Macht die FDP jetzt doch den Lambsdorff und lässt die Koalition platzen? Manche werden sich noch erinnern: Am 9. September 1982 präsentierte Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) Kanzler Helmut Schmidt (SPD) ein Papier, das eine sofortige „Wirtschaftswende“ anmahnte. Denn seit Monaten jammerten Verbände, Unionsparteien und konservativ-liberale Journalisten, die deutsche Wirtschaft stehe am Abgrund. Wenn die Regierung keine Kehrtwende vollziehe, so Lambsdorff, drohe durch „staatliche Nachfragekürzung“ und „Pessimismus in der Privatwirtschaft“ ein „circulus vitiosus in Richtung Depression“. Mehr noch: Eine weitere „Eskalation in den Umverteilungsstaat“ werde über „sinkende Leistungsbereitschaf

haft“ und zunehmendes „Anspruchsdenken“ eine „Krise des politischen Systems“ herbeiführen. Das Lambsdorff-Papier löste den Bruch der sozialliberalen Koalition aus.Betrachtet man die gegenwärtige Debatte und das strategische Agieren der an ihr beteiligten Politiker, dann sind wir wieder so weit. Das Jammern über deutsche „Wachstumsschwäche“ und „Deindustrialisierung“ ist genauso vorhanden wie das Geheule über die sinkende Leistungsbereitschaft (Vier-Tage-Woche, Überstunden, Dienstbotenmangel) und das wachsende Anspruchsdenken der Bevölkerung (Streiks, Bürgergeld, Rente, Mindestlohn). Am vergangenen Montag billigte das Parteipräsidium der FDP ein Zwölf-Punkte-Papier, das, wie damals das Lambsdorff-Papier, der Öffentlichkeit als „Vorwärtsstrategie“ verkauft wird, aber im Grunde sozialen Rückschritt erzwingt: Einschnitte für Arme und Arbeitslose, Steuererleichterungen für Reiche und die Streichung lästiger Transparenz- und Umweltvorschriften unter dem Stichwort „Bürokratieabbau“.Vergleichbar ist auch die Rolle der Medien. Wie auf Kommando stimmen sie das „garstig Lied“ vom nahenden Ampel-Ende an, unterlegt mit Aussagen von allzeit bereitstehenden Politikern. Der sich als Lindner-Alternative profilierende FDP-Verkehrsminister Volker Wissing droht nach seiner publikumswirksamen Ankündigung von Fahrverboten nun ebenso publikumswirksam mit dem Ausstieg seiner Partei aus der Ampelkoalition. Der Generalsekretär der CDU, Carsten Linnemann, schwärmt in der Bild, das Zwölf-Punkte-Papier der FDP lese sich „wie Lambsdorff 2.0“, der CSU-Vorsitzende Markus Söder erkennt in den Vorschlägen „die Scheidungsurkunde für die Ampel“, und die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht weiß Bescheid: „Die Scheidungspapiere der Ampel sind längst unterzeichnet.“Kanonen statt Butter!Nur die SPD will das Wiederholungs-Spiel von 1982 nicht so recht mitmachen. Anders als ihr Macher Helmut Schmidt haut der „zaudernde“ Moderator Olaf Scholz nie auf den Tisch oder wettert wortgewaltig gegen den „Verrat“ der Liberalen – nein, er lässt den Koalitionspartner generös seine Spielchen spielen. Zwar findet der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, die FDP-Vorschläge stammten aus der politischen „Mottenkiste“, und SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert quält sich ein paar Empörungsvokabeln („untauglich“, „verantwortungslos“, „zynisch“) ab, aber so richtig ernst scheint man die liberalen Provokationen in der SPD-Führung nicht zu nehmen. Die FDP schiele halt auf ihren Parteitag am Wochenende. Also begnügt sich die SPD-Spitze mit dem, was sie laut ihrem Parteitheoretiker Karl Kautsky am besten kann: Sie praktiziert „revolutionären Attentismus“. Franz Beckenbauer würde sagen: „Schaun mer mal, dann sehn mer scho.“Abwarten aber könnte 2024 grundverkehrt sein. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai hat nach der Beschlussfassung zum Zwölf-Punkte-Papier trocken verkündet: „Wir stellen fest, dass die Welt heute eine andere Welt ist als zur Zeit des Koalitionsvertrags.“ Dieser „anderen Welt“ will die FDP nun Rechnung tragen. Das heißt, die Zeitenwende soll nicht durch eine Lockerung der Schuldenbremse, sondern durch eine Blut-Schweiß-und-Tränen-getränkte Wirtschaftswende finanziert werden. Die Formel lautet: Kanonen statt Butter! Für diese neoliberale Schocktherapie wird die passende Regierung gesucht, am besten ein Bürgerblock aus Union und FDP. Wenn es gar nicht anders geht, auch unter Einschluss der gutbürgerlichen Grünen.Sollte die SPD-Führung glauben, die FDP spiele hier lediglich Spielchen, meide aber den Bruch, weil sie aus dem Bundestag fliegen könnte oder weil es mit der Union nicht für eine Mehrheit reichen würde, hat sie die brutale Machtwechsel-Funktion dieser Partei nicht verstanden. Die FDP weiß sehr gut, dass ihr Überleben und ihre weitere Förderung durch gewisse Wirtschaftskreise und Medienhäuser nur garantiert sind, wenn sie liefert, was dort erwartet wird. Sie ist in Koalitionsbrüchen ja geübt. Im Herbst 1966 verließen die FDP-Minister die schwarz-gelbe Koalition mitten in der Legislaturperiode – und trotzdem kehrte die FDP bei der nächsten Wahl sowohl in den Bundestag als auch in die Regierung zurück. 1983 verlor die FDP aufgrund ihres „Verrats“ kräftig an Stimmen, blieb aber in Bundestag und Regierung. Warum sollte das 2024 anders sein? Die FDP sucht nur noch den passenden Anlass für ihren Ausstieg.



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Von Veritatis

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