. Auch auf Landesebene gibt es viele offene Fragen. Jetzt ist wichtig, diese Fragen zu identifizieren und wissenschaftliche Antworten zu suchen und das Gespräch darüber zu eröffnen – für den Fall, dass diese Antworten schon bald gebraucht werden.“

Ebenfalls im letzten Sommer erwähnte der Verfassungsrechtler Franz C. Mayer in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau den Bundeszwang, aber dachte ebenso darüber nach, wie sich ein Bundesland mit der „falschen“ Regierung auch ohne diese Maßnahme sanktionieren ließe. Ein Beispiel:

„Im Kreis der Bundesländer könnte ein ins Autoritäre abrutschendes Bundesland frühzeitig isoliert werden. Man könnte es aus der Ministerpräsidentenkonferenz ausschließen, und auch aus der Zusammenarbeit der Polizei- oder der Verfassungsschutzbehörden.“

Wenn politische Verantwortungsträger oder ihre Ratgeber nun darüber nachdenken sollten, wie sich eine mögliche AfD-Landesregierung „auf Linie“ bringen lässt, so wäre es ja in ihrem Sinne wirklich nicht klug, dies allzu lautstark zu tun. Das würde der AfD im Wahlkampf höchstwahrscheinlich eher nutzen als schaden. Am meisten nutzt es der AfD aber, dass die in Bund und Ländern regierenden Parteien immer noch nicht verstehen wollen, was ihnen die meisten AfD-Wähler mit ihrer Stimmabgabe eigentlich sagen möchten.

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Von Veritatis