Marco Beckendorf ist Bürgermeister der Gemeinde Wiesenburg/Mark in Brandenburg. Er stemmt sich gegen den Niedergang, macht Schulden und baut die Wirtschaft von unten neu auf. Porträt eines Politikers mit aufgekrempelten Ärmeln

Anfang 2017 dröhnt plötzlich ein Hubschrauber über Wiesenburg. 4.200 Menschen leben hier im Südwesten Brandenburgs, 80 Kilometer von Berlin. Der Lärm der Rotorblätter dröhnt aggressiv, dann landet die Maschine neben der Werkhalle von „Fläming-Quellen“, einem der beiden großen Arbeitgeber im Ort. Seit Jahren füllen hier rund 30 Beschäftigte Mineralwasser ab, etwa 130.000 Flaschen im Jahr.

Aus dem Hubschrauber steigt ein Mann im Anzug: der Geschäftsführer der Altmühltaler Mineralbrunnen aus Bayern. Er ruft die Belegschaft zusammen. Die Fabrik gehöre jetzt ihm, sagt er. Es müsse Zugeständnisse geben, sonst werde es nicht weitergehen. Die Arbeiter*innen unterschreiben. Einen Tag später ist trot

r ist trotzdem alles vorbei: Die Fabrik wird geschlossen. „Marktbereinigung“, sagen die Expert*innen.15 Gehminuten entfernt folgt bald der nächste Schlag. Der US-Konzern Lincoln Electric schließt die Drahtzieherei, ein Traditionsbetrieb, in dem seit den 1960er Jahren Draht hergestellt wird. 37 Menschen verlieren hier ihre Arbeit. Auch dieser Betrieb hatte erst vor kurzem den Besitzer gewechselt. Er schrieb schwarze Zahlen, stemmte die meisten Gewerbesteuern in der Gemeinde.Placeholder image-7„Das war wie eine zweite Nachwendeerfahrung“, erinnert sich Marco Beckendorf. Der 43-Jährige ist Bürgermeister von Wiesenburg, Mitglied der Linken und selbst in einer brandenburgischen Kleinstadt aufgewachsen. Zum Zeitpunkt der beiden Stilllegungen war er gerade zwei Jahre im Amt. „Da konnte ich zum ersten Mal nachempfinden, wie sich meine Eltern damals gefühlt haben.“Die Leute fahren jeden Tag mit ihren Autos an den Industriebrachen vorbei, auf denen sie jahrzehntelang gearbeitet habenHeute, an einem sonnigen Märztag, sitzt Beckendorf am Steuer seines schwarzen Familienwagens und fährt durch die Gemeinde. Er hat dunkle Haare und ist frisch rasiert, trägt weißes Hemd zur Krawatte. „Die Leute fahren jeden Tag mit ihren Autos an den Industriebrachen vorbei, auf denen sie jahrzehntelang gearbeitet haben“, sagt er. „Das macht etwas mit der Stimmung – und mit dem Wahlverhalten.“Placeholder image-6Was er meint: Bei der Bundestagswahl holte die AfD in der Region um die 30 Prozent. Und auch in Wiesenburg gibt es Brachen. Nach der Wende hatte die Gemeinde ein Drittel ihrer Einwohner*innen verloren, 30 bis 40 Prozent waren arbeitslos. Noch heute liegt das Einkommen 20 Prozent unter dem brandenburgischen Durchschnitt. Beckendorf lächelt plötzlich. „Aber wir versuchen hier ja, die offenen Wunden der Nachwendezeit zu schließen.“!—- Parallax text ends here —-!Willkommen im KoDorfBeckendorf blüht auf. Stolz zeigt er jetzt im Vorbeifahren aus dem Fenster, auf Ruinen, Baustellen, renovierte Gebäude. „Das da gehört jetzt uns. Das haben wir gekauft. Und das haben wir ersteigert.