Was hat der neue Koalitionsvertrag zu bieten? Michael Lüders spricht im Interview Klartext: über den Ukrainekrieg, Realitätsverweigerung, deutsche Waffen – und eine GroKo, die außenpolitisch im Jahr 2022 stehen geblieben ist
Muss jetzt erst mal laufen lernen: Friedrich Merz in seinem kleinen Propeller-Flugzeug
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Der Koalitionsvertrag (PDF) von Schwarz-Rot liegt vor. Er strebt, so steht es dort auf Seite 125, eine „verantwortungsvolle Außenpolitik“ an. Was jedoch „verantwortungsvoll“ an einer Konfrontation mit Russland und einer bedingungslosen Unterstützung Israels sein soll, diese Frage darf man schon stellen. Der Außenpolitikexperte Michael Lüders jedenfalls hat das Vertragswerk mit erheblicher Skepsis gelesen.
der Freitag: Herr Lüders, fühlen Sie sich nach der Lektüre des Koalitionsvertrags in Sachen Kriegsgefahr ein wenig sicherer?
Michael Lüders: Nein, dafür gibt es keinen Anlass. Der Koalitionsvertrag ist ein Weiter-so wie bisher. Es gibt nirgendwo neue Akzente, auch in der Außenpolitik setzt sich die Fantasielosigkeit d
Michael Lüders: Nein, dafür gibt es keinen Anlass. Der Koalitionsvertrag ist ein Weiter-so wie bisher. Es gibt nirgendwo neue Akzente, auch in der Außenpolitik setzt sich die Fantasielosigkeit der vorangegangenen Regierung fort. Es wird in diesem Koalitionsvertrag überhaupt nicht auf die veränderte Weltlage Bezug genommen. Offenbar fällt es den Koalitionären sehr schwer, zur Kenntnis zu nehmen, dass insbesondere die USA kein verlässlicher Partner mehr sind. Europa wie auch Deutschland sind gefordert, sich neu aufzustellen. Das scheint aber noch nicht zu Schwarz-Rot durchgedrungen zu sein.Im Vertragstext steht, das langfristige Ziel der Regierung sei Abrüstung. Das müsste doch ganz in Ihrem Sinne sein?!Das ist in der Tat sehr positiv. Allerdings handelt es sich dabei um ein sehr unkonkretes Bekenntnis. Vor allem merkt man nicht, dass die künftige Bundesregierung beim Ukrainekrieg in irgendeiner Weise in Richtung Verhandlungslösungen gehen würde. Auch die Große Koalition lässt nicht erkennen, dass sie nach dem hoffentlich baldigen Ende des Krieges eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa entwickeln möchte. Diese müsste – ob einem das nun gefällt oder nicht – auf die eine oder andere Weise Russland mit einbeziehen. In solche Richtungen denkt man aber nicht unter den Koalitionären. Man redet zwar von einem Bekenntnis zur Rüstungskontrolle, aber gleichzeitig will man ein Symposium einrichten, um Kriegsverbrechen in der Ukraine zu untersuchen.Spricht denn da was gegen?Man kann natürlich russische Funktionäre und Politiker auf die Anklagebank setzen wollen. Da stellt sich dann aber die Frage, wo man die Prioritäten setzen will: in der Strafverfolgung – oder in der Zusammenarbeit mit der russischen Führung mit Blick auf ein friedlicheres Europa? Auch wenn uns die Akteure in Moskau nicht gefallen, bleibt Russland unser Nachbar. Die russische Führung wird nicht verschwinden, auch wenn wir uns das vielleicht wünschen.Interessant ist, dass im Koalitionsvertrag dasselbe steht, was auch zu Beginn des Krieges dort hätte stehen können: Wir unterstützen die Ukraine so, dass sie sich verteidigen kann und in potenziellen Verhandlungen gut dasteht. Verschwiegen wird, dass in den letzten drei Jahren ein Abnutzungskrieg stattgefunden hat und ein US-Präsident gewählt wurde, der erkennbar Frieden will. Ist die GroKo noch nicht im Jahr 2025 angekommen?Das ist in der Tat der Fall. Die Bundesregierung hält, ähnlich wie die EU-Kommission, an der Fiktion fest, dass der Krieg militärisch zugunsten der Ukraine gelöst werden könnte – und sei es, dass