Na also. Eben. Heureka! Wie Friedrich Merz dann tatsächlich einmal fast Bundeskanzler war. Ein neuerliches Gedächtnisprotokoll des früheren „Titanic“-Redakteurs Stefan Gärtner


Hier lief er dann zum ersten Mal durch sein neues Büro im Bundeskanzleramt. Was Friedrich Merz sich dabei wohl dachte?

Foto: Imago/dts Nachrichtenagentur


Joachim-Friedrich Martin Josef Merz saß in seinem Büro und überlegte, in die Hose zu machen: vor Freude, Glück oder Rührung. Tat er’s jetzt nicht, tat er’s nie mehr, so wie man beim Einzug einen Holzboden abschliff oder sich für immer mit der Ausrede behelfen musste, dies sei „halt Patina“. Es war indes, stellte er fest, gar nicht so einfach, das mit dem Laufenlassen; irgendetwas sehr tief in ihm, Merz, in wenigen Stunden Kanzler der Deutschen Demokratischen Bundesrepublik, weigerte sich, wehrte sich, tat sich schwer damit, auch wenn er, Rea- und letztlich Rationalist, der er stets gewesen war, keine Schwierigkeiten hatte damit, sich das alles vorzustellen: Erst wäre es warm und feucht, dann kalt und feucht, und hatte man eine Tass

asse Kaffee zu viel gehabt, musste man die Schuhe wegschmeißen.Merz straffte sich: Gut. Entscheidungen waren zu fällen, würden zu fällen sein, und er fällte drum jetzt schneidig diese: trocken zu bleiben, den Triumph aller Triumphe ohne Exaltationen zu begehen. „Natursekt“, wie das schon klang! Und war er, Merz, nicht auch angetreten, um aus dem entgrenzt woken Freudenhaus, zu dem sein geliebtes Deutschland spätestens unter Merkel verkommen war, wieder ein stolzes und starkes Kraftzentrum zu machen? Eine Festung der Zucht und des Wohlstands, wo der Bundeskanzler persönlich die sozialen Hängematten von den Haken nahm? Sollte nicht endlich Schluss sein mit spätrömischer Dekadenz und anstrengungslosem Wohlstand?Moment: Das hatte nicht er, Merz, in die Welt gehustet; das war von diesem rheinischen Männerfreund und Schreihals gewesen, Gott mochte Westerwelle selig haben, wobei ja nach wie vor nicht klar und bewiesen war, ob der Herr derlei Ferkeleien wirklich akzeptierte oder gar billigte; und Friedrich Merz, Katholik von praktisch Geburt an, erinnerte sich mit heißer Stirn, wie er im Bonner Studium mal in der falschen Kneipe gelandet war. Und war das denn nicht damals schon – die Hölle gewesen?Anpacken! Alle Macht den Unternehmen! Standort first!Merz saß und sann. Bloß nicht verzetteln jetzt. First things first! All you could eat, nee: Whatever it took. Er konnte, sagte er sich und glaubte es kaum, die AfD immer noch halbieren, ja vierteln und letztlich austilgen; aber nicht dadurch, dass er irgendwelche Kneipen schloss und der Trans-Europa-Express wieder was mit Bahnfahren statt mit Pronomen zu tun hatte. Sondern durch gute, kompetente Politik, und Politik, das war Wirtschaftspolitik. „Ohne eine starke Wirtschaft ist alles nichts“, erinnerte er sich kräftig an die erste seiner drei Kern- und Powerthesen, die er im Februar dem Mannheimer Morgen vorgetragen hatte. These zwei: „Deutschland muss Planungen verkürzen, Bürokratie zurückbauen, sinnvoll investieren.“ Und drei: „Gut leben vor Ort: Deutschland braucht starke Landkreise, Städte und Gemeinden.“ Das, merkte er, gefiel ihm immer noch am besten. „Gut leben vor Ort“ – da war alles drin, weil es nichts bedeutete, rein gar nichts, ah! Es war sogar noch schöner als das mit dem sinnvoll Investieren: „Deutschland muss sein Geld aus dem Fenster werfen, damit das Leben vor Ort unerträglich wird“ – ihm, dem gewieften Strategen, war sofort aufgefallen, dass man mit solchen Slogans nichts erreichen konnte, und persönlich hatte er sich dafür eingesetzt, dass stattdessen „ein klarer Politikwechsel“ anzukündigen sei: Anpacken! Alle Macht den Unternehmen! Standort first!Wie unfair: „Mehrheit lehnt Merz als Kanzler ab“Gut, schwante ihm nicht zum ersten Mal, das war Politik, wie sie mehr oder weniger immer schon gewesen war, und so furchtbar scharf waren die Leute auf klare Wechsel schließlich nicht. Sie wollten mit Öl heizen und Bratwurst zum stündlichen Cappuccino, und gab es unwiderlegliche Beweise für die Notwendigkeit, weniger Auto zu fahren, kauften sie Autos von der Größe einer Einzimmerwohnung. „Egal wie dumm, egal wie schlecht, der kleine Mann hat immer recht“ wäre also der richtige Slogan gewesen, aber so fischte ja nun die AfD; und also musste man sich mit „Bürokratieabbau“ behelfen, damit, wenn der Klimaschock, diese linke Übertreibung, den Leuten ihr Häuschen weggeschwemmt hätte, die Solidargemeinschaft zügig für den Neubau samt Öltank und Doppelgarage würde aufkommen können.Merz merkte, er musste sich bremsen. Er war zwar CDU mit Leib und Herz, aber ganz so dumm dann doch wieder nicht, dass ihm nicht manche Gedanken von ganz alleine kamen. Überhaupt die Leute, denen er gleich als Kanzler vorstehen würde, und auch dieses Zitat flutete sein Kopfbecken unverlangt: „Mehrheit lehnt Merz als Kanzler ab. Laut ZDF-Politbarometer fehlt es an Rückhalt der Bevölkerung.“ Nämlich für ihn, den besten Kanzler gleich nach Adenauer! Wie unfair das war! Allenfalls viertelbewusst vollführte er im Bürostuhl eine halbe Drehung, bis er die Pfeilwurfscheibe mit dem Merkel-Bild im Blick hatte. Schön, die ungeliebte Kollegin hatten sie im Osten sogar aufhängen wollen, nur weil sie um ihr gutes Recht gefürchtet hatten, ungeimpft und Corona-krank die Intensivstationen zu verstopfen; und diesen Herrschaften, diesem vorbildlichen Demokratiematerial war er jetzt mit Fünf-Punkte-Plänen zur Ausländerreduktion entgegengekommen. Und was hatte er davon? Wenn die Leute Nazis wählen wollten, dann wählten sie Nazis; und er würde als Brüning aus dem Sauerland …Nein. Niemals! Merz drehte zurück und sah lieber aus dem Fenster. Da, fiel ihm auf, lag die deutsche Zukunft, eine Zukunft, die mit seiner ab sofort identisch war.Das musste man sich einmal vorstellen; in aller Ruhe und mit trockener Hose. Und apropos trockene Hose, dachte Merz schon wieder humoristisch und nämlich daran, wie er einst, nach jahrelangen harten Pumpereien, endlich seine Charlotte – –! Das Glück, kein Zweifel, kam zu dem, der warten konnte. Wie war das noch gewesen? Ohne Wirtschaft war alles nichts; und wenn er, der Blackrock-, Vorstands- und Millionariomerz, die Wirtschaft war – dann … dann …Na also. Eben. Heureka! Und ehe ihm vorm heranbrandenden Selbstvertrauen schlecht werden konnte, faltete er seine zwei Meter aus dem Stuhl und ging, das Vaterland zu retten. Dass auf dem Klo die Seife alle war, es machte schon nichts mehr.



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Von Veritatis

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