Von konservativen Stimmen werden linke Vereine und Organisationen gerne als radikal stigmatisiert. Dabei wird jedoch verdrängt, wie stark unsere Gesellschaft in zerstörerische Praktiken gegen alles Lebendige verstrickt ist
In der Art und Weise, wie wir mit den Tieren umgehen, erkennt man den versteckten Radikalismus
Foto: Tommaso Ausili/Contrasto/Laif
Die Tierschutzorganisation PETA ist es, die Letzte Generation, die Proteste im Hambacher und Dannenröder Forst waren es, die Partei Die Linke soll es sein, ebenso wie die Omas gegen Rechts: radikal! Aber am Ende kann dieser Vorwurf jeden treffen, der sich gegen die herrschenden Strukturen und Praktiken dieser Gesellschaft wendet.
Das Adjektiv „radikal“ hat seinen etymologischen Ursprung im lateinischen „radix“. Es bedeutet „bis auf die Wurzel zurückgehen“, „von Grund auf“, „gründlich“. Erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, unter dem Einfluss der Französischen Revolution, erfährt dieser Begriff seinen bis heute gültigen Wandel ins Politische und ist seither eher negativ konnotiert. Er bedeutet jetzt
;. Es bedeutet „bis auf die Wurzel zurückgehen“, „von Grund auf“, „gründlich“. Erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, unter dem Einfluss der Französischen Revolution, erfährt dieser Begriff seinen bis heute gültigen Wandel ins Politische und ist seither eher negativ konnotiert. Er bedeutet jetzt so viel wie „extrem“, „kompromisslos“ und „gegen die bestehende Ordnung gerichtet“. Somit eignet er sich hervorragend als Totschlagbegriff gegenüber missliebigen Menschen oder Organisationen. Ist man erst einmal als radikal eingestuft, hat man sich aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft verabschiedet. Nicht selten wird man aus den herrschenden Diskursen ausgeschlossen und mit allen Mitteln bekämpft.Imperiale LebensweiseDer Vorwurf der Radikalität wird in der Regel von denen erhoben, die sich selbst als gemäßigt ansehen. Aber genau dieser vermeintlich gemäßigten Mitte der Gesellschaft entgeht, dass sie selbst tief in oftmals radikal auftretende soziale, ökonomische, gesellschaftliche und herrschaftliche Verhältnisse verstrickt ist, ohne diese hinreichend zu reflektieren.Dazu gehört vor allem die Tatsache, dass unser Wohlstand im Rahmen neokolonialer Strukturen durch die Ausbeutung von Mensch und Natur zu großen Teilen andernorts und auf Kosten anderer erwirtschaftet wird. „Wir leben“, so hat es der Soziologe Stephan Lessenich ausgedrückt, „nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse der anderen.“ Ulrich Brand und Markus Wissen haben für diese Praktiken den Begriff der „imperialen Lebensweise“ geprägt. Diese sei „ein wesentliches Moment in der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften. Sie stellt sich über Diskurse und Weltauffassungen her, wird in Praxen und Institutionen verfestigt, ist Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft und im Staat. Sie basiert auf Ungleichheit, Macht und Herrschaft, mitunter auf Gewalt und bringt diese gleichzeitig hervor.“Die meisten von uns nehmen das nicht nur stillschweigend hin, sondern befürworten diese Lebensweise in aller Regel, da sie ihnen wesentliche Vorteile und viele Annehmlichkeiten verschafft. Doch jeder Kauf eines SUV, jede Flugreise und jede Kreuzfahrt (um nur einige Beispiele zu nennen) ist ein aggressiver und radikaler Akt, der dazu beiträgt, diese Welt bis zum Ende dieses Jahrhunderts in Teilen unbewohnbar zu machen.Millionen ÜberschusstiereDiese Praktiken von Macht, Herrschaft und Gewalt unserer Gesellschaft zeigen sich am deutlichsten in der Art und Weise, wie wir mit den Tieren umgehen. Jedes Jahr werden allein in Deutschland circa 2,5 Millionen Tiere in Versuchslaboren für wissenschaftliche Zwecke missbraucht und circa ein Viertel von ihnen getötet. Dazu kommen Millionen sogenannter Überschusstiere, für die es keine Verwendung gibt und die deshalb ebenfalls getötet werden. Auch im Zuge der Corona-Impfstoffforschung wurden viele Experimente an Tieren durchgeführt.Laut dem wissenschaftlichen Fachmagazin Embo Reports wurden allein in den ersten 17 Monaten der Pandemie 61.389 Versuchstiere für 102 Forschungsprojekte in Deutschland genehmigt. In anderen Ländern stellt sich diese Bilanz noch wesentlich schlimmer dar. Am 18. April 2021 rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bundesweit zu einem Corona-Gedenktag auf. Dass in diesem Zusammenhang die Tiere, die durch ihr Opfer erst die Herstellung des Impfstoffes ermöglicht haben, mit keinem Wort erwähnt wurden, sagt viel über das moralische Selbstverständnis einer Gesellschaft aus, die es vorzieht, sich nicht mit ihren destruktiven Praktiken und der damit verbundenen Schuld zu konfrontieren.Und natürlich ist auch jede Form der Massentierhaltung ein Akt radikaler Missachtung des Lebendigen. In Deutschland liegt der jährliche Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch zurzeit bei rund 52 Kilogramm. Hinter diesen 52 Kilogramm verbergen sich lebendige Wesen mit Bewusstsein und Gefühlen, die so wie wir auch ein Recht auf ein gutes Leben haben. Laut Statistischem Bundesamt wurden im Jahr 2024 in den deutschen Schlachtbetrieben 48,7 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde sowie 693,3 Millionen Hühner, Puten und Enten geschlachtet. Diese Tiere werden innerhalb eines maschinell ablaufenden Prozesses nicht mehr als unsere mit Würde ausgestatteten Mitgeschöpfe betrachtet, sondern als fleischgewordene Objekte unserer Gier innerhalb eines gnadenlosen kapitalistischen Systems der Ausbeutung und Gewinnmaximierung. Unsere Kultur, schreibt die französische Philosophin Corine Pelluchon, ist eine Kultur des Todes. „Sie gründet sich auf Mord, aber sie kann es sich nicht eingestehen.“Der FlugverkehrForschern ist es 2021 gelungen, Embryonen zu züchten, die sowohl aus menschlichen Zellen als auch aus Zellen von Affen bestehen. Man will besser verstehen, wie sich Gewebe und Organe bilden. Doch auch wenn es die betreffenden Wissenschaftler verneinen, besteht das langfristige Ziel darin, in diesen Mischwesen Organe für den Menschen zu züchten. Lebende Ersatzteillager für eine Gesellschaft, die das Lebendige zerstört und den Tod fürchtet wie kaum eine Gesellschaft vor ihr.Die Radikalität dieser Gesellschaft zeigt sich somit in Praktiken, deren destruktive Konsequenzen offensichtlich sind, aber ausgeblendet werden. Auch der Flugverkehr spricht eine eindeutige Sprache: 2024 starteten von deutschen Flughäfen fast eine Million Flüge. Die 22 deutschen Hauptverkehrsflughäfen haben dabei rund 199,5 Millionen Fluggäste gezählt. Damit hat sich das Passagieraufkommen im Vergleich zu 2023 um 7,7 Prozent erhöht. Die Emissionen dieses Sektors stiegen im Vergleich zu 2023 um vier Prozent. Obwohl nur rund zehn Prozent der Weltbevölkerung fliegen, ist der Flugverkehr für fünf Prozent der globalen Erwärmung verantwortlich, Tendenz steigend.Um die globale Temperatur-Erhöhung auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen, dürfen bis 2050 durchschnittlich erlaubte jährliche Pro-Kopf-Emissionen von rund 2,7 Tonnen CO2 nicht überschritten werden. So hat es der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Budgetansatz aus dem Jahr 2009 festgelegt. Laut Umweltbundesamt liegt der Ausstoß an Treibhausgasen pro Person in Deutschland derzeit im Durchschnitt bei 10,3 Tonnen. Dass die CO2-Emissionen der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung bei weitem höher liegen, muss kaum extra betont werden. Nur nebenbei bemerkt: Ein Flug von Deutschland auf die Kanarischen Inseln und zurück verursacht pro Person einen Ausstoß von circa 1,8 Tonnen CO2.Warum tun wir das alles? Weil wir uns vor dem Hintergrund der weitgehend unsichtbar gemachten Voraussetzungen unserer Weltanschauung schlicht und einfach das Recht dazu nehmen. So besteht unsere Gesellschaft zu großen Teilen aus Vertreterinnen und Vertretern einer radikalen Ideologie, die derartige Praktiken voll unterstützt. Es geht hier nicht darum, zu moralisieren, die genannten Probleme können am Ende nicht auf individueller, sondern nur auf politischer und gesellschaftlicher Ebene gelöst werden. Was nicht bedeutet, dass nicht jeder von uns durch sein Handeln die Dinge zum Besseren verändern kann und Verantwortung für die Konsequenzen seines Handelns trägt. Es sollte lediglich gezeigt werden, dass sich ein großer Teil unserer Gesellschaft, der sich selbst für gemäßigt hält, in Wahrheit einer radikalen Lebensweise verschrieben hat und diese Tatsache weitestgehend ignoriert.Wer also in Zukunft den Vorwurf der Radikalität erhebt, sollte sich vorher sehr genau überlegen, von welchem Standpunkt aus er das tut. Denn radikal ist nicht zwangsläufig derjenige, der sich gegen die herrschenden Strukturen und Praktiken dieser Gesellschaft wendet und diese aufgrund ihrer offensichtlich destruktiven Konsequenzen in Frage stellt, sondern eine Gesellschaft, die glaubt, ihr zerstörerisches Lebensmodell ohne wesentliche Veränderungen (business as usual) auch weiterhin fortsetzen zu können.Eckart Löhr ist Autor des Buches Die Würde der Natur. Plädoyer für einen radikalen Perspektivenwechsel (oekom 2023)