Wenn am kommenden Samstag kurz vor Mitternacht der Gewinner des diesjährigen Eurovision Song Contest bekannt gegeben wird, wird dies nicht der erste Höhepunkt des Abends gewesen sein. „Ich komme! / Ich komme!“, wird eine leicht bekleidete Finnin im Refrain ihres Songs gesungen haben. Australiens Kandidat wird die Zuhörer dazu auffordern, „sh-sh-shake me good“ zu singen, um „auf den Geschmack des Milkshake Man“ zu kommen. Und Maltas Beitrag wird das Publikum dazu veranlassen, das Wort „Kant“ zu rufen – auch weil es wie ein vulgärer englischer Begriff für weibliche Genitalien klingt.
Nachdem die Ausgabe 2024 des weltgrößten Live-Musikwettbewerbs von der politischen Positionierung zum Gaza-Krieg überschattet wurde, kehren viele Künstler beim diesjährigen Event im schweizerischen Basel zurück zu dem eigentlichen Lieblingsthema: den Akt des Liebesspiels in Popsongs zu zelebrieren. Obwohl die offiziellen Regeln der Europäischen Rundfunkunion (EBU) Texte, die „obszön … oder anderweitig gegen die öffentliche Moral oder den Anstand verstoßen“, aus den drei Live-Shows des Eurovision Song Contest verbannen, ist die Matrix dessen, was jenseits des Erträglichen ist, komplizierter. Eigentlich geht es darum, dass man zwar über Sex singen, das Wort aber nicht aussprechen darf. Zumindest nicht auf Englisch.
Im März wurde die maltesische Künstlerin Miriana Conte von der EBU angewiesen, den Text ihres Songs Kant zu ändern. Der Titel bedeutet auf Maltesisch „Singen“, weist aber eine offensichtliche phonetische Ähnlichkeit mit dem vulgären englischen Wort „cunt“ auf.
Der Song trägt nun lediglich den Titel Serving, die ursprüngliche Botschaft von Contes Song entsprach jedoch dem Queer- oder Drag-Slang-Ausdruck „serving cunt“ und bedeutete in etwa, sich unverblümt weiblich zu verhalten, sagt sie. „Es ist eine Feier der Akzeptanz dessen, wer man ist, egal was man ist und wie man sich fühlt.“
Sind die Menschen in England so prüde oder verstehen sie ihre Sprache einfach besser?
Obwohl Englisch eine der beiden Amtssprachen Maltas ist, erklärt die 24-jährige Sängerin, keine Kritik in ihrem Heimatland erfahren zu haben. Maltesische Medien berichteten, Beschwerden an die EBU seien von der BBC gekommen.
Das C-Wort stand in einer aktuellen YouGov-Umfrage zu den beleidigendsten Schimpfwörtern der englischen Sprache an erster Stelle. Seine sprachlichen Verwandten in romanischen Sprachen – „con“ im Französischen oder „coño“ im Spanischen – werden bei weitem nicht so harsch wahrgenommen und sind sogar im Fernsehen zu hören.
„Was an einem Ort harmlos und verspielt wirkt, kann anderswo anders aufgefasst werden“, sagt Conte. „Das zeigt, dass Kultur unsere Wahrnehmung dessen prägt, was vulgär ist und was nicht.“
Am Samstag dürfte Maltas Beitrag Ähnliches widerfahren wie der letzte Song, der wegen Obszönität zensiert wurde: Eat Your Salad der lettischen Band Citi Zēni aus dem Jahr 2022.
Die Ode an den Vegetarismus wurde geschrieben, „um die Leute zum Zuhören und Nachdenken zu bringen“, sagt der 30-jährige Sänger Jānis Pētersons. Die EBU kritisierte jedoch den (halb) gereimten Vers in der ersten Strophe: „Instead of meat, I eat veggies and pussy / I like them both fresh, like them both juicy.“ Beim Live-Auftritt ließ Pētersons das anstößige Wort einfach weg und ließ es stattdessen das Publikum singen.„Der schlechteste Liedtext ist der, den man sofort vergisst“, sagt Pētersons. „Es war ein Wortspiel, und ich finde es immer noch clever. Sogar meine Oma fand das lustig.“
Obszönes in anderen Sprachen fällt nicht so auf
Beim Eurovision Song Contest traten Citi Zēni jedoch nicht nur gegen lettische Großmütter an, sondern auch gegen Großbritanniens Tanten und Mütter. Die Live-Show beginnt in der Regel vor der 21-Uhr-Sperre der BBC, um Kinder vor potenziell schädlichen Inhalten zu schützen. In den meisten anderen Teilnehmerländern treten ähnliche, entscheidende Regeln um 22 Uhr oder später in Kraft, sofern es sie überhaupt gibt.
