Mit ihrer Kolumne „Liebe, Phantasie und Kochkunst“ im „Magazin“ brachte Ursula Winnington (1928–2025) Eleganz in die Küchen der DDR und glich so manchen Mangel aus. Auch ihre Nachbarin, die Autorin Franziska Hauser, hat sie verzaubert
Wie jede Frucht ein Unikat: Ursula Winnington (1928–2025) im Garten
Foto: Franziska Hauser
Die Zutaten für Ursels Rezepte, auf der letzten Seite des Magazins, waren damals genauso schwer erhältlich wie das Magazin. Deshalb gab es den Witz, dass es eigentlich egal ist, wenn es beim Fleischer kein Lammkotelett gibt, weil es ja am Kiosk eh kein Magazin gebe.
Obwohl in unserer Küche gewürzt wurde mit allem, was in Ursels Garten zu finden war, roch es nie so gut wie bei ihr. Was es genau war, diese Mischung aus Gewürzen, Gemüsen, Gehölzen, altem Fachwerk, Mauerwerk und Küchenfliesen, war nie herauszufinden. Es war ein Geheimnis. Ursel hatte mir, dem Nachbarskind, ihr Kräuterbeet gezeigt. Mir und meiner Freundin, die ihre Enkelin war. Oregano, Thymian, Rosmarin, Salbei, Minze, Melisse waren leicht zu finden. Ich sollte die Spitzen abzupfen u
n war. Oregano, Thymian, Rosmarin, Salbei, Minze, Melisse waren leicht zu finden. Ich sollte die Spitzen abzupfen und durfte nehmen soviel ich wollte. Aber jedes Mal hatte ich das Gefühl, die Kräuter würden sich wohler fühlen in Ursels kundigen Händen, wären dort eher bereit, ihr Aroma herzugeben als in meiner Kinderhand, aus der ich die kleinen Blätter zerknittert auf unser Küchenbrett fallen ließ.Für uns Kinder war Ursel nicht erwachsen. Sie konnte spielen, und so machte sie auch ihre RezepteNach dem Essen ging ich wieder nach nebenan, in der Hoffnung, dass man dort endlich fertig wäre mit Kochen und Essen. Das dauerte alles viel länger als bei uns.Wenn ich Glück hatte, saß Ursel auf der Terrasse mit einer Tasse schwarzem Tee, lächelte mich an und hatte alle Zeit der Welt. Ich bekam erst mal etwas zu essen. Eine besonders süß duftende Birne, ein paar Himbeeren, schwarze Johannisbeeren, oder Walnüsse. Aus Ursels Händen schmeckte alles besser. Alles war wertvoll und besonders. Jede Birne ein Unikat.Für uns Kinder war Ursel gar nicht erwachsen. Sie konnte spielen und so machte sie auch ihre Rezepte. Sie spielte mit dem, was sie am liebsten hatte, mit allem was essbar war. Mit Wurzeln, Pflanzen, Früchten, Gewürzen, Gemüsen, Getreide, Fleisch, Fisch und Salaten. Dass sie aus allem etwas Besonderes machen konnte, schienen die Früchte zu spüren, wenn sie in ihren schönen Händen lagen, besehen, befühlt und berochen wurden mit einer Leidenschaft, die allem Essbaren eine Huldigung war. Dass sie groß geworden war, im Krieg als es wenig gab, förderte ihre Fähigkeit zu erfinden, was das Leben schön und wertvoll machen konnte.Ursel ließ sich etwas einfallen für eine Bevölkerung, die oft genug ratlos vor den Kaufhallenregalen standDie DDR konnte die Vielfalt nicht aufbringen, die man sich wünschte, als anspruchsvolle Köchin und als Mutter, die ihrer Familie nicht nur Gesundes, sondern auch Interessantes vorsetzen will. Ursels Erfindungen waren gefragt. Sie ließ sich was einfallen für eine Bevölkerung, die oft genug ratlos vor den Kaufhallenregalen stand. Sie erfand nicht nur Rezepte, sondern glich den Mangel einfach mit Geschichten und Anekdoten aus. Ursel hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Alltag mit müheloser Eleganz zu betrachten und machte den mühsamen Hausfrauenalltag leichter.Früher sei sie eine Femme Fatale gewesen. Ihr erster Mann hatte es uns verraten. Wir wussten nicht, was das ist, aber es musste etwas damit zu tun haben, dass Ursel hofiert wurde, wo immer sie auftauchte.