Im Buch und auf Social Media trendet eine Subkultur, die seltsam elitär daherkommt – und das Gegenteil dessen ist, was Studium und ein Lebensstil unter den Bedingungen in einer Massenuniversität sind. Was ist „Dark Academia“?
Notizbuch, teurer Füller, schwere Literatur – gehört in der Dark-Academia-Ästhetik zum Basisoutfit
Illustration: der Freitag
Als die Pandemie vor fünf Jahren die Universitäten leer fegte, etablierte sich auf Instagram und auf Tiktok eine studentische Subkultur, die man „Dark Academia“ nennt. Das Studium und die studentische Existenz treten hier genau als das Gegenteil dessen auf, was sie unter den Bedingungen der Pandemie waren und in einer Massenuniversität nicht mehr sind: nämlich als Lebensform und -stil.
Es gibt Füller von Mont Blanc oder Caran d’Arche und Bleistifte von Faber-Castell. Es gibt schwarze Moleskine-Notizbücher und keine Laptops, die Studentinnen und Studenten tragen Pullunder und keine Hoodies von Hilfiger, es gibt Ledertaschen aus Florenz, keine Rucksäcke von Eastpak.
Homer oder Seneca lesende Studierende trifft man an der Uni nur sehr selten
cke von Eastpak.Homer oder Seneca lesende Studierende trifft man an der Uni nur sehr selten anDark Academia ist populäre Kultur im besten Sinne. Der Trend verbindet die Reichweite der sozialen Medien, die Bildhaftigkeit ihrer Sprache mit den vielfältigen Möglichkeiten der distinktionsorientierten Selbstinszenierung. Insgesamt macht die Popkultur von Dark Academia den Eindruck einer akademischen Anderswelt.Dark Academia inszeniert die geisteswissenschaftliche Tradition Alteuropas (Griechentum, Philosophie, Literatur) als eine Art Mausoleum, in dem sich die Protagonist*innen bewegen: Sie ist tot, wird kultisch verehrt, hat aber mit den gegenwärtigen Zeitläuften nichts zu tun. Wenn wir von Homer oder Seneca lesenden Studierenden lesen oder auf Instagram sehen, wie sie sich in Oscar Wildes Dorian Gray verlieren, dann wird die Gegenbildlichkeit dieser Inszenierung umso deutlicher, da es solche Studierenden nur noch sehr, sehr selten gibt.1992 erschien Donna Tartts Die geheime Geschichte. In ihrem Debütroman, der als eine Art Urtext des Genres gesehen wird, erzählt die amerikanische Schriftstellerin die Geschichte einer Gruppe von Freund*innen. Sie spielt am fiktiven Hampden College, einer geisteswissenschaftlichen und der humanistischen Tradition verpflichteten Institution in Vermont, die sehr elitär ist. Mit Richard Papen, dem Erzähler der Geschichte, haben wir den stereotypen Protagonisten der Dark-Academia-Bewegung vor uns.Es handelt sich um den Bildungsaufsteiger, der in solchen Institutionen auf Leute trifft, die den sogenannten höheren Schichten entstammen. Die Freunde studieren Altphilologie, die im angloamerikanischen Sprachraum als „classics“ firmiert. Sie sprechen teilweise Altgriechisch und identifizieren sich vollends mit der griechischen Welt der Schönheit und der dionysischen Feste. Der eigentliche Aufhänger der Geschichte ist aber ein zweifacher Mord, der letztlich zum Zerfall der Gruppe als Freundschaftsbund führt.Es gibt tatsächlich Leute in diesen Romanen, die über kein Smartphone verfügenMan kann also sagen, dass seit Tartts Debüt das Genre Dark Academia unterschiedliche Genres miteinander verschaltet: Die Genres des Campus- und des Bildungsromans werden mit Elementen der Kriminalerzählung und vor allem in der Gegenwart mit denen des Liebesromans verschaltet. Ihr gegenwärtiger Boom wird sicher auch durch den des Young-Adult-Genres verstärkt. Es geht in den Dark-Academia-Romanen immer um elitäre Gemeinschaften oder Clubs, ihre Rituale und ihre Exklusivität. Der Retrocharakter der