Steile These, böser Reinfall. Auf der neuen ICE-Rennstrecke in Baden-Württemberg sollen täglich 17 Güterzüge verkehren. Nur so rentierte sich das Projekt, hatten einst die Macher ermittelt. Leider verrechnet: In zweieinhalb Jahren ist nur ein einziger Zug übers Gleis gerollt und das auch nur „zum Spaß“. Kein Witz: Auf dem Abschnitt herrscht eine zu starke Steigung. Die schaffen nur Leichttransporter, von denen es aber keine gibt. Das kostet Nerven – und vier Milliarden Euro. Von Ralf Wurzbacher.
Hans-Jörg Jäkel ist ein „privilegierter“ Bahnfahrer. Davon gibt es in der heutigen Zeit bekanntlich nicht viele. Am 28. Januar 2024 war ihm die Ehre zuteil geworden, die Neubaustrecke (NBS) zwischen Wendlingen und Ulm in einem Güterzug zu befahren, „mehr so zum Spaß“ und weil der „Lokführer ein guter Freund“ sei, wie er den NachDenkSeiten sagt. Jäkel engagiert sich in einem Verein für historische Eisenbahnen und organisiert dabei Touren mit ausgefallenen Fahrzeugen auf ausgefallenen Routen. Und irgendwie „ausgefallen“ ist auch der neue Abschnitt in Baden-Württemberg, der unterhalb von Stuttgart 60 Kilometer in den Südosten stößt. Ausgefallen – für den Warentransport. In den zweieinhalb Jahren seit seiner Einweihung war auf ihm nur ein einziger Güterzug unterwegs, eben der, in dem Jäkel saß. Insofern war sein Trip nichts weniger als museumsreif.
Aber warum? „Damals war Lokführerstreik, es ist so gut wie nichts gefahren“, schildert er. Deshalb der Entschluss: „Rollen wir doch mal über die Neubaustrecke, und nicht wie sonst über die Geislinger Steige.“ Dabei kam den Beteiligten ein entscheidender Umstand zupass. „Wir waren leicht, nur 600 Tonnen bei 400 Metern Länge, bloß leere Kesselwagen, auf dem Weg zur Wartung.“ Dazu muss man wissen: Bei 1.000 Tonnen ist Schluss. Gespanne mit höherem Gewicht haben auf der Strecke nichts verloren. An manchen Stellen beträgt das Gefälle drei Prozent. Die Steigung ist einfach zu steil für schwere Gefährte. ICEs und andere Personenzüge haben dagegen keine Probleme, so wenig wie Güterzüge, die kurz sind oder nur leichte Fracht befördern, zum Beispiel Schaumstoff, Styropor oder Luft, wenn es zur Werkstatt geht.
Unbegrenzte Möglichkeiten
Offenbar hatten die Verantwortlichen genau diese Zielgruppe im Sinn, als sie den Bau der NBS projektierten. Damit sich die Unternehmung rentiert, also am Ende gewinnbringend ist und kein finanzielles Desaster, sollte und müsste die Strecke auch vom Frachtverkehr genutzt werden. Die Berechnung der Wirtschaftlichkeit erfolgte im Jahr 2010 unter Ägide des damaligen Bundesverkehrsministers Peter Ramsauer (CSU). Die Zielmarke von 1,0 wurde nur erreicht, indem leichte Güterzüge in die Kalkulation Eingang fanden. Unterstellt hatte man dabei einen Nutzeneffekt in Höhe von 750 Millionen Euro, wodurch der Wert hoch auf bis zu 1,5 kletterte. Ohne Güterzüge wären es 0,92 gewesen, wie dieser Tage etwa der Münchner Merkur festhielt. Bei dieser Größenordnung hätte es kein grünes Licht geben dürfen.
Aber die Macher wollten unbedingt grünes Licht. Und die Profiteure wollten Geld machen, wovon es bei Gesamtausgaben von 3,99 Milliarden Euro reichlich gab. Anfangs waren nur zwei Milliarden Euro veranschlagt, die sich aber auf die übliche wundersame Weise vermehrten. Die NBS Wendlingen–Ulm ist eine Komponente von Stuttgart 21, dem Bahnprojekt der unbegrenzten Möglichkeiten – was Inkompetenz, Kostenexplosionen und zeitlichen Verzug anbelangt. Und krumme Sachen: Allein die Filstalbrücke, ein Herzstück der NBS, geriet vier Mal teurer als geplant und der Verdacht der Korruption steht im Raum. Über den Stand der Ermittlungen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft drang allerdings länger nichts mehr an die Öffentlichkeit.
