Rachel Kushners „See der Schöpfung“ ist nicht nur schlau, rasant, sondern auch sensationell komisch. Zum Showdown kommt es in diesem Ökothriller auf einer Agrarmesse in der französischen Provinz
Die Schriftstellerin Rachel Kushner
Foto: Gabby Laurent
Vor ein paar Jahren schrieb der britische Nature Writer Robert Macfarlane einmal ein dickes Buch über die Welt, die unter unseren Füßen liegt. Im Unterland ist eine faszinierende Kulturgeschichte der Höhlen und Hohlräume. Was würde er wohl zu Bruno Lacombe sagen – und was Bruno zu ihm?
Bruno will der kapitalistischen Verderbtheit unserer Zivilisation entkommen
Bruno ist eine Figur in Rachel Kushners neuem, großem Roman See der Schöpfung. Er lebt in den französischen Guyennes unter der Erde – in einer Höhle, die ihm ein Leben jenseits der kapitalistischen Verderbtheit unserer Zivilisation ermöglicht. Die Isolation ist jedoch keineswegs vollkommen: Bruno schreibt an eine Kommune junger Öko-Aktivist*innen elaborierte E-Mail
;ko-Aktivist*innen elaborierte E-Mails über die Vorzüge seiner Untergrundexistenz. Derweil kämpfen die „Moulinarden“, wie sie sich selbst nennen, gegen den von der Regierung geplanten Bau von Riesenbassins zur Versorgung industrieller Landwirtschaftsgiganten. Die eigentliche Heldin (sie würde vielleicht nicht einmal widersprechen, wenn man sie so nennt) ist jedoch Brunos Gegenspielerin, Deckname Sadie Smith, die ihn und die mit ihm in Kontakt stehende revolutionäre Zelle infiltrieren soll. Ihr Auftrag lautet: herauszufinden, ob die Gruppe eine Bedrohung darstellt.Sadie Smith handelt nicht aus einem höheren Rechtsbewusstsein heraus, etwa um Schurk*innen zur Strecke zu bringen und die Welt vor großem Übel zu bewahren. Es ist ihr egal, ob sie, im maßgeschneiderten Kamelhaarblazer (natürlich auf Spesen gekauft), einem amerikanischen Kunsthändler-Ehepaar im Auftrag der Konkurrenz einen gefälschten Picasso unterjubelt. Oder ob sie sich eben in Frankreich einer ökoradikalen Kommune anschließt, um die Mitglieder in eine Aktion zu verwickeln, die der Exekutive eine Schließung der Kommune ermöglicht.Sadies Handeln ist vielleicht frei von Moral, aber sie ist viel zu unkonventionell und smart, um als x-beliebiger Apparatschik eine Karriere im Ausführen von Befehlen zu machen. Sadie verkauft ihre Dienste schlicht an den Höchstbietenden. In einem Roman, der nicht zuletzt den Ursprüngen des Kapitalismus auf den Grund zu gehen sucht – dem Moment, wie Bruno es ausdrücken würde, an dem die Menschen falsch abgebogen sind –, ist das nur konsequent. Sie war früher für die CIA tätig, dann passierte ein Fehler, aber in vielerlei Hinsicht sei „es eine Erleichterung, jetzt im Privatsektor zu arbeiten, wo es keine Supervisoren“ gibt, Logbücher oder Regeln. Vielleicht, wer weiß, hätte Sadie sogar das Potenzial, auf die Seite der Anarchist*innen überzutreten.Der kalte, trockene Wein bringt die Heldin zum TräumenWas Rachel Kushner aus dieser Figurenkonstellation herausholt, kommt ganz ohne abgeschmackte Spionagethriller-Tropen aus. See der Schöpfung ist vielmehr ein klug durchdachter Ideenkrimi, der reale politische Entwicklungen (gegen Mega-Bassins wird in Frankreich tatsächlich erbittert protestiert) mit einer einnehmenden Handlung