Die Architektin, Widerstandskämpferin und Aktivistin Margarete Schütte-Lihotzky erfand 1926 mit der Frankfurter Küche den Prototyp der modernen Einbauküche. Ihre eigene ist jetzt in Wien zu besichtigen


Aufwendig restauriert: die Küche der Architektin im 5. Wiener Bezirk

Foto: Bettina Frenzel


Im sechsten Stock in einer ruhigen Wohnstraße mitten in Wien erteilt eine winzige Küche eine Lektion in stilvollem Funktionalismus. Jeder Zentimeter ist auf Effizienz ausgelegt, doch der erste Eindruck ist die Wärme, die sie ausstrahlt. Die orangefarbene Rückwand der Küche und die flaschengrünen Schränke mit dem roten Innenleben sind in Tageslicht getaucht, von der Arbeitsfläche aus fällt der Blick über die Dächer.

Die Architektin und spätere Widerstandskämpferin und Aktivistin Margarete Schütte-Lihotzky entwarf 1926 die Frankfurter Küche und damit den Prototyp der modernen Einbauküche. Viele Merkmale sind heute Standard: durchgehende Arbeitsflächen, Einbauschränke und Schubladen, die für die Aufb

r die Aufbewahrung optimiert sind, eine geflieste Rückwand – alles als komplementäre Einheit konzipiert.Ihre eigene Küche kann man jetzt in der ehemaligen Wohnung der Architektin im 5. Wiener Bezirk besuchen. Das dort ansässige Margarete Schütte-Lihotzky Zentrum ließt sie aufwendig restaurieren. Als „spannendes Detektivspiel“ bezeichnet es die leitende Architektin Renate Allmayer-Beck. Sie stützte sich auf zwei Originalpläne sowie auf Fotos, die nach Schütte-Lihotzkys Tod im Jahr 2000 entstanden, und beschaffte Materialien aus ganz Europa.Für Schütte-Lihotzky war Architektur immer politischViele Elemente dieser Küche, die Schütte-Lihotzky in den 1970ern entwarf, sind aus ihrem legendären Entwurf von 1926 übernommen – ein ausklappbares Bügelbrett an der Wand, Schütten für Trockenware in Fächern, Platz für einen Drehhocker unter der Arbeitsfläche und flache Schubladen, die zusätzliche Arbeitsbretter verbergen.Bei der Frankfurter Küche ging es jedoch um weit mehr. Für Schütte-Lihotzky war Architektur politisch. 1897 in eine bürgerliche Familie in Wien geboren, interessierte sie sich schon während ihres Architekturstudiums – als erste Frau in Österreich – für die sozialen Fragen des Wohnungsbaus. Mit Adolf Loos arbeitete sie für die Wiener Siedlungsgenossenschaften. Ihre Arbeit beeindruckte den deutschen Architekten Ernst May so sehr, dass er sie in das städtische Baudezernat in Frankfurt am Main einlud und mit dem Entwurf einer Küche für Sozialwohnungen betraute, die sie als „modernes Labor“ konzipierte. Die Arbeit darin sollte so effizient wie möglich erledigt werden können, damit den Frauen Zeit und Energie für Erwerbsarbeit, Bildung und Freizeit blieb. (So fortschrittlich Schütte-Lihotzky dachte, der Gedanke, dass auch ein Mann häusliche Aufgaben übernehmen könnte, kam ihr nicht in den Sinn.)Von Ernst May wurde die Frankfurter Küche als ein von einer Frau für Frauen geschaffener Raum beworben – denn wer könnte eine Küche besser kennen? Doch das war nur Marketing, schreibt Schütte-Lihotzky in ihren Memoiren Warum ich Architektin wurde: „Ich habe nie einen Haushalt geführt, nie gekocht und verfügte über keinerlei Erfahrung am Herd, bevor ich die Frankfurter Küche entwarf.“ Stattdessen interviewte sie Hausfrauen, führte Studien durch und ließ sich von den Kücheneinheiten in Zügen inspirieren. Das Ergebnis war ein schmaler Raum, in dem eine Frau von der Spüle zum Herd gehen konnte, ohne einen Schritt zu machen, und in dem jedes Utensil und jede Zutat einen bestimmten Platz hatte.1941 wurde sie von der Gestapo verhaftet und kam erst im Mai 1945 frei„Damals gab es nichts Vergleichbares“, sagt Christine Zwingl, Leiterin des Margarete Schütte-Lihotzky Zentrums, „vor allem, wenn man bedenkt, dass es sich um ein soziales Projekt handelte, das in 10.000 Wohnungen installiert wurde.“ Trotz des Fortschritts, den das Design verkörperte, wurde Schütte-Lihotzkys Entscheidung, die Küche aus der Ecke eines gemeinsam genutzten Familienzimmers in einen eigenen Bereich zu verlegen, später von Feministinnen der zweiten Welle kritisiert, weil sie Frauen in der Küche isolierte und die Hausarbeit unsichtbar machte.Placeholder image-1Als sie 1930 mit May und seiner Architektenschar in die UdSSR übersiedelte, um neue Städte für Arbeiter zu entwerfen, tat sie dies unter einer Bedingung – dass sie keine Küchen mehr bauen müsse. Obwohl ihre persönlichen Ideale stark sozialistisch geprägt waren, war sie in jenen Jahren kein Mitglied einer politischen Partei. Dies änderte sich 1938, als sie nach Istanbul zog und der Kommunistischen Partei Österreichs beitrat, um sich am Widerstand gegen die Nazis zu beteiligen, was 1941 zu ihrer Verhaftung durch die Gestapo in Wien führte. Sie entkam nur knapp einem Todesurteil und blieb bis Mai 1945 inhaftiert.Als sie nach Wien zurückkehrte, fiel der Empfang kälter aus als erwartet. „Ihr gesellschaftlicher Zirkel war groß“, sagt Zwingl, „und sie war international gefragt, aber es herrschte der Kalte Krieg. Kommunisten wurden von den Behörden boykottiert.“ Da sie in Österreich keine öffentlichen Aufträge erhielt, arbeitete sie als selbstständige Architektin weiter und beriet Projekte in China, Kuba und der DDR. Als erste Präsidentin des Bundes demokratischer Frauen Österreichs und Mitglied des Österreichischen Friedensrats wurde sie auch zu einer prominenten Aktivistin.Als man ihr 1988 das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst anbot, lehnte sie es wegen der Mitschuld des damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim an den Verbrechen der Nazis ab. Und im Alter von 98 Jahren verklagte sie Jörg Haider wegen Verharmlosung des Holocaust. „Sie trat nie den Rückzug an“, sagt Zwingl. „Es ging immer darum: ‚Was kann ich tun? Wie kann ich es tun?‘ Und dann hat sie es getan.“Dem langen Schatten der Frankfurter Küche entkam sie nie. Im Alter von 101 Jahren rief sie gereizt aus: „Wenn ich gewusst hätte, dass alle immer nur davon reden, hätte ich diese verdammte Küche nie gebaut!“



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Von Veritatis

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