Nahe Brandenburg an der Havel gibt es ein Dorf, das heißt Göttin. Wer auf der ersten Silbe betont, liegt falsch. Das Kaff ist eher gottverlassen als heilig. Göttin also, endbetont. Dran entlang fließt ein Bach. Am Dorf vorbei gehen Gleise. Viermal am Tag fährt eine Kleinbahn, früh, vormittags, nachmittags, abends. Mancher im Ort hat keine Uhr. Oder kennt nicht die Uhr. Jedermann aber kennt die Züge. Und so weiß jeder, der hier lebt, vier Mal am Tag, wie spät es ist. Anfang April 1945 hocken Kinder, Frauen, die Alten, der Hofhund und mit allen die Angst nachts im Keller auf Holzscheiten und Briketts. Denn „der Russe kommt“. Wann? Heut oder morgen. Warte, warte nur ein Weilchen. Plötzlich durchfährt ein Schlag Haus und Ort und Mark und Bein. Wehrmachtssoldaten haben die Brücke gesprengt, worauf die Bahn den Bach überquerte. Das soll den Vormarsch der Russen hindern. Dabei kommen die gar nicht mit der Bahn. Jede Scheibe im Haus ist entzwei, und eine Lokomotive pfeift tagelang noch im Ohr. Die Bahn fährt niemals wieder. Tinnitus. Und alle Uhren stehen still. Stunde Null.
Bald darauf, am 9. Mai 1945, läuten landauf, landab Glocken. Laut künden sie vom Ende des Kriegs in Europa. Nicht in Asien. Dort werden noch Atombomben fallen. Aber in Frankreich, in Großbritannien, den Niederlanden, in Belgien, Österreich, in der Sowjetunion erklingt Friedensgeläut. Der Feind ist vernichtet, „Gitler kaput“. Auch das Ende der Shoah ist gewiss, nun endlich! Den Deutschen selbst schlägt die „Stunde Null“.
Wer wo den Begriff aufbringt, ist nicht bekannt. Sein Ursprung scheint mir aber doch klar: Am eben anbrechenden 9. Mai 1945, in der Gespensterstunde zwischen null und 1 Uhr, beurkunden Militärs in Berlin-Karlshorst das formale Ende Hitlerdeutschlands. Dessen Generalität stimmt zu, ohne Wenn und Aber. Wenn das nicht Deutschlands „Stunde Null“ ist? Was sonst.
Der Begriff jedoch löst sich von seiner konkreten Bindung sofort, dehnt die Zeit über Wochen, hebt ab und wird zum geflügelten Wort. Deutschland im Aus, in der Auszeit, in der Auslöschung, das meint das Wortpaar fortan. Den Ruin und die Ruinen. Geflüchtete, Obdachlose, Verlorene. Die Nackten und die Toten des Jahrhundertsommers 1945. Denkt der Begriff die in den KZs Erschlagenen, Vergasten, die auf der Flucht Erschossenen mit? Etwa so, wie der Klassiker Johann Gottfried Herder, der Mann mit dem offenen Blick nach Osten, in Weimar einst der Opfer der Inquisition gedachte – nichts ahnend von Buchenwald gleich hinterm Haus und Auschwitz in Polen: „Eure Asche ist verflogen, eure Gebeine sind vermodert; aber die Geschichte der an euch verübten Gräuel bleibt eine ewige Anklägerin der in euch beleidigten Menschheit.“ Tut der Begriff das? Nein.
Geschlagen und (wider Willen) befreit stehen sie, Volk der Dichter, Denker, Henker und Autoerfinder, schweigende Mehrheit, in der Talsohle ihres Geschicks. Wissen nicht, was kommt. Erwarten die Beschlüsse der Sieger. Und sehen auf sich selbst. Jeder folgt seinem Überlebensinstinkt. Denn das große Hungern beginnt jetzt. Und zwei todkalte Winter stehen bevor. Man irrt umher in Gigatonnen von Schutt, wo einmal Städte waren. Wird das je einer wieder aufbauen? Wie soll das gehen?
Die Stunde Null, weiblich, nimmt sich tröstend der verwundeten arischen Seele, die jetzt wieder die deutsche heißt, an. Schließt sie in den Arm. Und über dem Schauspiel läuten die bereits erwähnten Glocken, mächtig-gewaltig. Wie heißt’s beim Nationaldichter Friedrich Schiller? „Wenn die Glock’ soll auferstehn / Muss die Form in Stücke gehn.“ Generalissimus Josef Stalin dekretiert: „Die Hitler kommen und gehen. Das deutsche Volk bleibt.“
Null. Das Nichts. Restlose Leere. Unsere Vorstellung vermag es nicht zu fassen. Denken wir an etwas, denken wir an Etwas, nie an nichts. Unser Hirn aber, blitzgescheit, kapiert sofort: Wo das Nichts ist, ist keine Schuld. Genau deshalb macht der Begriff steil Karriere.
Auch in die nahe Vergangenheit greift er. Den Westen haben Wochen vor der Kapitulation bereits Alliierte besetzt. Und? Sehen wir hier etwas ganz und gar Neues beginnen? In Wuppertal vielleicht. Die Arbeiterstadt befreit sich aus eigener Kraft. Am 13. April stehen Männer aus der Wehrmacht und Zivilisten gemeinsam gegen Nazis auf der Straße, kämpfen, vergießen Blut, siegen. Sie bilden einen Stadtrat und eine antifaschistische bewaffnete Polizei. Erwarten so die US-Truppen. Die kommen drei Tage später und setzen eine Militärregierung ein. Diese entwaffnet sofort die Polizei. Geht gegen die Antifa, die den Aufstand führte, vor. Das freie Wuppertal ist eine besetzte Stadt wie andere auch.
Oder Schwarzenberg, die „Republik“? Nun wieder vorwärts in der Zeit: 42 Tage nach der Geisterstunde in Karlshorst erst kommen Truppen in das Gebiet im Erzgebirge. So lange bleibt es „frei“. Stefan Heym hat über die Zeit zwischen den Mächten einen utopisch-sozialistischen Roman verfasst. In der Realität aber wird da kein Traum wahr. Nüchtern organisiert man das Nötige, antifaschistische Verwalter kümmern sich. Man ersucht sowohl die amerikanische als auch die sowjetische Seite um Besetzung, um endlich an Notrationen zu kommen. Kein Mensch denkt an eine eigene Verfassung oder Währung. Und die Sowjets, als sie schließlich kommen, sind nicht die Sowjets der revolutionären Arbeiterräte und aufständischen Matrosen von einst, natürlich, sondern es ist Rote Armee unter Stalins weiser Führung. Viele in den Not-Ämtern Tätigen dürfen weitermachen. Unter Stalins weiser Führung, versteht sich.
Bedruckt, überstempelt werden in Schwarzenberg und anderorts Briefmarken. Das ist praktikabel – woher so schnell was anderes nehmen für den Postverkehr – aber doch ein schönes, in der Tat kleines Bild einer „nullten Stunde“: der Führer mit Balken überm Profil. Halt die Klappe, Hitler. Geh uns aus den Augen.
Den großen Bildersturm erzwingen die Besatzer. Jetzt werden überall Hakenkreuze heruntergeschlagen, antisemitische Aufenthaltsverbote aus Sitzbänken gekratzt, Straßen umbenannt. Aber ach, was wird geweint in Jungszimmern, was werden Tränen vergossen in Mädchenkammern um das geliebte Führerbild!
Niemandem soll hier nachgesagt sein, er oder sie habe nicht inne und mit sich Rat gehalten und dann beschlossen, ganz und gar neu anzufangen. Die Existenzialisten, deren große Zeit jene Zeit war, meinen, der Mensch, zur Freiheit verurteilt, könne jederzeit sich neu erfinden. Eine teuflisch verlockende Utopie. Aber nein. Kann er nicht. Er bleibt gebunden. Gerade die „Stunde Null“ zeigt es. Und die Trümmerfrau ist deren Gestalt. Sie packt an, reicht der Kameradin den Eimer, ohne nach Schuld zu fragen, sie räumt auf, basta.
Schnell ist die Entwicklung im Osten der im Westen nicht mehr vergleichbar. Ein scharfer, oft tödlicher Schnitt mit Nazis da, die Tendenz zum Live-and-let-live dort; und natürlich die große Lineare, die Herrschaft des Kapitals. In Kürze wird in der Trizone der Krupp-Konzern neuaufgestellt ins Geschäft zurückkehren. Seine Aktien gehen ad hoc durch die Decke. Ihr Wert steigt vom Mai 1949 zum September 1951 von 5,75 auf 78 Mark. Um 1.250 Prozent. Krieg gewinnt immer. An der Börse.
In der DDR bleibt die „Erzählung vom schweren Anfang“, als das Neue das Alte niederrang, Legitimations-Legende. Anders als andere Geschichtslektionen aber ist sie nicht komplett unpopulär. Erzählt sie doch vom Einsturz aller Regeln, dem Ende des unerträglich Gewohnten, vom Abenteuer der Möglichkeiten.
Am Boden, zu Tode erschöpft
Keine „Stunde Null“ also, nirgends? Hier vielleicht: Dass es urplötzlich still gewesen sei, berichten viele Berliner. Kein Kampflärm. Das kannten die Ohren nicht mehr. Und da – wieder der 9. Mai, die Sonne geht auf – liegen sie. Um den Reichstag. Im Tiergarten zwischen Maiglöckchen. Am Boden, zu Tode erschöpft. In ihren Klamotten, stinkend, die Waffe unterm Bauch. Sowjetische Soldaten, nicht verreckt auf den Seelower Höhen, nicht umgekommen in Pankow oder noch ganz zuletzt „Unter den Linden“. Schlafende, gebettet in eine Stille, für die sie um ein Haar ihr Leben ließen. Das ist die „Stunde Null“, da ist sie.
Oder kommt sie fünf Jahrzehnte später erst, 1994, für die Nachfahren dieser Soldaten auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg? Von der feierlichen Abschieds-Parade, wo Briten, Franzosen, Amerikaner paradierten, waren sie ausgeschlossen. Jetzt hocken sie, kein Tisch, kein Stuhl weit und breit, schon wieder am Boden, halten ihre Teller, dazu eine Scheibe Brot in Händen und löffeln irgendeine Suppe. Der Zug wartet am Bahnsteig. Abzug der Besatzer. „Dieser Krieg war umsonst“, sagt einer ins Mikrofon des rbb, „dieser Sieg war umsonst.“ Ihr ewig besoffener Präsident Jelzin hat sie zuletzt vor dem Roten Rathaus torkelnd noch einmal gründlich blamiert. Der Westen lacht sich schlapp. Ist das das eigentliche Aus und Vorbei des Zweiten Weltkriegs? Den Deutschland dann doch gewann, schlussendlich, irgendwie? Der Russe muss wieder verlieren lernen, sagt man heute gern.