“ Der Bürgermeister rechnet vor: 150.000 Quadratmeter Entwicklungsfläche hat die Gemeinde in den vergangenen Jahren erworben. „Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen, sondern darauf, auf sie vorbereitet zu sein“ steht auf einem riesigen Plakat mitten im Ort. Viele der Projekte haben Vorbildcharakter. Allen voran die alte Drahtzieherei, ein Komplex aus mehreren Gebäuden, nun wieder im Besitz der Gemeinde. Schutt liegt auf dem Gelände, die größte Halle steht leer, ein einsames Absperrband hängt am Boden. Hier soll bald das meiste abgerissen werden. Und dafür, so Beckendorfs Vorstellung, ein moderner Gewerbe- und Industriepark entstehen. Mit Handwerksbetrieben, Büroarbeitsplätzen, Lagerhallen, schnellem Internet. In einem Gebäude baut ein Zimmermann bereits Hauswände aus Holz und Stroh. „Unser Ziel ist es, unsere eigenen Leute zu befähigen“, sagt Beckendorf.Placeholder image-10Für den Bürgermeister ist es ein Fehler, dass das nach der Wende versäumt wurde. „Das wäre doch der cleverste Schachzug gewesen: Die Leute übernehmen ihre Betriebe selbst, und der Staat springt als Bürge ein, anstatt alles westdeutschen Firmen zu geben.“In den 1990er Jahren gab es tatsächlich alternative Ideen. Die IG Metall schlug beispielsweise vor, die Treuhand in eine Industrieholding umzuwandeln. Statt Ausverkauf und Zerschlagung hätte so vielleicht ein Großteil der Betriebe gerettet werden können. Parlamentarische Mehrheiten dafür gab es nicht, zu schwach waren die Gegner*innen der Treuhand.Placeholder image-1Direkt neben dem Bahnhof – der nach der Stilllegung bereits 2010 von einer Bewohner*innengenossenschaft übernommen wurde – befindet sich das alte Sägewerk. Eine Ruine, die seit den 1990er Jahren verfällt. Auf dem Gelände ringsum entstehen 40 kleine Holzwohnhäuser, an verschiedenen Stellen ragen bereits farbige Wände aus dem Boden. In das Sägewerk sollen Gemeinschaftsräume einziehen, eine große Küche, ein Veranstaltungssaal, ein Co-Working-Space. Das Wohnprojekt ist genossenschaftlich organisiert und trägt den Namen KoDorf: eine Verbindung aus Kuhdorf und Kooperation. „Wir haben uns entschieden, unsere Flächen bevorzugt an gemeinwohlorientierte Unternehmen zu vergeben“, sagt Beckendorf.Wenn wir Einwohner*innen verlieren, haben wir jedes Jahr weniger Geld und alles wird automatisch schwierigerPlaceholder image-3Ein paar Kilometer weiter führt der Bürgermeister durch den „Exile Media Hub“, einen weiß gestrichenen und renovierten Plattenbau. In der DDR war hier eine Ausbildungsstätte für Betriebskampfgruppen, heute leben im Gebäude 30 geflüchtete Medienschaffende. Es gibt Studios für Podcast- und Videoproduktionen, kleine Werkstätten und Büros. Vor Ort zeigt ein Geflüchteter das ferngesteuerte Auto, das er gebaut hat, im Nebenraum läuft ein 3D-Drucker.Marco Beckendorf schwebt ein weiteres Wohn- und Ausbildungszentrum vor, dann im Pflegebereich. „Die Flüchtlinge bewerben sich auf unsere Einrichtung“, erklärt er sein Konzept. So würden sie nicht in eine Gemeinde kommen, in der sie eigentlich nicht sein möchten. „Zukünftig soll es vor Ort eine Ausbildung mit Sprachkurs geben und mit Bestehen von beidem auch eine Jobgarantie in der Region.