zu verbinden weiß. Nicht zuletzt ist es, obwohl es seine Sujets durchaus ernst nimmt, ein sensationell komisches Buch. Kushners Humor zeigt sich besonders stark dann, wenn er sich ganz auf die genaue und souveräne Sprache der Autorin verlässt – etwa wenn die Heldin Erstaunliches über den Wein sagt, von dem sie ziemlich viel trinkt, übrigens ohne Klischees eines genuin französischen Gourmettums auch nur anklingen zu lassen:„Dieser kalte, trockene Wein brachte mich zum Träumen von einer Welt, in der meine gesamte Kleidung weiß war und ich auf weißen Laken schlief und nie gegen eine Mitgift getauscht oder von groben, wertlosen Männern missbraucht oder gezwungen werden würde, billigere als die allerfeinsten französischen Weine aus den kleinsten, ältesten und angesehensten Anbaugebieten zu trinken, und irgendwie konnte ich sagen, dass ich dieses Leben tatsächlich führte, genau hier an dieser Tankstelle.“Ohne jeden potenziellen Konflikt einer solchen Gegenüberstellung durchzudeklinieren, beleuchtet der Roman den Generationenwechsel innerhalb sozialer und politischer Bewegungen. Es ist bezeichnend, wie die Aktivist*innen, die einst Brunos Mails empfangen haben wie Evangelien, ihm irgendwann keine Fragen mehr stellen. Und wie er dann einfach weiterschreibt. Ein Monolog, wie in die tiefsten Tiefen einer Höhle hineingeplaudert. Bruno ist Jahrgang 1937, er war 1968 dabei, als Intellektuelle wie Guy Debord (Autor des Buchs Die Gesellschaft des Spektakels) auf die Straße gingen.Bruno ist im Roman ein Wegbegleiter Debords, immer wieder wird er in den E-Mails erwähnt. Der Kommunarde Pascal Balmy, eines von Sadies primären Zielen, wird gar als eine Art junger Guy Debord beschrieben – von anderen, nicht von Sadie selbst, der ewigen Skeptikerin, deren Beruf es erfordert, den Objekten ihrer Beschattungen nahzukommen (sehr nah) und zugleich niemals die Distanz zu verlieren.Das Anliegen der Moulinarden soll auf die TitelseitenBrunos Interesse an Bewegungsgeschichte reicht indes viel weiter zurück als bloß bis ’68. Seine Faszination für die Cagots – eine bis weit ins 19. Jahrhundert hinein diskriminierte Minderheit in Frankreich und Spanien – bringt auch Sadie, eine „gute Schülerin“, dazu, sich mit ihnen zu befassen. Und uns Leser:innen somit ebenfalls. Die Geschichte der Cagots zeigt die brutale Unterdrückung einer wie Paria behandelten Gruppe von Menschen, und sie legt zugleich, auch in Brunos Erzählung, Zeugnis von einer Rebellion gegen die Verhältnisse ab.Obwohl Kushner ihr Genre gegen den Strich kämmt und nicht nach etablierten Drehbüchern vorgeht, hat die Handlung von See der Schöpfung so etwas wie ein Telos, einen Punkt, auf den alles zusteuert: eine Agrarmesse in der Guyenne. Dort soll ein Regierungsvertreter auftauchen – und die Moulinarden haben die Chance, eine spektakuläre Tat zu begehen, etwas, das ihr Anliegen auf die Titelseiten bringen wird. Der Showdown auf der Messe hat einige Überraschungen parat. Vom anfänglichen Tauchgang in die Höhlengänge von Brunos Geist bis zur gekonnten Auflösung hält Rachel Kushners neuer Roman die Spannung, ohne je den Intellekt auf dem Altar der Action zu opfern.See der SchöpfungRachel Kushner Bettina Abarbanell (Übers.), Rowohlt 2025, 480 S., 26 €