In Deutschland soll nach dem Willen des Verteidigungsministers ein neues Wehrdienstmodell eingeführt werden. Über Geschlechter- und Klassengerechtigkeit wird dabei weniger diskutiert
Illustration: der Freitag
Noch dieses Jahr soll das neue Wehrdienstmodell nach schwedischem Vorbild kommen. So jedenfalls hat es der Noch-Verteidigungsminister Boris Pistorius angekündigt – wenn er denn Verteidigungsminister bleibt. Demnach sollen Männer ab 18 Jahren mittels eines Fragebogens erfasst werden; das Modell, das Wehrdienst-Interessierte ermitteln soll, könnte letztlich helfen, eine allgemeine Wehrpflicht zu vermeiden. Das System soll also auf Freiwilligkeit beruhen, zumal einer allgemeinen Wehrpflicht vor allem die Verfügbarkeit von Ressourcen im Wege stünde: Sie bräuchte Ausbilder, Kasernen, Material. All das ist knapp bemessen beim Bund.
Dieser Tage wird ja viel über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht, eines Gesellschaftsdienstes oder gar die Frage der ‚Geschlechtergerechtigkeit‘ diskutiert. Demnach sei es nun auch für Frauen an der Zeit, der Gesellschaft zu dienen – wir sind hier offensichtlich in einer Bringschuld. Wahlweise eben an der Waffe oder als eine Art Zivi. Interessanter Vorschlag. Wir leben immerhin in einem Land, in dem Abtreibung noch immer nicht legalisiert ist, weil hier ja ein Embryo „getötet“ wird, aber Frauen mittels des Griffs zur Waffe „Selbstverteidigung“ lernen sollen. Ob das wohl auch im Falle fast alltäglicher Femizide helfen würde?
Poverty draft
Bitte entschuldigen Sie meinen Zynismus, doch solche Debatten über Pflichten und Verantwortung junger Menschen, die von einer mehrheitlich überalterten Gesellschaft geführt werden, können leicht zynisch machen. Gerade wenn man Mutter von Söhnen ist, die demnächst wohl derartige Fragebogen ausfüllen sollen. Obendrein wird in der öffentlichen Debatte ein weiterer Gerechtigkeitsaspekt völlig ausgeblendet, der nicht weniger kritisch ist als die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit. Die Klassengerechtigkeit nämlich.
So muss man sich fragen, für welche jungen Männer eine freiwillige Verpflichtung besonders attraktiv erscheint. Vermutlich nicht für diejenigen, die gleich nach dem Abitur studieren wollen oder ein Auslandsjahr planen. Wer dagegen keine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz oder gut bezahlte Arbeit hat, für den mag eine Dienstzeit attraktiv sein. In den USA hat sich dafür der Begriff des „poverty draft“ etabliert. Mit dem Ende der Wehrpflicht und dem aktiven Werben um freiwillige Rekruten begann eine Klassenverschiebung innerhalb der amerikanischen Streitkräfte.
Überproportional viele arme Männer (und Frauen) verpflichten sich freiwillig. Darunter viele Schwarze und Latinos. Nicht nur geringes Einkommen, auch hohe Schulden sind ein motivierender Faktor bei der Verpflichtung fürs Militär. So ergab eine Umfrage des US-Verteidigungsministeriums im Jahr 2017, dass ganze 49 Prozent der Rekruten sich mit dem Motiv verpflichtet hatten, für ihre kostspielige College-Ausbildung aufkommen zu können.
Nun muss man in Deutschland glücklicherweise keine fünfstelligen Summen aufbringen, um studieren zu können. Geschuldete Studienkosten dürften daher kein wesentlicher Faktor für eine Verpflichtung sein. Die Aussicht auf einen relativ guten Lohn freilich durchaus. Vermutlich sind es nicht die Söhne des Lehrerehepaares, die den Bund als attraktiven Arbeitgeber betrachten. Das sollte man über all dem „Gleichheitspathos“ bei der Diskussion um die gesellschaftlichen Pflichten junger Menschen nicht vergessen.
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Mutti Politics
Marlen Hobrack ist Schriftstellerin, Journalistin, Mutter und Autorin der monatlichen Freitag-Kolumne „Mutti Politics“. Ihr Buch Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet (2022) ist gerade in einer Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.