Im triefend nassen Anzug und behängt mit Wasserpflanzen kommt der tot geglaubte Joseph Cotten die Treppe herab, setzt sich ans Cembalo und spielt ein Lied: Hush, hush, sweet Charlotte. Es ist ein abgefeimtes Spukmanöver, das Bette Davis, die in Robert Aldrichs gleichnamigem Gruselschocker aus dem Jahr 1964 die Hauptfigur gibt, in den Wahnsinn treiben soll. Hush, hush, sweet Charlotte (deutsch Wiegenlied für eine Leiche) ist ein Paradebeispiel für Gaslighting, jene auf Vorspiegelung falscher Tatsachen basierende Manipulationstechnik, deren Opfer fast immer Frauen sind. Der Begriff, seit vielen Jahren auch in der Alltagspsychologie gebräuchlich, verdankt sich dem gleich zweimal verfilmten Theaterstück Gaslight von Patrick Hamilton (1938). In der bekannteren Filmfassung von 1944 wird die junge Ingrid Bergman von dem charmant-diabolischen Trickster Charles Boyer beinahe um den Verstand gebracht.
Gekonnte Simulation ist unerlässlich, um eine klaustrophobische Handlung in Gang zu setzen. Also verstrickt die amerikanische Theaterkritikerin Alexis Soloski die Protagonistin ihres Debütromans Hier im Dunkeln gekonnt in ein narratives Netz, das einem ziemlich traditionellen Detektivroman entliehen sein könnte. Vivian Parry ist im gleichen Metier tätig wie ihre Erfinderin, doch man hofft für die Autorin, dass sich die Parallelen hier erschöpfen. Denn Soloskis traurige Heldin ist nicht nur eine gefürchtete Journalistin, sondern auch ein von Alkohol und Pillen halbwegs auf Kurs gehaltenes, psychisches Wrack.
Immerhin hält sie die Abgabetermine für ihre scharfzüngigen Besprechungen in der Regel ein. Doch der vakante Posten als Chefkritikerin des Magazins, für das sie seit Jahren schreibt, wird ihr beharrlich vorenthalten. Also nimmt sie jede Chance wahr, ihren Ruf zu polieren, und willigt ein, als ein Student sie um ein Interview bittet. Dessen Auftreten wäre Anlass zum Misstrauen, weckt aber eher Parrys Neugierde. Als sie die Nachricht erreicht, der junge Mann sei nach ihrem Treffen spurlos verschwunden, beginnen ihre Nachforschungen. So weit, so klassisch. Aber eben auch eine ausgeklügelte Scharade. Hier im Dunkeln lässt sich als psychologisch ambitionierter Thriller ebenso lesen wie als Genreparodie. Und das ist ziemlich vergnüglich.
Erheblich drastischer, aber auch abgründiger geht es in Die Frau, die schrie zu, einem Beinahe-Kriminalroman des amerikanischen Literaturkritikers David L. Ulin. Der namenlose Ich-Erzähler hockt in seinem Apartment in Los Angeles, hört klassische Bluesaufnahmen und versucht, sein bisheriges Leben zu vergessen. Aber damit kommt er nicht weit. Denn in der Wohnung gegenüber schreit jeden Abend eine Frau. Und als diese irgendwann vor seiner Tür steht, beginnt eine Geschichte, wie wir sie aus den Filmen und Romanen der Schwarzen Serie fast auswendig kennen.
Auch der einsame Blues-Aficionado weiß schnell, was von ihm erwartet wird, und er agiert entsprechend. Allerdings hat er es nicht nur mit einer, sondern mit zwei manipulativen Gegenspielerinnen zu tun. Das macht die Sache schwierig, zumal er ein notorisch unzuverlässiger Erzähler ist, der nicht einmal sich selbst trauen kann. Ulin, der seinen Roman anhand des kuriosen Chuck-Berry-Songs Thirteen Questions Method aufgebaut hat, leistet volle Dekonstruktionsarbeit und beweist wieder einmal, dass es nur ein kurzer Weg vom Noir zum existenzialistischen Exerzitium ist.
Wie so oft in der psychologisch grundierten Spannungsliteratur spielen die Geschlechterverhältnisse eine entscheidende Rolle. Und dass diese mehr als ein Jahrhundert nach dem Beginn der Frauenbewegung sehr zu wünschen übrig lassen, weiß auch Megan Abbotts zeitgenössischer Schauerroman Hüte dich vor der Frau. Abbott, deren Ballett-Thriller Aus der Balance 2023 den zweiten Platz beim Deutschen Krimipreis belegte, versteht sich darauf, scheinbar alltägliche Situationen auf ihren Schreckfaktor hin abzuklopfen.