man die Verhandlungsposition der Ukraine stärkt. Dabei führen die USA und Russland mittlerweile Gespräche über eine Beendigung dieses Krieges. Das sind weitestgehend Geheimgespräche, an denen die Europäer nicht beteiligt werden. Aus Sicht Washingtons wie auch Russlands müssen die Juniorpartner nicht mit am Tisch sitzen.Selbst die dümmsten Politiker haben verstanden, dass in dem Moment, wo sich die USA und Russland auf eine Lösung verständigen, die Europäer nicht alleine den Ukrainekrieg weiterführen könnenDer Ukrainekrieg ist längst ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland geworden. Die Regierung Trump ist entschlossen, diesen Krieg zu beenden – nicht aus humanitären Erwägungen, sondern weil sich die geopolitischen Interessen der USA verschoben haben: Es soll perspektivisch eher gegen China als gegen Russland gehen. Das hat weder Europa noch die nächste Bundesregierung verstanden. Fast trotzig hält man an vermeintlichen Gewissheiten aus der Zeit zu Beginn des Krieges fest, die aber mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Bislang ist es so, dass unsere transatlantischen Politiker in allen grundsätzlichen Fragen erst einmal geguckt haben: Wie ist eigentlich die Empfehlung aus Washington? Nun müssen sie lernen, erwachsen zu werden.Der Name Donald Trump fällt nicht einmal im Koalitionsvertrag.Das ist in der Tat bemerkenswert. Der Zollstreit wird ebenfalls nicht erwähnt. Stattdessen gibt es eine Betonung, dass man sich nach wie vor eng mit den USA verbunden fühlt. Das ist ja fast schon eine Beschwörung, das beizubehalten, was es unter dem vorherigen US-Präsidenten Biden noch gegeben haben mag, jetzt aber nicht mehr. Für unsere Transatlantiker in Politik, Medien und den Denkfabriken ist das ein ödipaler GAU: Sie müssen sich jetzt von ihrem amerikanischen Übervater lösen und anfangen, selbstständig zu denken. Das fällt den meisten von ihnen sehr, sehr schwer. Es ist übrigens auch interessant, darauf zu verweisen, dass es im Koalitionsvertrag zwar ein Bekenntnis zur internationalen Ordnung gibt: Man möchte mit der EU, mit der NATO, der OSZE, der G7 und den G20-Staaten eng zusammenarbeiten. Aber der Terminus BRICS fällt nicht ein einziges Mal. Und das, obwohl die BRICS-Staaten unter der Führung Chinas mittlerweile ein Schwergewicht sind. Diese Realität mag man offenbar nicht anerkennen.Der Taurus taucht auch nicht im Vertragstext auf. Das ist interessant, hatte Merz doch bei einem Besuch in Kiew im Dezember erneut der Selenskyj-Regierung versprochen, den Marschflugkörper liefern zu wollen. Ist das jetzt vom Tisch?Ich glaube, dass selbst die dümmsten Politiker in Deutschland und der EU verstanden haben, dass in dem Moment, wo sich die USA und Russland auf eine Lösung für die Ukraine verständigen, die Europäer nicht alleine den Krieg weiterführen können. Das ist ausgeschlossen. Ungeachtet aller martialischen Rhetorik ist es jedoch so, dass – wie Sie zu Recht sagen – im Koalitionsvertrag nichts über konkrete Waffenlieferungen steht. Es ist die Rede davon, dass man die Ukraine generell unterstützen möchte, man bekennt sich auch zur Mitfinanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine. Gleichzeitig gibt es vorsichtige Töne, die sagen, man wolle am westlichen Rand der Ukraine Truppen aufstellen, sprich in Polen oder Rumänien. Ich glaube, auch schlichter gestrickte Politiker verstehen, dass das eine gefährliche Entwicklung wäre. Die Tragik der Politik in Brüssel wie auch Berlin besteht darin, dass man eigentlich eingestehen müsste, riesige Fehler gemacht zu haben.Die Europäer sind mitverantwortlich für den Tod von Hunderttausenden Ukrainern und RussenFehler welcher Art?Erstens: Im Vorfeld des Ukrainekriegs ist man nicht auf russische Sicherheitsbedürfnisse eingegangen. Man wollte unbedingt die Ukraine in Richtung NATO führen, was eine rote Linie für Moskau war. Das hätte eigentlich jeder wissen können, aber man hat es ignoriert. Zweitens: Nach Kriegsbeginn gab es im März/April 2022 Verhandlungen in Istanbul, die zum Erfolg hätten führen können, wenn nicht der damalige britische Premier Boris Johnson und die Amerikaner kurz vor dem Abschluss alles torpediert hätten. Das heißt, die Europäer sind mitverantwortlich für den Tod von Hunderttausenden Ukrainern und Russen. Da ist es bemerkenswert, dass die künftige Bundesregierung nach wie vor an einer Beitrittsperspektive der Ukraine zur NATO festhält. Das ist völlig absurd. Die Entscheider haben immer noch nicht begriffen, was die Stunde geschlagen hat.Die SPD soll verhindert haben, dass ein 3,5-Prozent-Ziel für Militärausgaben im Vertrag festgeschrieben wird. Anscheinend weht doch noch ein pazifistischer Wind durch die Partei, oder?Ich habe eher den Eindruck, dass man noch einmal gut gerechnet hat. Nicht ohne Grund sind viele Posten im Koalitionsvertrag unter Finanzierungsvorbehalt gestellt. Ein politischer Entscheider in Berlin, egal von welcher Partei, wird wissen, was eine Rüstungsverpflichtung in der Größenordnung von 3,5 Prozent des Bruttosozialprodukts bedeutet: zweistellige Milliardenbeträge! Das können wir nicht stemmen, insbesondere mit Blick darauf, dass sich Deutschland gerade als Exportnation neu formatieren muss. Wir haben keine billige Energie mehr aus Russland und beobachten gleichzeitig einen Fallout der Beziehungen zwischen China und den USA. Die Folgen für die deutsche Exportwirtschaft sind noch gar nicht abzusehen. Und sollte es im Nahen Osten zu einem Waffengang gegen den Iran kommen, werden die Energiepreise weiter explodieren. Kurzum: Deutschland ist in einer sehr unkomfortablen Position. Wahrscheinlich waren es solche Überlegungen, die zu Vorsicht gemahnt haben bei der Höhe der Militärausgaben.Sie warnen vor einer Militarisierung der deutschen Gesellschaft. Warum?Da muss man doch nur den Koalitionsvertrag lesen! Dort wird detailliert beschrieben, dass etwa die Präsenz von Jugendoffizieren an den Schulen ausgeweitet werden soll, um für die Bundeswehr zu werben. Außerdem soll die Dual-Use-Forschung an den Universitäten ausgeweitet werden. Dadurch geraten Universitäten unter Druck, sich nicht länger Forschung zu verweigern, die auch militärischen Zwecken dienen könnte. Die Zeichen in diesem Vertrag stehen eindeutig auf Militarismus.Das Gewicht der Bundesrepublik in der internationalen Politik ist so gering wie nie zuvor seit der WiedervereinigungIm Moment kursiert ein Name für das Amt des Außenministers: Johann Wadephul. Was hielten Sie von dem CDU-Außenpolitiker auf diesem Posten?Placeholder image-1Lassen Sie es mich positiv formulieren: Die Rolle des deutschen Außenministers ist sekundär geworden. Die feministische Außenpolitik unter Annalena Baerbock war außer Rhetorik wenig mehr als Schaumschlägerei. Da war keinerlei Substanz. Deutschland hat verlernt, sich auf dem diplomatischen Parkett zu bewähren. Jeder Politiker in diesem Amt, der den Weg zurück zur Diplomatie findet, wäre ein guter Politiker.Ist es nicht eine Ironie der Geschichte, dass Baerbock womöglich Außenministerin geblieben wäre, wenn es Ihre Partei, das BSW, in den Bundestag geschafft hätte? Dann hätte es nämlich eine Kenia-Koalition gegeben.In dem Fall wäre das eine realistische Option gewesen, ja. Dann hätte Frau Baerbock für vier weitere Jahre Deutschland außenpolitisch isoliert. Machen wir uns doch nichts vor: Das Gewicht der Bundesrepublik in der internationalen Politik ist so gering wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung. Das ist nicht alleine das Werk von Annalena Baerbock – da muss man fair sein. Die einseitige Positionierung, nicht zuletzt im Nahostkonflikt, hat auch dazu beigetragen, dass im Globalen Süden das Image Deutschlands immensen Schaden genommen hat. Dort nimmt man durchaus zur Kenntnis, was deutsche Waffen im Gazastreifen angerichtet haben.Seitdem der Krieg tobt, sind dort über 50.000 Menschen gestorben, mehr als 100.000 wurden verletzt. Und dann liest man auf Seite 127 nur den Satz, die humanitäre Lage in dem Küstenstreifen müsse „grundlegend verbessert werden“. Ziemlich dünn, oder?Das ist fast schon zynisch, vor allem wenn man die Sätze davor noch mit einbezieht. Da heißt es: „Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind und bleiben Teil der deutschen Staatsräson.“ Und: „Wir unterstützen Israel bei der Gewährleistung der eigenen Sicherheit.“ Das ist eine fast schon orwell’sche Umschreibung dafür, dass Deutschland der zweitwichtigste Waffenlieferant Israels nach den USA ist. Dann kommt der Satz, den Sie zitiert haben: „Die humanitäre Lage im Gaza-Streifen muss grundlegend verbessert werden.“ Wie darf man diesen Satz bitte verstehen? Nachdem nicht zuletzt deutsche Waffen dazu beigetragen haben, Palästinenser zu töten – die meisten von ihnen Zivilisten –, verbessern wir die humanitäre Lage der noch Lebenden? Das ist wirklich eine sehr merkwürdige Weltsicht, die mit dem Wort Zynismus sicherlich nicht unzutreffend beschrieben ist.Dafür will die GroKo an der Zwei-Staaten-Lösung festhalten.Ja. Aber nun weiß wirklich jeder, der es wissen will, dass es eine Zwei-Staaten-Lösung nicht geben wird. Die Regierung von Benjamin Netanjahu hat alle Grundlagen dafür abgeschafft. Das ist Parteiprogramm des Likud, der Partei von Netanjahu: Es wird keinen palästinensischen Staat westlich des Jordan geben. Das kann man nachlesen, es ist allgemein bekannt. Insoweit ist das natürlich eine reine Realitätsverweigerung, wenn die künftige Bundesregierung nun meint, man müsse eine „zu verhandelnde“ Zwei-Staaten-Lösung unterstützen.Das Wort Palästinenser fällt kein einziges Mal im KoalitionsvertragWas bedeutet dieser Einschub eigentlich: „zu verhandelnde“ Zwei-Staaten-Lösung?Das ist wirklich ein interessanter Zusatz. Ich interpretiere ihn so: Es darf nicht von außen, etwa durch die Vereinten Nationen, Druck auf Israel ausgeübt werden, damit es einen palästinensischen Staat gibt. Die beiden beteiligten Akteure sollen das schön unter sich klären. Angesichts des Ungleichgewichts zwischen Israel und den Palästinensern kann man aber doch nicht allen Ernstes davon ausgehen, dass sich ein Löwe und ein Kaninchen friedlich auf die Lösung eines gegebenen Problems verständigen. Das Wort Palästinenser fällt übrigens kein einziges Mal im Koalitionsvertrag. In Frankreich steht im Raum, ob man im Juni einen palästinensischen Staat anerkennt. Deutschland hätte sich der französischen Initiative anschließen können – hat man aber natürlich nicht getan. Stattdessen hält man fest an der eigenen Fiktion der Staatsräson, die davon ausgeht, dass Israel identisch sei mit dem Judentum und dass Kritik an der Politik Israels in aller Regel gleichzusetzen sei mit Antisemitismus. Man ist hier Opfer seines eigenen Gutmenschentums, wenn ich so sagen darf. Das wird uns im Globalen Süden sehr, sehr übel genommen. Norwegen, Irland, Spanien, Slowenien: All diese Länder erkennen den Staat Palästina längst an. Der norwegische Staatsfonds hat sich sogar komplett aus Israel zurückgezogen. Das alles sind Überlegungen, die in Deutschland an ein Tabu grenzen.