Frank Pfeiffers ARD-Dokumentation „Der Palmer-Komplex“ beschäftigt sich in bedächtiger Ausgewogenheit mit Boris Palmer, bekannt für verbale Fehlgriffe und Antiwokeness-Pose, verpasst aber, über die Nacherzählung der Skandale hinauszugehen
Boris Palmer auf dem Rad
Foto: Frank Pfeiffer/SWR
„Der bekannteste Bürgermeister in Deutschland“, so stellt Frank Pfeiffers ARD-Dokumentation Der Palmer-Komplex Boris Palmer zu Beginn vor. Analog zum gängigen dramaturgischen Kniff, zuerst die Leiche zu zeigen und dann das „Whodunit“ aufzurollen, folgt darauf zur Spannungserzeugung ein Ausschnitt aus „Palmers Schicksalsstunde“ von 2023: Szenen seines Zusammenstoßes mit Protestierenden vor der Frankfurter Universität, die ihrem Missmut kund taten, dass Palmer bei der Konferenz zum Thema „Migration“ sprechen sollte.
Der Eklat, den Palmers in diesem verbalen Schlagabtausch gefallene Bemerkungen auslösten – unter anderem ein Holocaust-Vergleich –, führte schließlich zu seinem Austritt bei den Grünen, wo seit 2021 ja schon ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet worden war. Der Austritt markiert zugleich das endgültige Ende aller Spekulationen über Palmers mögliche landes- oder gar bundesweite Karriere.
Was Palmers Bekanntheit – zumindest für den Rest der Republik außerhalb der Kleinstadt Tübingen – ausmacht, stellt der Ausschnitt ebenfalls klar: Es ist seine „Schnauze“, wie der Berliner sagen würde, Palmers Art und Weise, sich oft gewollt „politisch unkorrekt“ auszudrücken. Wobei das vielleicht bereits ein bisschen zu ausweichend und nachsichtig formuliert ist für die nicht wenigen verbalen Fehlgriffe, die Palmer sich über die Jahre so geleistet hat.
Vorfälle wie seine Anmerkung zur DB-Werbung – „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“ –, haben eben nicht nur deswegen für Aufregung gesorgt, weil man gewisse Dinge „nicht mehr so sagt“, sondern weil man eine bestimmte Haltung, eine politische Position dahinter vermuten könnte. Von einem filmischen Porträt, das sich wie Der Palmer-Komplex dazu noch als Langzeitdoku ausgibt, würde man eigentlich erwarten, dass sie mehr leistet, als nur die lange Reihe der von Palmer ausgelösten Empörungen nachzuerzählen.
Schlaufen der Empörung
Im Einzelnen ist das historisch gesehen nicht uninteressant, wenn auch das bloße Nacherzählen der meisten Palmer-Auftritte schon viel Fremdscham beim Zuschauer hinterlässt. Man erkennt die Mühe, die sich Pfeiffer macht, die jeweiligen Vorfälle in einen Kontext zu stellen und auf eine Weise zu präsentieren, die gleichsam „beide Seiten“ zu Wort kommen lässt. So treten sowohl ein paar der lautstarken Kontrahenten wie Hasnain Kazim als auch ein paar Fürsprecher wie Rezzo Schlauch auf, und beide Seiten nehmen angenehm unaufgeregt die Gelegenheit wahr, ihre jeweilige Position wiederzugeben.
Allerdings beginnt auch genau da die Frustration mit dieser Doku: An keiner Stelle wird mal tiefer eingehakt und nachgefragt. Außer dem sich wiederholenden Muster der Empörung über Formulierungen, gibt es vielleicht doch auch Inhaltliches zu besprechen? Selbstverständlich kommt auch Palmer selbst in dieser Doku ausführlich zu Wort, sowohl in Archivaufnahmen von Auftritten bei Lanz und Co als auch im für diese Dokumentation geführten Interview. Da hört man ihn selbst etwas sagen wie, er hätte eben eine andere Haltung zur Migrationspolitik als seine Partei. Was diese andere Haltung ist – und ob sie eventuell auf Vorurteilen beruht, die sich eben nicht mit „Antiwokeness“ wegreden lassen – diese Diskussion vermeidet die Doku konsequent.