„Ursi, was ist eigentlich dein Lieblingsgewürz?“, fragte ich sie übers Gebüsch, als ich schon selbst Kinder hatte und Ursel schon eine Uroma war. Die eine Hand auf ihre Harke gestützt, die andere in der Hüfte, sah sie schräg nach oben in die Baumwipfel, überlegte kurz, sagte entschieden: „Chili!“, und lächelte dabei ihr typisches, leicht geheimnisvolles Lächeln.Es gab dieses Gerücht über die schwarzen Walnüsse in Ursels KücheIn Ursels Kindheit hatte es einen Moment gegeben, in dem ihr klar wurde, dass sie zaubern konnte. Eine Freundin war unglücklich verliebt und fragte, ob sie dem Jungen einen Zaubertrank unterjubeln könne. Aber Ursel wusste genau, dass sie nicht ihn, sondern das Mädchen verzaubern musste. Das Rezept sei uralt behauptete Ursel, obwohl sie es selbst erfunden hatte. Sie kochte dem Mädchen ein paar Kräuter und gab süße Früchte dazu und am nächsten Tag war das Mädchen glücklich entjungfert nach einer langen Nacht in der Scheune. Ursel verstand, dass es keine Zauberei, aber eben doch eine Gabe war. Sie verstand auch, was ihr im Leben wichtig war: Essen und Liebe. Sie hat ihre Gabe, Männer mit Essen zu verführen, nicht nur für sich genutzt, sondern empfand es als Aufgabe, sie an alle zu verschenken.Es gab dieses Gerücht, ihr englischer Ehemann Alan Winnington, von dem wir wussten, dass er ein wahnsinnig aufregendes Leben hinter sich hatte, hätte unreife Walnüsse zehn Jahre lang in Whiskey eingelegt. Diese schwarzen Walnüsse gab es tatsächlich in Ursels Küche. Sie wurden in hauchdünne Scheiben geschnitten und zu Fleisch serviert. Aber als ich Ursel danach fragte, und sie mir die Zutaten nannte, war gar keine Rede von Whiskey. Eingelegt in süßen Kräutersud wurden sie nur sechs Monate. So haben sich die Geschichten unserer eng befreundeten Großeltern in die herrlichste Mythenwelt verwandelt. Ursels Enkelin Anna Böhm und mir wurde die Vergangenheit unserer Großeltern immer als herrliche Sensation verkauft und muss doch teilweise so schwer und traurig gewesen sein, dass wir es uns heute kaum vorstellen können. Als Kinder ahnten wir nicht mal, worüber alles nicht geredet werden konnte und dass die Vergangenheit vor allem deshalb aus aufregenden Geschichten bestand, weil man die Wahrheit nicht erzählen konnte. Man musste mit schönen Dingen, wie zum Beispiel dem Essen, möglichst viel Zeit verbringen.Dass Piment eins der wichtigsten Gewürze ist und an fast jedes Essen gehört, habe ich von Ursel gelernt. Und wenn ich mich in meiner Alltagsküche in diesem entnervten Zustand wiederfinde, der damit anfangen kann, dass die aufgeschnittene Avocado sich als unreif herausstellt, oder das Spiegelei anbäckt, weil die Pfanne nicht heiß genug war, dann versuche ich an Ursel zu denken und die Lebensmittel zu schätzen und zu lieben und mir mit einer Prise Chili und dem Geruch von englischem Tee einen Hauch ihrer eleganten Leichtigkeit in meine Küche zu zaubern.