Bei einer etwaigen Feuerpause stellen sich brisante Fragen. Wann gibt es Wahlen? Was wird mit den verbotenen Parteien?


Wolodymyr Selenskyj teilt die Gewissheit von Benjamin Netanjahu: Ein Kriegsende wird das Amt kosten

Foto: Adreinne Suprenant/Laif


Wolodymyr Selenskyj spricht sich unter dem Druck von Donald Trump für einen Waffenstillstand im Krieg mit Russland aus. Noch Ende November 2024 hatte er einen NATO-Schutzschirm für den von seiner Armee kontrollierten Großteil des Landes als Vorbedingung für ein Schweigen der Waffen verlangt.

Vorläufig ziehen sich die Verhandlungen über eine belastbare Feuerpause noch hin, doch je wahrscheinlicher die wird, desto drängender werden für viele Ukrainer Fragen, die der Krieg bisher verdrängt hat. Präsidentenwahlen, die turnusmäßig im Mai 2024 hätten stattfinden müssen, wurden auf unbestimmte Zeit vertagt. Eine Waffenruhe ließe unweigerlich fragen, wann eine solche Abstimmung nachgeholt wird, verbunden mit der Entscheidung

tscheidung, welche Kandidaten aus welchen Parteien teilnehmen dürfen.Nach Beginn des russischen Einmarschs Ende Februar 2022 wurden elf Parteien verboten, von den Kommunisten über die Sozialistische Partei bis hin zur eher pazifistischen „Oppositionsplattform – Für das Leben“, die dafür warb, den Konflikt mit Russland durch Verhandlungen zu lösen. Wer seine Legalität verlor, hatte das in der Regel dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat zu verdanken, der vorzugsweise linke Parteien auf den Index setzte. Nationalistische und rechtsextreme Gruppierungen hingegen wie das „Nationale Korps“ blieben verschont und mobilisierten für das Vaterland.Mit einem Ende der Kämpfe stünde womöglich auch das Ausreiseverbot für Männer unter 60 Jahren zur Disposition. Dabei ist bisher völlig offen, ob es eine Amnestie für Ukrainer gibt, die sich dem Kriegsdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben. Wenn es zu einem Waffenstillstand kommt, dürfte der Europarat ebenso gefragt sein wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die jede Menge Erfahrung mit Wahlbeobachtern in Osteuropa hat.Autoritäres System in KiewBevor in westlichen Regierungen und ihrer Entourage Kritik an Kiew zum Sakrileg wurde, hatten Analytiker in Berlin der Ukraine einen Trend ins Autoritäre bescheinigt. In einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), welche die Bundesregierung berät, hieß es im Oktober 2021, es sei Wolodymyr Selenskyj „gelungen, während seiner Amtszeit die eigene Macht und die des Präsidentenbüros ständig auszubauen“. Der Staatschef habe – so die Studie „SWP-Aktuell Nr. 63“ – „Gefolgsleute in Schlüsselpositionen gebracht“ und „die Rolle von Institutionen in der Ukraine weiter geschwächt“.Diese Praxis hat sich im Krieg weiter verstärkt, nur sind die Begutachter in Berlin verstummt. Dabei hatte das zunehmend autoritäre System in Kiew auch die Funktion, Kritiker der Korruption zum Schweigen zu bringen. Ebenfalls im Oktober 2021 zeigten die unter anderem von der Süddeutschen Zeitung publizierten „Pandora Papers“, dass Selenskyj Einnahmen aus seinem TV-Serienprogramm Kwartal 95 in Höhe von etlichen Millionen Dollar auf Offshore-Konten deponiert hatte. Diese fanden sich auf den Virgin Islands, in Belize und Zypern.Mit der wachsenden persönlichen Macht Selenskyjs gerieten seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 die Medien in einen immer engeren Meinungskorridor. „Frontnahe Regionen“ wurden 2023 zu „gelben Zonen“ erklärt, in denen sich Korrespondenten nur noch flankiert von Presseoffizieren aufhalten durften. Zusätzlich entstanden „rote Zonen“, aus denen niemand mehr berichten konnte. Der internationale Journalistenverband „Reporter ohne Grenzen“ setzt die Ukraine mittlerweile in Sachen Pressefreiheit auf Rang 61 unter 180 Ländern.Die Organisation erwähnt die Gefahren für Journalisten durch den Krieg und russische Besatzungstruppen, vermerkt allerdings ebenso, dass bereits vor den Kampfhandlungen zahlreiche Medien in der Ukraine einflussreichen Politikern und Oligarchen gehörten. Zeitungen und TV-Sender seien daher immer wieder als „Mittel im Kampf um wirtschaftliche und politische Macht“ missbraucht worden. Sie würden „oft schamlos zur Manipulation zugunsten unternehmerischer Interessen, für Wahlwerbung oder für politische Projekte ihrer Eigentümer eingesetzt“.Druck auf JournalistenUkrainische Journalisten kritisieren des Öfteren Übergriffe des Inlandsgeheimdienstes SBU. Dies berichtete im Mai 2024 Oleksiy Sorokin, stellvertretender Chefredakteur des einflussreichen englischsprachigen Mediums Kyiv Independent der österreichischen Zeitung Der Standard. Der SBU versuche „alles unter seine Kontrolle zu bringen“, es fehle im Lande ein „angemessenes System von Checks und Balances“. Dass sich in dieser Hinsicht nichts gebessert hat, zeigte im Oktober 2024 ein öffentlicher Hilferuf der Website der beliebten Internet-Zeitung Ukrajinska Prawda. Die Redaktion beklagte den „anhaltenden und systematischen Druck“ des Präsidialamts auf die Redaktion. So ließ die Selenskyj-Administration die Zeitung von Veranstaltungen ausschließen und übte Druck auf Werbekunden aus, Buchungen für die Ukrajinska Prawda zu unterlassen.Das ukrainische Institut für Massenmedien (IMI) sammelt neben Berichten über Repressionen auch Fälle, in denen staatliche Stellen Journalisten Informationen verweigern. Ein Beispiel dafür sind mit einer Ablehnung bedachte Anfragen, Auskünfte über Auslandsreisen von Rada-Abgeordneten zu erhalten. So kommen nur selten Vorfälle ans Licht, die das verdient haben. Im Juli 2023 etwa hatte Juri Aristow, Deputierter der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“, einen Aufenthalt in einem Fünf-Sterne-Hotel auf den Malediven als Dienstreise abgerechnet. Aristow war Vizevorsitzender des Parlamentskomitees für nationale Sicherheit.Zwar wurde ihm das Mandat nach dem Skandal entzogen, doch Journalisten in Kiew haben seither kaum mehr die Möglichkeit, dem Gebaren ihrer reiselustigen Abgeordneten nachzugehen. Das wäre ein Fall für die OSZE-Medienbeauftragten. Diese haben freilich – nachdem sie noch 2015 den Mord an dem ukrainischen Journalisten Oles Buzyna, einem Gegner des Euromaidan, scharf verurteilt hatten – keine öffentliche Stellungnahme zur Medienpraxis der Ukraine mehr abgegeben.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert