Der Linke-Abgeordnete Gregor Gysi blickt auf seine Herausforderungen im Bundestag: Über das tief sitzende Gefühl der Demütigung in Ostdeutschland, über linke Antworten auf den Imperialismus Wladimir Putins – und die Rede seines Lebens
Gregor Gysi war zwanzig Jahre lang Fraktionsvorsitzender der PDS und dann der Linkspartei, trotzdem ist er einer der beliebtesten Politiker Deutschlands. Oder deswegen? Wir haben mit ihm über seinen langen Weg in der Politik von 1989 bis heute gesprochen, über seine Sicht auf das Russland von heute und seine Erklärung für die Stärke der AfD in Ostdeutschland.
Der Freitag: Herr Gysi, Sie haben am 25. März 2025 den Bundestag als Alterspräsident eröffnet. Es hieß vorab, das sollte die Rede Ihres Lebens sein. Aber muss das nicht eher für Ihre Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 gelten?
Gregor Gysi: Das kann ich gar nicht so einfach sagen. Natürlich war die Rede vom 4. November 1989 etwas Besonderes, weil das meine erste Rede
das sollte die Rede Ihres Lebens sein. Aber muss das nicht eher für Ihre Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 gelten?Gregor Gysi: Das kann ich gar nicht so einfach sagen. Natürlich war die Rede vom 4. November 1989 etwas Besonderes, weil das meine erste Rede überhaupt auf einer Kundgebung war. Damals war die Mauer noch geschlossen, man wusste nicht, wohin die politischen Entwicklungen gehen würden. Da stand ich natürlich unter gewissen Spannungen. Aber diesmal stand ich auch unter Spannungen: Ich wollte einerseits nicht verstecken, ein linker Politiker zu sein, andererseits sollte ich der Alterspräsident aller Abgeordneten sein, was einen Widerspruch auslöste. Aber: Die „Rede meines Lebens“, vielleicht kommt die ja noch.Haben Sie Ihre Alterspräsidentenrede als eine Art politisches Vermächtnis verstanden?Ich wollte vor allen Dingen über Gerechtigkeit sprechen, und zwar auf den verschiedensten Ebenen: einmal in Bezug auf Frieden, auf einen Waffenstillstand in Europa und im Nahen Osten. Und dann in sozialer Hinsicht, in ökologischer Hinsicht, in steuerlicher Hinsicht, in wirtschaftlicher Hinsicht und was das Verhältnis Frau-Mann, das Verhältnis Ost-West betrifft. Ich wollte daran appellieren, dass der Bundestag gerechter werden und anders miteinander umgehen muss. Aber die Reden, die nach meiner kamen, haben das nicht wirklich eingelöst.Sie sitzen seit 1990 im Bundestag. Zu Beginn war das sehr antagonistisch, Sie wurden angefeindet; heute wurde Ihre Rede von den meisten Kollegen sehr respektvoll aufgenommen. Wie weit haben Sie sich den anderen angenähert? Und wie weit sind die anderen auf Sie zugekommen?Letztlich können Sie das besser beurteilen als ich, ich kann Ihnen nur sagen: Mir begegnete anfangs regelrechter Hass, aber ich habe mich bewusst entschieden, nicht zurück zu hassen. So war ich schon aus meinem Elternhaus geprägt. Und meine Arbeit als Anwalt bringt das auch mit sich: Wer es nicht aushält, den Standpunkt des anderen zu hören, ist für die Justiz nicht geeignet. Ich weiß also nicht, ob ich mich den anderen angenähert habe, aber auf jeden Fall habe ich mir über die Zeit eine Akzeptanz erarbeitet.Placeholder image-1Zwischen 1990 und heute war Ihr politisches Projekt immer auch, Akzeptanz und den Respekt nicht nur für Ihre Person, sondern auch für die Bevölkerung in Ostdeutschland zu erarbeiten. Ersteres hat geklappt, Letzteres steht noch aus.Es ist für die Ostdeutschen bislang nicht gelungen. Aber es wird jetzt thematisiert, und zwar auch durch die Wahlergebnisse. Da kannst du arrogant reagieren und sagen, die Ostdeutschen sind einfach doof. Oder du musst dir ernsthaft Gedanken machen, was falsch gemacht wurde, dass so gewählt wird, wie gewählt wurde. Dass die AfD im Osten prozentual noch stärker ist als im Westen, hängt mit dem zusammen, was ich in meiner Rede versucht habe, zum Ausdruck zu bringen: mit dem Fehler, von den Menschen aus dem Osten nichts zu übernehmen, außer dem Ampelmännchen, dem Sandmännchen und dem grünen Abbiegepfeil. Und damit den Leuten zu sagen, dass sie auch nichts anderes geleistet haben. Das sitzt tief, dieses Gefühl der Demütigung.!—- Parallax text ends here —-!Heißt das denn dann, dass Sie politisch gescheitert sind?Meine Leistung besteht in etwas anderem. Ich vertrat die Interessen derer, die kein anderer vertreten wollte: diejenigen, die die Einheit nicht wollten, diejenigen, die wussten, dass aus ihnen nichts wird, und die größte Gruppe, in der sie dachten, dass aus ihnen etwas wird, aus denen aber nichts wurde. Deren Interessen zu vertreten, gleichzeitig zu sagen, ein wenig selbstkritisch müsst ihr auch eure Biografie aufarbeiten, und zugleich dafür zu sorgen, dass sie auch einen Weg in die deutsche Einheit finden, und für all das noch beschimpft zu werden: Das war meine eigentliche historische Aufgabe und die meiner Partei seit 1990.Diese Aufgabe haben Sie und Ihre Partei wahrgenommen, trotzdem liegt die AfD in Ostdeutschland an erster Stelle.Wir haben später auch versucht, die Ostdeutschen insgesamt zu vertreten, weil der Teil der Bevölkerung, der sich missverstanden und auch missachtet fühlte, permanent wuchs. Diese Aufgabe gebe ich bislang nicht auf, sie ist bisher nicht erfüllt. Jetzt haben wir zwar die gleiche Rentenformel, und es gibt immer weniger Ost-Tarifverträge, die ich ohnehin immer grauenhaft fand: zu sagen, du bist Ossi, also verdienst du weniger. Der nächste Schritt wäre, dass es einen Ausgleich bei der Rente gibt: Die Menschen im Osten haben für die gleiche Arbeit geringere Löhne bezogen und beziehen deshalb künftig auch eine kleinere Rente. Da ist noch eine ganze Menge zu tun.Nach Ihrer Rede hat Georg Löwisch in der „Zeit“ kritisch angemerkt, Sie hätten gesteinmeiert. Sie waren ihm zu präsidial, zu wenig angriffslustig.Das ist keine schlechte Formulierung.Sind Sie von Ihrer klaren Systemkritik nicht zu weit abgerückt, wenn Sie nun fast bei der Systemaffirmation landen?Na ja, ich war nun mal der Alterspräsident aller Abgeordneten, das war der Widerspruch. Immerhin habe ich gefordert, die Rüstungsindustrie zu verstaatlichen, damit an Kriegen nicht länger verdient werden kann. Das ist doch eine deutliche Kritik am Kapitalismus! Es war mir wichtig, Kritikpunkte anzubringen, aber ich wollte auch nicht überziehen, ich wollte nicht über den demokratischen Sozialismus sprechen, das hätte ich als daneben empfunden.Ich bin seit 1990 immer direkt gewählt worden, diesmal mit 41,8 Prozent der Erststimmen!Die Mission Silberlocke sollte die Linkspartei vor dem drohenden Aus retten. Das ist gelungen. Haben Sie jetzt das Gefühl, dass Sie Ihre Schuldigkeit getan haben? Dass es jetzt gut ist?Sie müssen eins bedenken: Ich bin seit 1990 immer direkt gewählt worden, ich hatte diesmal 41,8 Prozent der Erststimmen. Ich kann doch die Wählerinnen und Wähler nicht betrügen und jetzt sagen: Das war’s, Weihnachten höre ich auf. Aber auf meinem Wahlplakat stand auch klar und deutlich „Zum letzten Mal“. Auf einem Plakat hat dann einer drübergeschrieben: „Versprochen?“ Das fand ich witzig. Ja, es ist versprochen.Ihr Mandat müssen Sie wahrnehmen. Aber ist das das letzte Mal?Ja, das habe ich gesagt und das meine ich auch so. Selbst wenn die nächste Bundestagswahl verfrüht käme. Beim nächsten Mal müssen sie es ohne mich schaffen.Wir nähern uns dem 80. Jahrestag des Kriegsendes, dem 8. Mai. Das war ein wichtiger Tag in der DDR, es ist heute ein wichtiger Tag und der 9. Mai ist ein wichtiger Tag in Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion. Dort wird man an den Zweiten Weltkrieg erinnern, zugleich ist Wladimir Putin offenbar nicht willens, einem Waffenstillstand in der Ukraine zuzustimmen.Das zeigt eben die ganze widersprüchliche Entwicklung seitdem. Putin denkt in Bezug auf die ehemaligen Sowjetrepubliken imperialistisch. Die Balten hat er aufgegeben, aber den ganzen Rest nicht. Der Westen hat sich auf den Wettbewerb eingelassen und ringt genauso um die Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ich glaube, dass der Waffenstillstand erst kommen kann, wenn der letzte ukrainische Soldat russisches Territorium verlassen hat. Außerdem will Putin noch mehr vom Donezk-Gebiet erobern, bevor es eine Waffenruhe gibt. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Sowjetunion nun mal die meisten Opfer gebracht hat im Zweiten Weltkrieg und neben den USA, Großbritannien, Frankreich und anderen einen wesentlichen Beitrag auch zu unserer Befreiung geleistet hatWenn Sie recht haben mit der Einschätzung der Strategie Russlands als imperialistisch, wie kann Deutschland, der Westen darauf reagieren?Das Einzige, was uns einfällt, ist Aufrüsten, Aufrüsten, Aufrüsten. Wir geben das ganze Geld der nächsten Generationen für Aufrüstung aus. Aber ich bin überzeugt: Putin hat nicht vor, einen NATO-Staat anzugreifen. Er will die Zuständigkeit für die ehemaligen Sowjetrepubliken haben, was man ihm so nicht zubilligen kann, aber er beabsichtigt nicht, die NATO anzugreifen. Deshalb halte ich diese Politik für falsch. Wir sollten zurückkehren zur Deeskalation, zu gegenseitiger Abrüstung und vorwiegend auch zur strikten Wahrung des Völkerrechts durch alle Seiten.Der Westen hat beim Krieg gegen Serbien mit der Verletzung des Völkerrechts begonnen; ich habe schon damals gesagt: Das wird Schule machen. Nach dem Irakkrieg, dem Afghanistankrieg, ist das Völkerrecht heruntergewirtschaftet worden. Es funktionierte nur, solange es durch die Sowjetunion und die USA ausgehandelt wurde, weil die es dann einhalten mussten und das von den anderen auch verlangen konnten. Wir müssen wieder zurückkehren zum Völkerrecht. Es gibt keinen anderen Weg.Foto: Nikita Teryoshin für der Freitag