Eine der spannendsten Szenen des Films zeigt Palmer im Kreis seiner nahen Mitarbeiter nach einer Podiumsdiskussion im Wahlkampf um die Wiederwahl als Tübinger Oberbürgermeister 2022 – Palmer, der seine Parteimitgliedschaft da bereits hatte „ruhen“ lassen, kandidierte für seine dritte Amtszeit, die Grünen hatten eine eigene Gegenkandidatin aufgestellt. Zusammen mit seinen Vertrauten bereitet Palmer die Veranstaltung nach – und lässt sich heftige Kritik gefallen. „Das Problem ist die Rechthaberei“, sagt einer deutlich, „das kotzt die Leute an!“ Ob er sich nicht mal zurückhalten könne und mal besser nichts sage, oder wenn, dann wenigstens nichts Herabwürdigendes? Palmer zeigt wenig Einsicht: Wenn andere absoluten Quatsch behaupten, wie könne er da nicht widersprechen?
Es sei halt Mode geworden, achtsam zu sein, rücksichtsvoll und sprachsensibel, aber er mache da nicht mit, sieht man ihn in einem weiteren Fernsehauftritt sagen. In einem anderen beschimpft er aufs Gröbste ein paar junge Menschen, die sich für das Grundrecht von Frauen, im Freibad oben ohne schwimmen zu dürfen, einsetzen. Solchen aggressiven „Antiwokeness“-Übertritten fügt die Doku an vielen Stellen eine abwägende und betont wenig feindselige Stimme hinzu, die etwa erläutert, dass das N-Wort Menschen verletzen könne und man nicht versteht, dass Palmer das nicht versteht.
Boris Palmers Tübingen-Bilanz
Immerhin versucht Der Palmer-Komplex mit einem Exkurs über seinen familiären Hintergrund Einblick in die Herkunft von Palmers Halsstarrigkeit zu gewinnen. In recht faszinierenden Ausschnitten wird von der polarisierenden Figur des Vaters, dem sogenannten „Remstal-Rebellen“ erzählt, einem Menschen, der sicher eine eigene Dokumentation verdient hätte. Hier verleihen besonders die Beiträge von Palmers Bruder Patrick dem Film eine Differenziertheit und Selbstreflexion, die man anderswo vermisst.
Was Der Palmer-Komplex leider ganz auslässt, ist Palmers Tätigkeit in Tübingen, seine konkrete Arbeit in der Stadt, in der er seit 2006 Oberbürgermeister ist, und wo man ihn 2022 im ersten Wahlgang mit 52 Prozent der Stimmen trotz aller Skandale für eine dritte Amtszeit wieder gewählt hat. Die Diskussion seiner Politik vor Ort könnte auch mal neue Aspekte zu Tage treten lassen. An einer Stelle über den Tübinger Wahlkampf scheint das auf: Da versucht die Grünen-Kandidatin Ulrike Baumgärtner sich von ihm abzusetzen, indem sie verkündet, sie werde in Tübingen nicht im Rambo-Stil Dinge durchsetzen nach dem Motto: „Ich will, ich will“, sondern die Bürgerbeteiligung wichtig nehmen. Palmer selbst hört man an mehreren Stellen behaupten, dass ein zu viel an Bürgerbeteiligung oft verhindere, was man schon jetzt für den Klimaschutz realisieren könne.
Im Spannungsverhältnis von Palmers „Macher-Pose für den Klimaschutz“ und der Verpflichtung auf demokratische Mitnahme des Bürgerwillens ließe sich Stoff für eine Auseinandersetzung finden, die sich auf weniger eingefahrenen Bahnen bewegt.
Der Palmer-Komplex. Frank Pfeiffer. Deutschland 2025. 90 Minuten. ARD-Mediathek