Wie schnell so etwas, das zunächst wie Anteilnahme und Fürsorge aussieht, Züge psychischer Gewalt annimmt, erfährt die schwangere Jacy, als sie mit ihrem Mann Jed dessen Vater in einem entlegenen, waldreichen Teil Michigans besucht. Dr. Ash erweist sich als Schwiegervater wie aus dem Bilderbuch, ein fürsorglicher, sympathischer älterer Herr, dessen Domizil kaum als jene Hütte, von der Jed oft gesprochen hat, durchgehen kann. Man könnte sich wohlfühlen, wäre da nicht die schroffe Haushälterin Mrs. Brandt.
Wer würde da nicht an Mrs. Danvers denken, die von Judith Anderson mit Verve dargestellte passiv-aggressive Haushälterin in der Hitchcock-Verfilmung von Daphne du Mauriers Rebecca? Doch Megan Abbott setzt uns, wie auch ihre Protagonistin, elegant auf eine falsche Fährte. Denn als Jacy unter Blutungen zu leiden beginnt, bröckelt die freundliche Fassade des Dr. Ash, und die junge Frau, der auch ihr Ehemann immer fremder wird, beginnt sich als Gefangene zu fühlen. Ein subtiler Horror, von Megan Abbott effektiv in Szene gesetzt, entfaltet sich langsam, um schließlich in einem aktionsgeladenen Finale zu münden.
Anders als der trügerische Dr. Ash gibt sich Victor Mondragón keine Mühe, eine freundliche Fassade aufrechtzuerhalten. Seine 15-jährige Tochter Ámbar, die seit drei Jahren mit dem brutalen Gangster durch die Gegend zieht, weiß das. Längst hat sie sich daran gewöhnt, regelmäßig die Identität zu wechseln. Und notfalls die Schussverletzungen ihres Vaters zu verbinden. Denn Mondragón führt ein gefährliches Leben, wobei die größte Bedrohung nicht von der Polizei, sondern von anderen Kriminellen ausgeht.
Ámbar akzeptiert ihr Leben mit einer Mischung aus kindlicher Loyalität und Teenager-Trotz. Was ihr Vater im Schilde führt, versteht sie oft nur halb. Und das beeinflusst ihre Erzählung. Denn Ámbar ist auch die Berichterstatterin im gleichnamigen Thriller des argentinischen Autors Nicolás Ferraro. Und sie erledigt diese Aufgabe mit bemerkenswerter Coolness. Der Roman ist eine verquere Geschichte vom Erwachsenwerden im Gewand eines kompromisslos harten Gangsterromans. Ein erzählerisches Meisterstück eines gewieften Autors, von dem man gerne mehr lesen will.
Auch der Brite Stuart Turton kennt sich mit den Kniffen seines Genres, dem klassischen Detektivroman, aus. Schon sein Debüt Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle, ein gewitztes Rätselarrangement, bescherte ihm internationalen Ruhm. Turtons drittes Buch Der letzte Mord am Ende der Welt spielt in einer fernen Zukunft. Von der menschlichen Welt ist nur eine Insel mit 122 Bewohnern geblieben, alle anderen sind einem mysteriösen tödlichen Nebel zum Opfer gefallen. Nun ist ein Mord geschehen, von dessen Aufklärung es abhängt, ob es weiterhin Leben auf der Erde geben wird. Turtons Roman ist ein sehr spannender Diskurs über die transhumanistischen Dimensionen künstlicher Intelligenz. Und eine weitere eindrucksvolle Demonstration der Möglichkeiten literarischer Täuschungsmanöver.
Hier im Dunkeln Alexis Soloski Christian Lux (Übers.), Eichborn 2025, 384 S., 24 €.
Die Frau, die schrie David L. Ulin Kathrin Bielfeldt (Übers.), Polar 2025, 244 S., 24 €
Hüte dich vor der Frau Megan Abbott Peter Hammans (Übers.), Pulp Master 2024, 380 S., 16 €
Ámbar Nicolás Ferraro Kirsten Brandt (Übers.), Pendragon 2025, 280 S., 22 €
Der letzte Mord am Ende der Welt Stuart Turton Dorothee Merkel (Übers.), Tropen 2025, 464 S., 25 €
Joachim Feldmann lebt in Recklinghausen und war bis zum vergangenen Sommer Lehrer für Deutsch und Englisch. Seit vielen Jahren schreibt er über Kriminalliteratur, unter anderem für das CrimeMag und die Literaturzeitschrift Am Erker. Er ist Mitglied in der Jury des Deutschen Krimipreises
Hier im Dunkeln Alexis Soloski Christian Lux (Übers.), Eichborn 2025, 384 S., 24 €.
Die Frau, die schrie David L. Ulin Kathrin Bielfeldt (Übers.), Polar 2025, 244 S., 24 €
Hüte dich vor der Frau Megan Abbott Peter Hammans (Übers.), Pulp Master 2024, 380 S., 16 €
Ámbar Nicolás Ferraro Kirsten Brandt (Übers.), Pendragon 2025, 280 S., 22 €
Der letzte Mord am Ende der Welt Stuart Turton Dorothee Merkel (Übers.), Tropen 2025, 464 S., 25 €