Erinnerung Wie wird der armenische Völkermord in der heutigen Türkei rezipiert? Nach einer Welle der Leugnung erkannte 2014 der damalige Ministerpräsident Erdogan die Massaker als Deportation an. Doch die Leugnungspolitik hält 2024 weiterhin an


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Gedenken in Jerewan am 24. April 2024 an den Genozid an den Armeniern vor 109 Jahren

Gedenken in Jerewan am 24. April 2024 an den Genozid an den Armeniern vor 109 Jahren

Foto: Karen Minasyan/AFP/Getty Images

„Mein Sohn, morgen Abend sollen alle diese Männer verhaftet werden. Können wir bei ihrer Verhaftung erfolgreich sein? Sonst möchte ich nicht in Verlegenheit gebracht werden.“ Diese Worte stammen von Mustafa Reşat Mimaroğlu, der in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches als mittlerer Beamter in der Abteilung für politische Verbrechen der türkischen Nationalpolizei tätig war. Das im vergangenen Jahr bisher nur auf Türkisch erschienene und viel beachtete Buch des Historikers Ümit Kurt über den Technokraten Mimaroğlu, Kanun ve Nizam Dairesinde, ist insofern wertvoll, als es die Verhaftungen vom 24. April 1915, die als Beginn des Völkermords an den Armeniern gelten, und die Ereignisse danach aus einer gänzlich