“Noch schrumpft die Bevölkerung in Wiesenburg, wenn auch seit einigen Jahren langsamer. „Wenn wir Einwohner*innen verlieren, haben wir jedes Jahr weniger Geld und alles wird automatisch schwieriger“, sagt Beckendorf. Der Bürgermeister verfolgt verschiedene Strategien, um den Trend umzukehren: Großstädter*innen nach Wiesenburg locken. Kindern schöne Erinnerungen schaffen, damit sie bleiben. Geflüchteten eine Perspektive bieten. Und die Weggezogenen zurückgewinnen. Zwei Jugendliche laufen mit ihrem Hund nicht weit entfernt durch den Wald. „Es gibt zu viele Baustellen hier, aber sonst gefällt es uns“, sagt die 16-jährige Melinda.Placeholder image-4Doch Beckendorf weiß: Die Menschen bleiben nur, wenn es Infrastruktur und Arbeitsplätze gibt. Wie kommt das Geld dafür zusammen?Seit 12 Jahren im Dispo„Wir nutzen eine Art Grauzone“, sagt Beckendorf und lächelt. Nach seinem Amtsantritt musste er zunächst die Ausgaben kürzen, um einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen zu können. Dann begann er, Kredite zu beantragen – die Kommunalaufsicht lehnte wegen der Finanz- und Strukturschwäche seiner Gemeinde ab. Doch Beckendorf, der Regionalwissenschaften studiert hat, ließ nicht locker. „Ich konnte zeigen, dass wir dauerhaft leistungsfähig sind – eine Woche später hatte ich die Genehmigung.“ Seit zwölf Jahren lebt die Gemeinde nun im Dispo – und investiert trotzdem.Placeholder image-8Beckendorf beruhigt: „Wir haben nicht nur Schulden, sondern auch Anlagevermögen.“ Höhere Löhne der Gemeindeangestellten bedeuteten am Ende auch immer höhere Steuereinnahmen. Und der Wert der Grundstücke sei durch die Investitionen im Ort insgesamt gestiegen. Wenn die Gemeinde wolle, könne sie ihr Eigentum wieder verkaufen. „Dann hätten wir zwar einen ausgeglichenen Kontostand, aber wem wäre damit geholfen?“Investieren, um zu wachsen – eigentlich eine klassische marktwirtschaftliche Strategie. Doch Schuldenbremse, neoliberaler Zeitgeist und enge kommunale Spielräume verhinderten vielerorts genau das. „Als kleine schrumpfende Kommune waren wir eben mutiger – auch, weil von allein hier nichts passiert.“Aber Geld allein reicht nicht. Fördermittel müssen beantragt, Partnerschaften geschlossen, Pläne geschmiedet werden. „Ich brauche eine fähige Verwaltung, die organisiert dann selber das Geld“, sagt Beckendorf. Der Bürgermeister hat Stellen aufgestockt, neben ihm gibt es jetzt vier Regionalmanager im Rathaus.Das pittoreske Gebäude gleich neben dem Schloss Wiesenburg erstrahlt in gelbem Fachwerk. Drinnen, in Beckendorfs Büro, hängt ein Flachbildschirm mit Touchscreen. Vernetzte Felder sind darauf zu sehen, drückt man auf eines, gibt es Informationen zu einem Projekt der Gemeinde. Auf einem Flyer im Raum steht „Wir befinden uns in einer fernen Zukunft – das sind die Abenteuer des ländlichen Raums“. Wiesenburg leistet inzwischen Amtshilfe für die dreimal so große Kreisstadt Bad Belzig.Beckendorf ist überzeugt, dass sein Modell auch in anderen Kommunen funktioniert. Aber es könnte einfacher sein. Beckendorf ist überzeugt, dass sein Modell auch in anderen Kommunen funktioniertPlaceholder image-9Kürzlich hat er einen Beitrag veröffentlicht, in dem er für eine „progressive kommunale Schuldenbremse“ wirbt. Die Idee: Kommunen sollen sich im Rahmen ihrer „jährlichen Einnahmen“ genehmigungsfrei für Investitionen verschulden dürfen. Je mehr Einnahmen sie perspektivisch erzielen, desto mehr Darlehen dürfen sie aufnehmen. Das Land würde die Zinsen übernehmen, die Kommunen könnten die Kredite langfristig tilgen. Auch finanzschwache und verschuldete Kommunen könnten so mehr investieren und Handlungsspielräume zurückgewinnen. Gemeinsam mit der Linkspartei-Ko-Vorsitzenden Ines Schwerdtner legte er zusätzlich einen sieben Punkte umfassenden „Rettungsplan für die Kommunen“ vor. Kernpunkt ist dort eine bessere Beteiligung an den Steuereinnahmen.Und das Sondervermögen der neuen Bundesregierung? „Das bringt nur Einmaleffekte, die Aufhebung der Schuldenbremse muss unser Ziel sein.“Basisdemokratie gegen FaschismusBeckendorf sitzt in seinem Büro und trinkt langsam einen Kaffee aus einem Steinkrug mit der Aufschrift „Wiesenburg“. Sein Konzept hätte noch einen weiteren Vorteil: „Die kommunale Selbstverwaltung und damit die Basisdemokratie würde gestärkt.“ Die Kredite könnten mit Zustimmung der Gemeindevertretung eingesetzt werden, um auf konkrete Bedürfnisse vor Ort zu reagieren. Ja, er selbst sei 2022 als linker Bürgermeister mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt worden. Aber dass es brodelt, sei offensichtlich.Der Kampf um die Demokratie – er wird auch in Wiesenburg geführt. In der Gemeindevertretung sitzt die AfD bislang nicht, am Versammlungssaal neben dem Rathaus hängt fast beiläufig ein Regenbogentransparent. „Der Trend ist der gleiche wie in der Region, nur nicht ganz so ausgeprägt“, sagt Beckendorf.Placeholder image-2Er überlegt. „Um ehrlich zu sein: Der Kampf gegen die AfD steht für mich nicht im Mittelpunkt, es ist eher der Praxistest einer progressiven Geldpolitik.“ Der demokratische Aspekt sei somit gleich eingepreist: „Zentral ist, dass die Einwohner*innen in Beteiligungsverfahren selbst bestimmen, was mit den gekauften Flächen passiert.“ Das könne Demokratiefeindlichkeit und Faschismus zurückdrängen.Zentral ist, dass die Einwohner*innen in Beteiligungsverfahren selbst bestimmenDie Stärke der AfD macht Beckendorf Sorgen. Doch mit Blick auf Ostdeutschland insgesamt sieht er mehr als Defizite. „Wir werden schon wieder abgeschrieben, dabei sind wir völlig unterbewertet.“ Moderne Anlagen, geringe Pro-Kopf-Verschuldung, viele Ideen. „Wenn wir jetzt Geld in die Hand nehmen, können wir unsere Zukunft nachhaltig sichern“, sagt der Bürgermeister. Das gelte für alle ländlichen Regionen in Ostdeutschland. „Ich sehe hier eigentlich nur Chancen.“Auch für die Drahtzieherei gibt es eine neue Chance. Nach Jahren des Stillstands wurde eine neue Betriebsgenehmigung erteilt. Die Drahtwerke Wiesenburg GmbH ist gegründet – um wieder Schweißdraht zu produzieren, wie einst. Der neue Geschäftsführer hat selbst zwanzig Jahre im Werk gestanden, wie zuvor sein Vater und Großvater. Wenn alles gut läuft, beginnt in zwei Jahren die Produktion, diesmal C02-neutral. Dann wäre eine Wunde geschlossen, die lange offen gelegen hat.Offene WettePlaceholder image-5Doch ob Beckendorfs Wette aufgeht, ist noch offen. Bereits der bisherige Weg war holpriger als gedacht: Coronakrise, steigende Kosten, lange Genehmigungsverfahren, Rezession. Wiesenburgs Ausgaben sind aktuell wieder größer als die Einnahmen. Zugleich hat die Kommune etwas, das anderswo fehlt: eine Idee davon, wie es gehen könnte. Und den politischen Willen, es zu versuchen. „Unser Plan ist, dass wir zwischen 2027 und 2030 die Kurve kriegen“, sagt der Bürgermeister. Vieles, was lange abstrakt war, wird langsam greifbar.!—- Parallax text ends here —-!Beckendorf ist vorsichtig zuversichtlich. „Die Skepsis ist da – aber alle wollen jetzt sehen, ob es klappt.“ Wenn es gelingt, wird nicht nur eine kleine Kommune in Brandenburg wieder wachsen. Sondern auch das Gefühl, dass sich etwas ändern kann.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert