War es in Woody Allens Film Hannah und ihre Schwestern, in dem Woody Allen eine Figur übers Fernsehprogramm ablästern lässt: „zu viel schlechte Talkshows, fundamentalistische TV-Prediger, Nazis und Deodorant-Werbung“? Was hätte Allens Figur zu sagen zum Rechtsruck in Europa, zur AfD und dem Wahlkampf in den USA, wo die Grauzone zwischen politischer Wirklichkeit und Fiktion schon fast traditionell besonders stark ist?
Je mehr kriminelles Potenzial Politiker haben, desto höher stehen sie im Kurs beim Publikum – Pardon, bei einem Gutteil der Wähler. Siehe AfD: Deren Stars geben verbotene Parolen aus, werden vom Verfassungsschutz beobachtet, raffen Spendengelder aus der Schweiz und stecken mit chinesischen Spionen unter einer Decke. Ihre Wahl ist
nter einer Decke. Ihre Wahl ist weiterer Tabubruch und bietet Suspense. Prompt erreichen sie eine Jugend, die Abwechslung lieber sieht als das Ringen um Ampel-Konsens.Das hier ist „in echt“!Keiner aber hat die Grenzlinien zwischen Show, Business und Politik zuletzt so verwischt wie Donald Trump. Wie konnte ein Lügner und Betrüger, der nach der letzten Wahl zu Gewaltattacken aufrief, als Präsidentschaftskandidat durchgehen? Wie kann ein Oberster Gerichtshof ihm einen roten Teppich auslegen und das Präsidentenamt ausstatten mit der Lizenz, fast jegliche Straftat zu begehen?Getoppt wird das jetzt noch durch das Attentat in Pennsylvania, das ihn zum Märtyer werden lässt. Selbst im Film wäre das zu durchschaubar, zu „billig“. Im Plot der Wirklichkeit verfehlte der Schütze das tödliche Ziel. Hätte er im Film getroffen? Und wohin hätte sich dann das Szenario entwickelt? Zum civil war (der entsprechende Film kam letzten April raus)? Oder wäre Biden zum Versöhner der Nation geworden und hätte seinen Kritiker George Clooney eines Besseren belehrt?In der Wirklichkeit haben die Demokraten vielleicht damals zu viel The West Wing geguckt und sich an krankheitsbedingt angeschlagene Präsidenten in verantwortungsvollen Ämtern gewöhnt? Nun schreien alle: Sucht einen geeigneteren Kandidaten, und zwar schnell! Das hier ist „in echt!“Der Tabubruch in der FiktionKein Zufall, dass sich Joe Biden 2022 angesichts der vielen Krisen von der Bevölkerung „mehr vom Geist der ,Waltons’“ wünschte und weniger Game of Thrones – zu spät! Schon kurz nach der Jahrtausendwende begann Fernsehen atemberaubend wie großes Kino zu werden; perfekte Familien und Helden bekamen Ecken und Kanten und gute Cops Abgründe. Ihre Mission war zwar immer noch Verbrecher jagen, aber spätestens seit Dexter fanden die wesentlichen Kämpfe im Inneren des Helden statt und endeten in diesem Fall mit blutiger Selbstjustiz.Massenmörder, Psychopathen und Mafiabosse besitzen seitdem nicht nur Heldenpotenzial, eine dunkle Seite scheint „raison d‘être“ zu sein. Mit Breaking Bad könnte man das Wesen der neuen Seriendramaturgie umreißen: böse werden. Vom harmlosen Chemielehrer-Dasein einbrechen in die Unterwelt des Drogen-Business; vom guten Richter zum „Bad Judge“ werden. Findet man übrigens auch schon bei Kleist und Sophokles.Bösewichter führen uns in Versuchung: In der Zeit der politischen Correctness, die an uns enorm hohe Moralansprüche stellt, brauchen wir sie. Ihren fiktiven Charakteren erlauben wir den Tabubruch, gewissermaßen kompensatorisch. Wann aber wurden Bösewichte auch in der Politik gesellschaftsfähig? Es muss schon vor Trump begonnen haben, als Präsidenten gewählt wurden, die man früher hatte Cowboy spielen sehen. Allerdings waren Heldenbilder in der Ära Reagan noch anders geprägt.Bösewichte gehören dazuHeute misst sich politische Führungsqualität an Serien wie House of Cards. Nicht nur in Amerika, sondern auch hierzulande. Vielleicht erklärt das sogar ein wenig das Phänomen AfD: Bösewichte (Krah, Krah, Weidel, Krah) gehören dazu! Und was, wenn AfD-Politiker tatsächlich hinter Gitter kämen und dort zu Märtyrern und Influencern werden?Das hatte schon 1923 fatale Folgen. Am Ende hat man schreibwütige AfDler, die Manifeste namens „My Battle“ posten, oder, noch schlimmer: Drehbücher, die in Serie gehen. Und einen Donald Trump, der über diejenigen siegt, die sich am Sonntag bei der Nachricht vom Attentat bei einem bösen Gedanken ertappt haben. Übrigens: Die Biden-Wahlkampagne hat bekannt gemacht, sie werde ihre Fernsehwahlwerbung vorübergehend einstellen – als ahne sie etwas vom fatalen Zusammenhang zwischen Fiktion und politischer Tendenz.