Am Morgen des 30. April 1975 sind Stabsfeldwebel Juan Váldez und zehn Soldaten unter seinem Kommando, denen der Schutz der US-Botschaft in Saigon anvertraut ist, die letzten Amerikaner in Vietnam. Sie warten darauf, evakuiert zu werden, die Botschaft ist leer, die US-Flagge eingezogen. Der Hausherr Graham Martin trägt sie unterm Arm, als er einen Hubschrauber besteigt, der ihn auf dem Dach seiner Botschaft aufnimmt und an Deck des Kommandoschiffs „USS Blue Ridge“ im Südchinesischen Meer absetzt.
Gleiches erhofft sich Váldez und wartet mit wachsender Nervosität auf den rettenden Flug. Über den Highway Nr.1 zum Küstenort Vung Tau durchzubrechen und mit einem Boot das Weite zu suchen, verbietet sich. Die nordvietnamesische Armee und die südvietnamesische Befreiungsfront FLN stehen längst dort, wo die letzten Amerikaner nicht mehr hinkönnen. „Da sahen wir plötzlich zwei Rauchwolken“, erinnerte sich Valdez Jahre später. „Als sie sich auflösten, erkannten wir, dass es sich um zwei Hubschrauber handelte. Wir waren erleichtert. Nach Feldwebel Sullivan war ich der Letzte, der einstieg.“ Um 7.53 Uhr Ortszeit heben sie ab.
Gegen 11.30 Uhr durchbricht in Saigon der Panzer mit der Nummer 843 das Gittertor des Präsidenten-Palastes. Kurz darauf unterschreibt Übergangspräsident Duong Văn Minh die bedingungslose Kapitulation: „Es siegen diejenigen, die es verdient haben.“ Der Vietnamkrieg ist nach drei Jahrzehnten entschieden, Saigon wird in Ho Chi Minh-Stadt umbenannt nach dem 1969 verstorbenen Gründer eines unabhängigen vietnamesischen Staates.
Zehn Jahre danach, im Frühjahr 1985, drehen wir eine Fernsehreportage, die dort beginnen soll, wo ein Jahrzehnt zuvor die letzten Amerikaner auf- und ausstiegen – auf dem Gelände ihrer ehemaligen Botschaft. Uns begleitet Ho Ngoc Thuan, einst Offizier in den Diensten Nordvietnams, der auch auf der Reise ins Land dabei sein wird. Es fiel nie leicht, mit Vietnamesen über den Krieg zu sprechen. Die Kollegen des Fernsehens in Hanoi blieben einsilbig, auch wenn man mit ihnen tagelang unterwegs war. Unser Übersetzer Lien – er hatte in Leipzig Germanistik studiert – redete lieber über die Zeit in der DDR als die Jahre des Krieges in seiner Heimar. Was ging das Fremde an? Würden sie verstehen, was man ihnen sagen konnte? Die Souveränität eines Landes ist nicht viel wert ohne Souveränität über die eigene Geschichte.
Ein Jahrzehnt nach der überstürzten Flucht ihrer letzten Bewacher bietet das frühere amerikanische Botschaftsgelände einen von Fernsehbildern her vertrauten Anblick. Das Dach mit dem Landeplatz für Hubschrauber kann ebenso bestiegen wie der Park begangen werden, auf dessen gepflegtem Rasen im Februar 1968 die Leichen der 17 Vietnamesen lagen, die während der Tet-Offensive das Terrain in der Gewissheit stürmten, dies nicht zu überleben. Sie hielten Stunden durch und zeigten, wie verwundbar die Amerikaner an einem Ort waren, an dem sie sich absolut sicher fühlten. Das hinterließ Eindruck. US-Sender wie CBS und NBC übertrugen live, was heute als „Gefecht um das Weiße Haus von Saigon“ überliefert ist.
Im April 1985 residiert auf dem Areal die Ölgesellschaft PetroVietnam. Wer das Geld hat, kann sich mit einem Helikopter zu Bohrtürmen in der Bucht von Vung Tau fliegen lassen. Wir haben es nicht und wollen außerdem weiter nach Norden, hinauf ins Zentrale Hochland, um Pisten in Augenschein zu nehmen, die einst zum Ho Chi Minh-Pfad gehörten, wie die Amerikaner die Lebensader des Nachschubs in den Süden fast ehrfürchtig nannten. Für die Vietnamesen hieß das Netz der Dschungeltrassen „Route 559“, bezogen auf die Frauen und Männer des 559. Armeekorps, die kleine oder große Schneisen durch den Urwald schlugen und in einem befahrbaren Zustand hielten.
Davon scheint wenig übrig zu sein (oder soll fremden Blicken verborgen bleiben). Wohin uns Ho Ngoc Thuan auch dirigiert – die Kamera blickt in eine wilde, urwüchsige Landschaft, die sich zurückholt, was ihr der Krieg genommen hat. Während auf US-Basen wie Da Nang und Khe Sanh noch lange nach 1975 jede Menge Kriegsschrott verrottet und die Vietnamesen das gern vorführen, ist der Ho Chi Minh-Pfad verschwunden, verschluckt, versteckt im Urwald, eine unbefleckte Erinnerung, die zur Legende taugt, weniger zum Lokaltermin. Wir sehen so gut wie nichts, wir finden keine Spuren der Pisten, über die Nacht für Nacht erst Fahrradkolonnen, später Lastwagenkonvois gerollt sind.