änzlich anderen Perspektive betrachtet.In seinem Porträt beschreibt er Mimaroğlu als „Schreibtischtäter“ und erläutert seine Rolle bei der Vorbereitung des Massakers an den Armeniern sowie der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923. Ebenso zeigt Kurt die Geschichte der Leugnung des Genozids, die auch 109 Jahre später noch offizielle Diskurslinie ist.Auf Befehl von Mustafa Reşat Mimaroğlu, der die politische Abteilung der Polizei leitete, wurde in der Nacht zum 24. April gegen ein Uhr nachts eine Operation eingeleitet, bei der rund 300 prominente Intellektuelle, Schriftsteller und Politiker der armenischen Gemeinschaft in Istanbul wegen angeblicher politischer Aktivitäten verhaftet wurden. Auch Armenier vom Lande und alleinstehende Armenier, die aus anderen Provinzen nach Istanbul eingewandert waren, wurden verhaftet und ins Exil geschickt.Der Journalist Yervant Odyan, dessen Zeugnisse in dem Buch enthalten sind, hielt die diese Nacht mit folgenden Sätzen fest: „Wir sahen, wie Gruppen von Armeniern weggebracht wurden, um weiter weg deportiert zu werden. … Diese Menschen, Alte und junge Männer und Frauen, Arbeiter, wurden plötzlich in ihren Geschäften oder auf der Straße verhaftet, ohne jede Untersuchung in die Lager geworfen, und nun wurden sie weggebracht, um erwürgt zu werden.“Die Verhaftungen, die in der Nacht des 24. April begannen, gipfelten wenige Monate später in der Deportation aller Armenier in die syrische und mesopotamische Wüste. Ziel dieser Deportation war es, Anatolien in einen türkisch-muslimischen Staat umzuwandeln. Talat Pascha, der damalige Innenminister, gilt als Hauptverantwortlicher für den Völkermord. Bewaffnete Truppen, die sogenannten Hamidiye-Brigaden, töteten die Armenier während der beschwerlichen Reise, um ihnen ihre mitgeführten Waren zu enteignen. Viele der Überlebenden starben an Hunger und Krankheiten.Die Täter sind sich keiner Schuld bewusstNach den Bevölkerungsstatistiken der Armenisch-Apostolischen Kirche in Konstantinopel belief sich die armenische Bevölkerung im Osmanischen Reich im Jahr 1914 auf fast zwei Millionen Einwohner. Obgleich verschiedene Quellen unterschiedliche Zahlen nennen, schätzen Historiker, dass zwischen den Jahren 1914 und 1917 mehr als eine Million osmanische Armenier getötet wurden. Das zurückgelassene Eigentum und Vermögen der armenischen Bevölkerung wurde den Staatskassen des Osmanischen Reiches zugeteilt. In der späten osmanischen Ära und später auch in der republikanischen Türkei wurden mittels einer Reihe von Gesetzen, um die Enteignung dieser Besitztümer zu legitimieren.Historiker Kurt schreibt: „Es sind Genozid-Technokraten wie Mustafa Reşat Mimaroğlu, die die Rädchen dieses bürokratischen Rades effektiv und funktionell drehten.“ Mimaroğlu äußerte sich Jahre später zu den Ereignissen jener Zeit wie folgt: „Ich bin keines Verbrechens schuldig; ich bin nichts weiter als ein Beamter, der seine Pflicht in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Vorschriften erfüllt hat.“Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches bekleidete Mustafa Reşat Mimaroğlu noch wichtige Positionen in den republikanischen Führungsriegen. Als Inspektor sammelte er Informationen über die kurdischen Provinzen im Osten und schrieb Berichte über ihre Unterentwicklung der kurdischen Provinz und der Notwendigkeit von Verbesserungsmaßnahmen für den Aufschwung dieser Regionen. Laut Ümit Kurt prägten später die Beobachtungen und die Arbeitsweise von Menschen wie Mimaroğlu die Sicht des Staates auf die Region und das Kurdenproblem. Die Führungsgremien der neu gegründeten Türkischen Republik waren gut gefüllt mit Bürokraten wie ihm, erläutert Kurt, und kommt so zu dem Schluss, dass das neue Regime eine „Republik der Täter“ war.Der Völkermord an den Armeniern wird in den heutigen türkischsprachigen Schulbüchern mit keinem Wort erwähnt. Höchstens werden diese als in Aufständen von armenischen Rebellen gesprochen, und als „Ereignisse“ während des Ersten Weltkriegs, als an der russischen Front große Verluste zu beklagen waren, dargestellt. Weiterhin lautet die offizielle Darstellung, dass nicht nur die armenische Bevölkerung, sondern auch die muslimische ähnliche Verluste erlitten hätte und niemand aufgrund seiner Herkunft getötet wurde. Aus diesem Grund hätte es diese Vorfälle, die die Verwendung des Begriffes „Völkermord“ rechtfertigen würden, nicht gegeben. Laut einer Umfrage des türkischen Thinktanks EDAM, waren im Jahr 2014 nur neun Prozent der in der Türkei lebenden Menschen der Meinung, dass der türkische Staat die „Ereignisse“ von 1915 als Völkermord anerkennen sollte.Keine GedenkveranstaltungenEs ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Prozentsatz heute noch niedriger ist. Der Völkermord an den Armeniern wurde in den akademischen Studien der 90er Jahre und zu Zeiten der politischen Öffnung, die Anfang der 2000er Jahre begann, offener und öffentlicher diskutiert. Der Menschenrechtsverein IHD organisierte am 24. April 2005 zum ersten Mal eine Gedenkveranstaltung. Diese Atmosphäre der Freiheit im hielt nicht lange stand: Der armenische Journalist Hrant Dink wurde 2007, nach Drohungen, die er wegen seiner Schriften zur armenischen Frage erhielt, ermordet. Der Mord ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.2012 erfolgte die erste offizielle Beileidsbekundung der Türkei zu 1915 – während der Amtszeit von Premierminister Erdoğan. Am 24. April 2014 bezeichnete der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, die Ereignisse erstmals als „Deportation“ und als „ein Ereignis mit unmenschlichen Folgen“ und forderte die Einrichtung einer gemeinsamen historischen Kommission, die die Massaker von 1915 wissenschaftlich untersuchen sollte. Diese symbolische Beileidsbekundung führte nicht zu einer realpolitischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes. In seiner Erklärung im folgenden Jahr wurde das Wort „Deportation“ durch „Kriegsscharmützel“ ersetzt. Im Grunde hatte der Ministerpräsident Erdoğan erfolgreiche Vorarbeit geleistet, um die internationalen Reaktionen zum 100. Jahrestag des Völkermords (2015) in Richtung der Türkei abzumildern.Heute geht es der politischen Führungsriege darum, die Angriffe abzuwehren. Diese bestehen darin, auf die Anschuldigungen anderer Länder wegen des Vorwurfs des Völkermords zu reagieren. Als amerikanische Medien im Jahr 2021 berichteten, dass Präsident Joe Biden den armenischen Völkermord anerkennen würde, erklärte Präsident Erdoğan, dass er „weiterhin die Wahrheit gegen die Lüge des sogenannten armenischen Völkermords und diejenigen, die diese Verleumdung aus politischem Kalkül unterstützen“, verteidigen werde.Ab dem Jahr 2018 wurden die jährlichen Gedenkveranstaltungen verboten. Fanden welche statt, wurden Menschen inhaftiert. Beispielsweise wird die Anwaltskammer von Diyarbakır im Osten des Landes jedes Jahr wegen „öffentlicher Verunglimpfung der türkischen Nation, des Staates der Republik Türkei, des Parlaments, der Regierung und der Justizorgane“ strafrechtlich verfolgt, weil sie in ihren Erklärungen zum 24. April den Ausdruck „Völkermord“ verwendet. Die „Plattform zum Gedenken an den 24. April“, die seit 2010 Gedenkveranstaltungen in Istanbul organisierte, ist seit 2020 verboten. Die erneuten Kriegshandlungen zwischen Aserbaidschan und Armenien in der Region Karabach haben die Feindseligkeit gegenüber den Armeniern im Land neu entfacht. Auch in diesem Jahr wurden alle Gedenkveranstaltungen am 24. April verboten.



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Von Veritatis

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