Wussten Sie, dass Rentiere kilometerweit schwimmen können? Die finnische Künstlerin Emilia Tikka präsentiert ein beeindruckendes Projekt über Rentierrouten, Epigenetik und die letzte indigene Bevölkerungsgruppe Europas
Wie die Rentiere leben auch die Sámi so kälteangepasst, dass sie Skandinavien auch dann weiter besiedeln könnten, wenn es für die meisten Menschen unbewohnbar wäre
Foto: Emilia Tikka/Filmstill
Dass Augenfarbe oder Haarstruktur an Nachkommen weitergegeben, vererbt werden können, steht außer Frage. Genetik und DNA sind schließlich auch den größten Biologie-Laien ein Begriff. Doch können auch Merkmale, die über die menschliche DNA hinausgehen, an nachfolgende Generationen weitergegeben werden? Erinnerungen an besonders prägende Ereignisse etwa? Ja, argumentiert die noch junge und heiß debattierte Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik.
„Epi“, das ist griechisch für „darüber (hinaus)“. Statt des Gens bildet hier der sogenannte Phänotyp, also die äußerliche Form eines Organismus – das sind zum Beispiel Verhaltensweisen – den Ausgangspunkt für Untersuchungen. Die Forscherin und Künstlerin Emilia Tikka bezieht die epigenetische Idee der Weitergabe gemeinsamer Erinnerungen und Erfahrungen auf die „Sámi“, der letzten indigenen Bevölkerungsgruppe Europas, und die eng mit ihnen verbundenen Rentiere.
In einer Ausstellung lassen sich die künstlerischen Verwebungen dieser kuriosen Forschungsfelder in Form von Kurzfilmen und Installationen bestaunen. Monatelang hat Tikka die beiden samischen Rentierhirten Oula und Leena Valkeapää dabei begleitet, den traditionellen Migrationsrouten ihrer jeweiligen Familien nachzugehen. Auch Tikka selbst ging auf Spurensuche, in einem der mit Oula und Leena Valkeapää gemeinsam produzierten Filme meint man zu sehen, wie sie eine Stäbchenprobe von ihrem eigenen Speichel mit der DNA eines gefundenen Rentier-Schädelknochens vergleicht.
Dem nomadischen Volk der Sámi wurde bisher wenig Beachtung geschenkt. 2017, auf der documenta 14, wurde die indigene Kunst der Sámi hierzulande erstmals in großem Umfang präsentiert: Auch damals standen die enge Verbindung zwischen Mensch und Tier sowie die Notwendigkeit, auf die politische Situation aufmerksam zu machen, im Fokus. Denn die Sámi sind ein bedrohtes Volk, dessen Siedlungsgebiet beziehungsweise Kulturraum sich stetig verkleinert. „Sápmi“ wird die arktische Region, in der heute noch Sámi wie Oula und Leena Valkeapää leben, genannt.
Ein philosophisches Gedankenexperiment
Das Gebiet erstreckt sich über Teile von Finnland, Schweden, Norwegen und Russland, im Kurzfilm sichtbar gemacht durch entschleunigende Aufnahmen von Unmengen an Schnee, Tiefe, Weite und Stille. Das gesamte Projekt scheint zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu jonglieren, aber auch zwischen Wissenschaft und Kunst. Stellenweise erinnert es an ein philosophisches Gedankenexperiment: Wie können Mensch und Tier in Frieden und in unberührter Natur zusammenleben?
Um den kleinen, dunklen Projektraum zu betreten, in dem die Ausstellung gezeigt wird, muss man die Schuhe ausziehen. In einem darin aufgebauten Zelt läuft eine Installation von Rentierrouten: Aus der Vogelperspektive zeigt die Animation die Ausbreitung der Hirten, von ihrem Beginn im 16. Jahrhundert an bis in die 2000er. Die stetige Verkleinerung des Gebiets wird deutlich. Doch die visuelle Entwicklung der Rentierhirten und ihrer Routen hat auch etwas Faszinierend-Hoffnungsvolles: Wie die Rentiere leben auch die Sámi so kälteangepasst, dass sie Skandinavien auch dann weiter besiedeln könnten, wenn es für die meisten Menschen unbewohnbar wäre, erklärt Christina Landbrecht, die den Programmbereich Kunst der Schering-Stiftung leitet.
Ein unbesiedeltes Skandinavien würde für das bedrohte Volk eine große Freiheit bedeuten. Doch sollte es tatsächlich zu einem Kollaps des Golfstroms kommen – ein katastrophales Szenario, das durch den fortschreitenden Klimawandel nicht unrealistisch ist – würde die Rentierpraxis, mit der die Sámi so verbunden sind, vermutlich auch aussterben. Rentiere tragen Spuren der Vergangenheit und Hinweise auf eine mögliche Zukunft in sich, so die Idee, die in den filmischen Kunstwerken anklingt.
Zwischen Science-Fiction-Szenario und Ahnentum
Dass sich auch andere migrierende Tierarten epigenetisch untersuchen lassen, zeigt die Zoologin und Biologin Miriam Liedvogel, die zum Verhalten von Zugvögeln forscht. Dass Vogelschwärme genau wissen, wann es Zeit ist, sich gen Süden oder Norden zu begeben, ohne dass das Wetter als explizites Indiz dient, lege nahe, dass die Tiere von ihren Vorfahren eine gewisse Prägung mitbekommen. Die Erinnerung als biologisches Konzept: Was auf uns abstrus wirken kann, ist indigenen Völkern oft nicht fremd. Mit welchem Wildtier man verwandt ist, sei in indigenen Kreisen keine ungewöhnliche Frage.
„Meine Großmutter erzählte mir, wie glücklich sie waren, als sie im Sommer auf eine Insel wanderten und die Rentiere mit ihnen schwammen“, erzählt ein samischer Protagonist in einem der Kurzfilme. Die gemeinsame Erfahrung des Migrierens hat etwas nicht nur Beeindruckendes, sondern auch Zärtliches, das durch ruhige Szenen ohne hinzugefügte Effekte berührt. Das Bild der Rentierherde, die im bewegten, eiskalten Wasser schwimmt, lässt einen innehalten – das Keuchen der Tiere, ihr Schnauben, wenn sie am Ufer ankommen, hat nichts Esoterisches. Die Nahaufnahmen von Tikkas Ohr lassen sich vielleicht als Plädoyer fürs Zuhören und gleichzeitig als Indiz auf das in der Epigenetik zentrale Gedächtnis deuten.
Der ungekünstelte Naturalismus der Filme, die sich zwischen Science-Fiction-Szenario und Ahnentum bewegen, beruhigt und wirft einen anderen Blick auf diese eigentlich berühmten Weihnachtshirschtiere. Ihre Glocken, die auch in Tikkas Film läuten, verheißen – auch oder gerade in Zeiten des Klimawandels und fortschreitender Zerstörung – einen Funken Hoffnung.
Die Ausstellung „Johtingeaidnu – The Path Within“ lässt sich bis Mitte Juli 2025 in der Schering-Stiftung unter den Berliner Linden besichtigen.