Die US-Air Force warf zwischen 1965 und 1973 drei Millionen Tonnen Bomben ab, um diese Routen zu unterbrechen. Die Krater, die verbrannten und entlaubten Wälder müssten irgendwo sein. Nur wo? – Tausende hätten diese Angriffe nicht überlebt, sagt Thuan. „Es gab Tage, da war der Boden am Morgen voller Blut. Überall lagen Leichen. Einigen hatte der Druck der Detonationen die Augäpfel aus dem Kopf gerissen. Oft konnten wir die Toten nicht bestatten, schon gar nicht mitnehmen.“ – „Waren das Soldaten der Armee?“, frage ich – „Nicht direkt, es gab über 200.000 Helfer, zumeist Freiwillige, alle sehr jung, oft nicht einmal 18 Jahre alt.“ – „Weiß man, wie viele je nach Hause zurückkehrten?“ – „Sehr wenige. Es gab keine Briefe aus dem Krieg. Oft wussten die Eltern nicht, ob ihre Kinder noch lebten. Entweder standen sie eines Tages vor der Tür oder kamen nie wieder.“ – „Schreibt die buddhistische Religion nicht vor, dass Tote bestattet werden müssen, weil ihre Seelen sonst herumirren?“ – „Gleich nach dem Krieg sind die Eltern von Vermissten durch den Süden gewandert, um ihre Kinder oder wenigstens den Ort ihres Todes zu finden.“
Thuan bricht ab. Im harten Licht der niederbrennenden Mittagssonne liegt kein Schatten auf seinem Gesicht. Er erzählt, als würde er etwas preisgeben, was er nicht preisgeben will. Als wir am Abend zusammen essen, räumt er ein, man hätte den Krieg anders führen müssen. Die Zahl der Opfer sei zu hoch gewesen. Das Eingeständnis klingt wie ein Zugeständnis an uns, die Unbeteiligten.
Damals hatte ich keine Ahnung davon und stieß erst viel später darauf: Es gab aufgezeichnete Telefonate, die US-Präsident Lyndon B. Johnson mit Vertrauten über den Vietnamkrieg geführt hatte. So Anfang 1966 mit Verteidigungsminister Robert McNamara, der gestand: „Mir macht Angst, was wir dort unten tun. Gott weiß, wie viele Flugzeuge und Feuerkraft gegen halb verhungerte Bettler zum Einsatz kommen. Es besteht die große Gefahr, dass die durchhalten bis in alle Ewigkeit. Wir töten noch nicht genug von ihnen.“
Nach einem Zwischenstopp in Hue kehren wir zurück nach Ho Chi Minh-Stadt und wohnen wie immer im Hotel Caravelle. Wer dort an der Balustrade der Dachterrasse sitzt, schaut auf den Lam Son Platz und das große Theater, vor dem sich 1962 buddhistische Mönche aus Protest gegen das Regime des Präsidenten Ngô Đinh Diêm und seinen frivolen Katholizismus verbrannten. Direkt gegenüber liegt das Hotel Continental mit seinen Kolonnaden, unter denen man einen Pastis oder Vermouth Cassis trinken kann.
An einem der Tische soll der englische Schriftsteller Graham Greene seinen Roman Der stille Amerikaner geschrieben haben, als sich in den frühen 1950er Jahren die Kolonialmacht Frankreich vergeblich an Indochina klammerte. Greene schildert die Geschichte eines Beziehungsdreiecks, gebildet vom britischen Korrespondenten Thomas Fowler, dem amerikanischen Entwicklungshelfer Alden Pyle, der in Wirklichkeit CIA-Agent ist, und der von beiden begehrten jungen Südvietnamesin Phoung. Mit den Figuren begegnen sich das alte Europa, das sendungsbewusste Amerika und ein anlehnungsbedürftiges, verführerisches Vietnam. Nie schließt sich dieses Dreieck. Am Ende ist es zerbrochen. Ahnungsvoll hat Greene im Saigon der Jahre 1952/53 über den amerikanischen Krieg in Vietnam geschrieben, lange bevor der begann.
Die Amerikaner sind zurück
Der eloquente, sehr patente Pyle, der „stille Amerikaner“, spannt Fowler die annamitische Geliebte aus. Je beharrlicher er dabei zu Werke geht, um so klarer wird, dass mit dem bei einem „hinterhältigen Anschlag“ getöteten Liebhaber ein Amerika gemeint ist, das sich an Vietnam vergreift und scheitert. Der tote Pyle wird zum Propheten des großen Sterbens im Namen von Freiheit und Napalm, Antikommunismus, verkohlten Leichen und abgerissenen Beinen. Es beginnt, als ab 1965 unzählige Pyles ins Land strömen und in Vietnamesinnen wie Phoung mehr als eine Sehnsucht zerstören. Im Roman ist Phuong am Ende wieder bei Fowler, um ihm die Opium-Pfeife zu richten und den alternden Geliebten davon träumen zu lassen, dass er Vietnam niemals mehr verlassen wird. L‘Indochine, mon amour.
Im Jahr 1999 erhalten die Amerikaner ihr altes Botschaftsgelände in Ho Chi Minh-Stadt zurück, lassen die Gebäude abreißen und ein Konsulat bauen, das einem Understatement gleichkommt – zwei Stockwerke und schräge Dächer. Dass hier Hubschrauber landen, verbietet sich.