Figuren wird daran deutlich, dass ausschließlich über analoge Medien miteinander gesprochen wird. Es gibt tatsächlich Leute in diesen Romanen, die über kein Smartphone verfügen und über das Festnetz telefonieren.Die Romane erscheinen beispielsweise in der Kyss-Reihe des Rowohlt-Verlags. Es sind durchweg Bestseller. Ein Beispiel ist die Reihe Brynmor University von Dominik Gaida, die mittlerweile schon drei Bände zählt. Im ersten Teil, Geheimnisse (2023), vermengt der Autor das Setting mit Elementen des Detektivromans. Samuel kommt an die Brynmor, um herauszufinden, was mit seinem Bruder passiert ist, der im Wachkoma liegt. Erwartungsgemäß trifft er im Laufe seiner Ermittlungen auf eine mysteriöse Studentenverbindung. In Versuchungen (2024) wird die Geschichte einer homosexuellen Liebe unter schwierigen Bedingungen erzählt. Nate, der Protagonist, erlebt in London mit Lucas eine Nacht voller Leidenschaft. Als er an die Universität kommt, ist dieser Lucas nun Dr. Lucas Murphy, sein Dozent. In Rivalen wird die alte Geschichte von Romeo und Julia popularisiert.Dadaismus mit der der Schwärzfunktion im PDF-BearbeitungsprogrammNikola Hotel hat mit Wenn ich falle (2022) und Halt mich fest (2024) zwei Romane vorgelegt, an denen sich idealtypische Eigenschaften des Genres im Populären der Gegenwart zeigen lassen – inhaltlich wie formal. Hotels Duett sichert seine Erkennbarkeit als Dark-Academia-Literatur nämlich auch mit Hilfe der Buchästhetik. Diese setzt eine Haptik in Szene, die geradezu anrührend wirkt: Man fährt mit dem Finger über spürbare Efeuranken.Im Kontext von Dark Academia kommt der Umschlaggestaltung eine wichtige Funktion zu. Dient doch der Buchumschlag der Orientierung der Käufer*innen, die sofort wissen, mit wem und mit was sie es zu tun haben. Inhaltlich vermischt Hotel die klassischen Topoi – Bildungsaufsteigerin kommt an eine Eliteuni, verliebt sich in einen Mann aus den höheren Schichten, einen Digitalverweigerer (kein Smartphone, Walkmannutzer) – mit Elementen der Gegenwartskultur wie Chats, Imessages und aktuellen Popsongs.Die mediale Anderswelt lässt die Besonderheit der Liebeskommunikation umso deutlicher werden: Denn beide schreiben sich ihre Liebesgeständnisse nicht per Whatsapp, sondern handschriftlich in ein Notizbuch. Die Einträge sind in der Manier eines Theatertextes im Dialog inszeniert. Das Notizbuch ist nicht nur ein Medium, sondern wird ein Teil der erzählten Welt. Hotel nutzt hier das populäre Verfahren der sogenannten Blackout Poetry. Man sieht eine größtenteils geschwärzte Seite, auf der einzelne Wörter hervorgehoben wurden, die dann wieder einen eigenständigen Text ergeben.Sie popularisiert hier ein avantgardistisches Verfahren aus dem Dadaismus, das man Scherenschnittpoesie nennen könnte: „Nehmt eine Zeitung/Nehmt Scheren“, empfahl schon 1917 der Dadaist Tristan Tzara all jenen, die avantgardistische Lyrik produzieren wollten. Heute nimmt man Eddingmarker oder die Schwärzfunktion im PDF-Bearbeitungsprogramm.Offensichtlich trifft Dark Academia den Nerv vieler junger Leser*innen, vor allem, aber nicht nur von Studierenden. Niemand lässt sich übrigens auf Social Media oder in den Romanen so ansprechen. Alle sind Studenten oder Studentinnen. Was aber wäre genau dieser Nerv? Ist es Eskapismus einer pandemiegeplagten Generation, die Kompetenzen akkumulieren muss, anstatt literarische Erfahrungen machen zu dürfen? Vielleicht. Jedenfalls lehrt der Trend die akademischen Institutionen, dass in der Kombination von digitaler Kultur und literarischer Tradition, wie sie das Genre exemplarisch vorführt, vielleicht auch die Zukunft einer Literaturvermittlung liegt.