Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Alexander Schweitzer betätigt sich seit 19 Jahren als Berufspolitiker, inzwischen steht er im 52. Lebensjahr und darf seit dem letzten Juli das Amt des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz bekleiden. Zudem gehört er der SPD an und ist gelernter Jurist – man darf darüber streiten, ob diese Punkte eher für oder gegen ihn sprechen. In jedem Fall war er qualifiziert genug, um zum Anlass der Bundeskanzlerwahl vom 6. Mai 2025 im „WELT TALK“ seine Sicht der Dinge zu präsentieren.
Und die war pointiert genug, um das Interesse des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu erwecken, sofern dieses Amt seine Bezeichnung wirklich verdiente. Auf die Frage des Moderators, was denn seine persönliche Erklärung sei für das, was da heute im Bundestag passiert sei – gemeint ist das Scheitern des Kandidaten Friedrich Merz im ersten Wahlgang – antwortet er zunächst lapidar: „Ich hab’ gar keine. Weil mit so was ist nicht zu rechnen, und insofern habe ich auch keine Erklärung dafür.“ Mit der Verfassung hat das zwar noch nichts zu tun, bemerkenswert ist es trotzdem. Sollte man nicht bei einer demokratischen Wahl, die nicht gerade nach den Methoden der Demokratischen Volksrepublik Korea vorgenommen werden, stets mit „so was“ rechnen: nämlich mit einer Niederlage? Zur Wahl anzutreten impliziert nicht unbedingt, automatisch gewählt zu werden, auch wenn es in der Welt eines altgedienten Sozialdemokraten anders aussehen mag. Im Übrigen scheint Schweitzer der Auffassung anzuhängen, man müsse nur etwas erklären, womit man gerechnet hat, und wenn „mit so was nicht zu rechnen“ ist, kann man keine Erklärung liefern. Die ist aber, worum es auch gehen mag, erst recht nötig, wenn etwas Unerwartetes geschieht, denn bei Umständen und Vorgängen, mit denen man ohnehin gerechnet hat, wird niemand mehr nach Erklärungen suchen. Sowohl das Demokratie- als auch das Logikverständnis des Ministerpräsidenten erscheinen eigenartig.
Es geht aber noch weiter, kein Politiker versinkt nach einer so kurzen Aussage in meditative Stille. „Ich kann nur sagen“, meint er weiter, „all die, die gedacht haben, sie spielen mal ein bisschen Schicksal, waren verantwortungslos.“ Man reibt sich etwas verwundert die Augen. Die Abgeordneten des Bundestages spielen unablässig Schicksal, indem sie Gesetze verabschieden, die in das Leben und damit in das Schicksal der Bürger eingreifen. Wie sonst soll man beispielsweise das erbärmliche Heizungsgesetz einordnen? Abgeordnete können allenfalls dann vermeiden, Schicksal zu spielen, wenn sie jede Tätigkeit einstellen, und selbst dann hätte das Vermeiden unsinniger Gesetze Einfluss auf das Schicksal der Menschen. Man könnte fast glauben, dass Schweitzer sich über das Berufsbild des Abgeordneten noch nicht so recht klar geworden ist.
Aber warum waren denn die bösen Abweichler verantwortungslos? Man erfährt es sogleich. „Das war wirklich verantwortungslos, weil wenn du Bundestagsabgeordneter bist, gehörst einer Koalition an, dann weißt du in diesem Moment, was dein Job ist: nämlich Teil des Teams zu sein.“ In der Volkskammer der DDR mag das so gewesen sein, im Deutschen Bundestag sollte es, wenn man das Grundgesetz einigermaßen ernst nimmt, anders zugehen. Denn was macht den „Job“ eines Abgeordneten aus? In Artikel 38 des Grundgesetzes kann man es nachlesen. „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Als Vertreter des ganzen Volkes betrachtet das Grundgesetz die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, mit Weisungen und Aufträgen haben sie nichts zu tun, und unterworfen sind sie nur ihrem Gewissen. Wer dagegen „Teil des Teams“ ist, der hat sich dem Team anzugleichen, hat sich der Teamleitung zu unterwerfen und zu tun, was man von ihm erwartet. Das ist das genaue Gegenteil der verfassungsmäßigen Stellenbeschreibung eines Abgeordneten. Immerhin könnte ein Abweichler in seiner Vertretung des ganzen Volkes – und nicht nur der Koalition, zu der er „gehört“ – zu der Auffassung gelangen, sein Gewissen verbiete es ihm, Friedrich Merz zum Bundeskanzler zu wählen, und da er an Aufträge und Weisungen, auch an solche der Fraktionsführung, nicht gebunden ist, muss er somit gegen Merz gestimmt haben. Genau das ist sein „Job“. Den Abgeordneten dagegen zum subalternen „Teil des Teams“ zu degradieren, widerspricht dem Grundgesetz in jeder Hinsicht: es ist verfassungswidrig. Wo bleibt der Verfassungsschutz, wenn man ihn endlich einmal brauchen könnte? Nun ja, wir alle wissen, wo er bleibt.
Wer aber nicht Teil des Teams sein wolle, so der gestandene Sozialdemokrat weiter, der hätte sich „vorher schon mal melden müssen“. Tatsächlich? Der Abgeordnete muss melden, dass er seiner Pflicht nachkommt und nach seinem eigenen Gewissen entscheiden will? Er muss allen Ernstes kundtun, dass er mit allem Möglichem vom Koalitionsvertrag bis hin zur eigenen Partei nicht einverstanden ist? Anscheinend muss er das, denn wir hören: „Wenn du es nicht machst und dann in einer geheimen Stimmabgabe machst, dann ist das ein ganzes Stück verantwortungslos, auch feige“, immerhin schlage so etwas Wellen, auch international, und: „Ich halte es deshalb für wirklich verantwortungslos, auch nicht klug mit Blick auf das gemeinsame Ziel.“ Ganz hat der Ministerpräsident wohl das Wesen einer geheimen Wahl nicht verstanden. Genau um Repressalien durch die Leitung des „Teams“ oder durch sonstige Politiker und Journalisten aller Art auszuschließen, erfolgt die Wahl zum Bundeskanzler in geheimer Abstimmung – nur so ist gewährleistet, dass zumindest die wenigen Abgeordneten, die sich noch an den Artikel 38 des Grundgesetzes halten wollen, es auch können. Feige waren nicht die Koalitionäre, die Merz ihre Stimme verweigert haben, sondern im Gegenteil die Doppelabweichler, die innerhalb weniger Stunden feststellen mussten, dass ihr Gewissen sich wohl im ersten Wahlgang getäuscht habe und Merz offenbar der Kanzler sei, den man als „Vertreter des ganzen Volkes“ wählen müsse.
Doch in einem hat Schweitzer recht. Das Verhalten der Abweichler war sicher „nicht klug mit Blick auf das gemeinsame Ziel.“ Natürlich nicht, denn das gemeinsame Ziel besteht erstens darin, sich ungehindert die nötigen Posten zu verschaffen, damit man zweitens Privilegien genießen und drittens freigiebig Steuergelder an interessierte Gleichgesinnte verteilen und selbstverständlich viertens die unerwünschte Opposition in Gestalt der AfD klein halten oder besser noch vernichten kann. Da können Abweichler, die zumindest hin und wieder noch an das Volk denken, das sie vertreten sollen, nur stören.
„Der Verfassungsschutz“, so teilt uns diese Behörde mit, „sorgt im Bund und in den 16 Ländern für die Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ Ministerpräsidenten, die eher freihändig mit dem Grundgesetz umgehen, gehören allem Anschein nach nicht zu seinem Aufgabenbereich.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: Screenshot Youtube
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