Auf der schiefen Bahn
Jedenfalls sollten eigentlich täglich 17 leichte Güterzüge über die NBS brettern, womit es nach Eröffnung am Jahresende 2022 inzwischen über 15.000 hätten sein müssen. Dagegen wirkt ein einziger ziemlich kläglich. Und weitere Bestellungen gibt es nach Auskunft der Bahn auch nicht. Das Problem brachte unlängst Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann gegenüber Tagesschau.de auf den Punkt: „Diese leichten Güterzüge gibt es nicht und wird es wahrscheinlich auch nicht geben.“ Er selbst habe miterlebt, „wie die Strecke im Bundestag schöngerechnet wurde“. Hermann hat gut reden. Damals gehörte der Grünen-Politiker noch zur Opposition im Bundestag und gerierte sich als erbitterter Gegner von S21. Aber seit dem gescheiterten Volksentscheid vor bald 14 Jahren zieht er das Irrwitzprojekt an prominenter Stelle gegen alle Widerstände durch. So kennt man die Grünen …
Und die Konzernbosse bei der Deutschen Bahn (DB)? Die mögen es vorzugsweise größenwahnsinnig und buddeln sich für teures Geld durch jeden Hügel. Aber muss das sein? „Sinnvollerweise werden Tunnel dort gebaut, wo Höhenzüge unterfahren werden, um große Steigungen zu vermeiden“, erläutert Tom Adler von „Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene“. Die NBS zwischen Wendlingen und Ulm verläuft auf fast der Hälfte der Länge unter Tage – zu zwölf Tunneln kommen noch 37 Brücken –, was angesichts des Aufwands eine Klimasünde ersten Ranges ist. „Aber bei dieser Trasse vergrößert sich die Steigung sogar noch gegenüber der Bestandsstrecke“, bemerkt Adler gegenüber den NachDenkSeiten. Wendlingen–Ulm wurde ausdrücklich zur Entlastung einer alten Linie in der Nähe realisiert, der Geislinger Steige. Auf der verkehren laut DB-Auskunft derzeit pro Tag aber immer noch bis zu 65 Güterzüge. Warum nur? Durch den schicken Bypass um die Ecke strömen nur ICEs und „Deutschlands schnellster Regionalverkehr“, aber leider nichts, was schwerer ist. Halbleere Güterzüge rechnen sich betriebswirtschaftlich nicht. Dumm gelaufen!
Auf die alte Tour
Bahnromantiker Jäkel hat eine weitere Erklärung parat. Auf der NBS sind nur Loks mit dem modernen Zugleitsystem ETCS (European Train Control System) zugelassen. Die Technik soll im Rahmen einer umfassenden Digitalisierungsoffensive über kurz oder lang auf dem gesamten deutschen Schienennetz etabliert werden. Eher wird es länger dauern, denn inzwischen hat die DB-Führung ihre hochfliegenden Pläne auf Eis gelegt. Vor allem wegen ausufernder Kosten. Allein die Ausstattung der Züge wird laut einem Spiegel-Bericht vom Juli 2024 auf 38 Milliarden Euro taxiert. Sechs Jahre davor habe sich die Schätzung noch auf „vier Milliarden Euro“ belaufen.
Würde man alle Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) zur Umrüstung nötigen, triebe das insbesondere die vielen kleinen Anbieter in den Ruin. „Für die lohnt sich das einfach nicht“, weiß Jäkel. Die „Lösung“ könne deshalb nur sein, auch neue Schienenwege auf die alte Tour zu bestücken, „also überall Doppelausrüstung, alte und neue Technik nebeneinander“. Nicht so zwischen Wendlingen und Ulm. Der Abschnitt läuft unter „ETCS-Level-2-Strecke ohne Signale nach Baseline 3“, die „erste“ ihrer Art in Deutschland. Es könnte auch schon die letzte gewesen sein.
Eine Minute für 200 Millionen Euro
„Diese Neubaustrecke wurde überhaupt erst durch bewusstes Faktenleugnen und gezielten Betrug möglich“, meint Werner Sauerborn vom „Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21“. „Diese Methode soll bei weiteren S21-Tunnelprojekten fortgesetzt werden, und es gibt Überlegungen, dafür den Schuldenfonds von 500 Milliarden Euro anzuzapfen.“ Sein Mitstreiter Dieter Reicherter ergänzt:
„Dass diese Güterzüge eine Erfindung sind und dort nie fahren würden, war allen Fachleuten bekannt. Bei der jetzigen Planung für den Pfaffensteigtunnel wird genau wieder so verfahren.“
Angefressen ist auch Carl Waßmuth vom Bündnis „Bahn für alle“. „Die NBS ist nur ein Beispiel für die vielen kurzen Beine der vielen Lügen rund um S21“, beklagt er im Gespräch mit den NachDenkSeiten. „Aber hinterher recht behalten, hilft wenig, wenn alles schon gebaut ist.“ Er hat trotzdem noch Hoffnung, dass der oberirdische Kopfbahnhof in Stuttgart „noch zu retten“ sei. „Jetzt, wo wir wissen, dass die Berechnungen zum Tiefbahnhof auch in Bezug auf Wendlingen–Ulm gefakt waren, haben die Verantwortlichen ein Kommunikationsproblem mehr.“
Von wegen. Grünen-Verkehrsminister Hermann hat bereits die neue Sprachregelung gesetzt. Korruption, Missmanagement, Geldverschwendung – alles halb so wild. Letztlich blieben „zum Glück für die Fahrgäste die Vorteile für den Nahverkehr“: also ein Bahnhalt mehr in Merklingen und 20 Minuten weniger Fahrzeit mit dem ICE zwischen Stuttgart und München. Das sind bloß 200 Millionen Euro pro Minute oder 3,333 Millionen Euro pro Sekunde. Der Steuerzahler hat schon für viel mehr Geld viel weniger bekommen. Danke!
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