Das bedeutet, dass englischsprachige Lieder über Sex beim Eurovision Song Contest entweder auf Schulhof-Synonyme zurückgreifen müssen – „I want to do it with him all day long“ sang die israelische Gruppe Ping Pong im Jahr 2000 – oder auf extravagante Anspielungen, wie etwa „I know you bop-whop-a-lu bop on his wood bamboo“ des tschechischen Sängers Mikolas Josef im Jahr 2018.
Der Milkshake Man des australischen Sängers Go-Jo beim diesjährigen Wettbewerb ist gar nicht so doppelbödig als vielmehr eine einzige Anspielung, die sich über 40 Zeilen erstreckt: Der gleichnamige Milchshake ist „eine geheime Superkraft“ und macht einen „bigger and stronger with harder bones“. Es erinnert an Montenegros Beitrag Space aus dem Jahr 2017 von Slavko Kalezić. Ein Song, der sich einzig und allein dem Vergleich von Sex mit intergalaktischen Reisen widmet: „Das Raumschiff ist bereit zu explodieren / Betrunken vor Liebe werde ich explodieren.“
Songs in anderen Sprachen können dagegen direkter sein. Der Song Ich komme der finnischen Sängerin Erika Vikman kam mühelos an den Zensoren vorbei. Ähnlich erging es auch der spanischen Band Nebulossa aus dem letzten Jahr, deren Titel Zorra wörtlich „Füchsin“ bedeutet, aber üblicherweise mit „Schlampe“ oder „Hure“ übersetzt wird.
Familienunterhaltung vs. künstlerische Freiheit
„Mais putain, il y a des jours“ –Mehr als einmal sang die französische Sängerin Nina Morato 1994 schon: „Ach Scheiße, es gibt diese Tage.“ Der moldauische Teilnehmer von 2006 zauberte mit dem Text „Hey loco, please espera un poco / And I’ll give you my choco“ allerlei anstößige Bilder in die Köpfe der Zuschauer. 2012 sang die Hip-Hop-Gruppe Trackshittaz ein Lied in einem so undurchdringlich starken österreichischen Dialekt, dass es die Zensoren vom Namen und Titel ihres Beitrags nach der Wende abgelenkt haben muss: Woki mit deim Popo. „Als europäische Lingua Franca scheint Englisch beim Eurovision Song Contest generell strenger kontrolliert zu werden, und zwar hauptsächlich von englischsprachigen Personen“, sagt Paul Marks-Jones, ehemaliger Präsident des offiziellen Eurovision-Song-Contest-Fanclubs. „Die Kontinentaleuropäer haben generell mehr Verständnis für Schimpfwörter.“
Schwedens Melodifestivalen, der jährliche Gesangswettbewerb, der den Eurovision-Vertreter des nordischen Landes bestimmt, löste 2017 eine Debatte darüber aus, ob die Schweden „fuck“ zu leichtfertig verwenden, als Sänger Robin Bengtsson es in seinem Song I Can’t Go on verwendete (später wurde es durch „freakin’“ ersetzt).
Die Beschwerden kamen jedoch hauptsächlich von englischen Muttersprachlern, und das Melodifestivalen hat daraufhin seine Laissez-faire-Haltung gegenüber Schimpfwörtern verschärft. „Fluchen ist in der Show weiterhin erlaubt“, sagt Anders Wistbacka, der verantwortliche Produzent des Melodifestivalen. „Obwohl es sich um ein breit gefächertes Familienunterhaltungsprogramm handelt, möchten wir den Autoren und Teilnehmern auch viel Freiheit lassen, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken.“
Kann man sich nicht einen Eurovision Song Contest der Zukunft vorstellen, bei dem Fluchen lockerer und das Verhältnis zu Sex entspannter ist? So schwer kann das doch eigentlich nicht sein …