Es beginnt eine Fortsetzung des Altbekannten, und somit sind weitere verlorene Jahre für die Entwicklung Deutschlands zu erwarten. Mit dem mehr als holprigen Start der Kanzlerwahl bekam der deutsche Michel einen ersten Eindruck davon, wie die nächsten Jahre aussehen könnten: nämlich, wie die sich schnell verändernden politischen Realitäten in der Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik etc. sowie die Realitätsbewältigung oder besser gesagt Nicht-Bewältigung dieser Realitäten durch die Not-GroKo vor unseren Augen ablaufen wird. Von Alexander Neu.

Im Februar habe ich hier auf den NachDenkSeiten eine Analyse der Wahlprogramme aller im vorangegangenen Bundestag vertretenen Parteien vorgestellt (hier und hier). Die Analyse fokussierte sich auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Im Folgenden nun analysiere ich den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – ebenfalls fokussiert auf diverse Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik.

Epochenwandel ohne EU-Europa und Deutschland?

Eine Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik angesichts der sich verändernden Weltlage mit neuen, global agierenden Mächten sucht man in dem Koalitionsvertrag vergeblich. Im Gegenteil: Der Epochenwandel findet faktisch ohne EU-Europa und Deutschland statt. Der Wandel wird ausschließlich als Bedrohung denn als Chance begriffen. Ideen zur konstruktiven Mitwirkung des unabwendbaren Wandels sucht man vergeblich. Kein Wort über ein wirklich selbstständiges EU-Europa, sich an europäischen Interessen orientierend und entsprechend multivektoral-kooperativ ausrichtend. Kein Wort über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands und der Wahrung der Sicherheitsinteressen aller europäischen Staaten im Sinne der Charta von Paris, nicht einmal die Idee einer friedlichen Koexistenz. Stattdessen ein „weiter“, nein, sogar ein „mehr so“ von dem, was wir haben und derzeit jedoch zu scheitern scheint. Dabei wird bereits zu Beginn klargestellt, wohin die sicherheitspolitische Reise gehen soll. Das ultimative Bedrohungsszenario stellt Russland dar:

Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die größte und direkteste Bedrohung geht dabei von Russland aus, das im vierten Jahr einen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und weiter massiv aufrüstet. Das Machtstreben von Wladimir Putin richtet sich gegen die regelbasierte Ordnung.

Tatsächlich richtet sich das „Machtstreben von Wladimir Putin (…) gegen die regelbasierte Ordnung“. Allerdings handelt es sich bei der „regelbasierten Ordnung“ eben nicht um das konsensual geschaffene Völkerrecht wie das der UNO-Charta oder auch der Charta von Paris, sondern um eine unilaterale westliche Ordnungsvorstellung für Europa und den Globus. Interessant an der oben zitierten Aussage ist, dass die Not-GroKo indirekt und womöglich unbeabsichtigt den Krieg auch als Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland beschreibt, denn „unsere bedrohte Sicherheit“ wird mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in einen Sinnzusammenhang gestellt. Das Narrativ, wonach eine Niederlage der Ukraine den Auftakt zur weiteren russischen Expansion Richtung Westeuropa darstelle, hat zwischenzeitlich einen axiomatischen Charakter angenommen: „Die Ukraine als starker, demokratischer und souveräner Staat (…), ist von zentraler Bedeutung für unsere eigene Sicherheit.“ Daraus lässt sich logischerweise das weitere Unterstützungsengagement für die Ukraine durchdeklinieren, was dann auch im Folgenden geschieht:

Wir werden deshalb unsere militärische, zivile und politische Unterstützung der Ukraine gemeinsam mit Partnern substanziell stärken und zuverlässig fortsetzen. Wir werden uns im engen Schulterschluss mit unseren Partnern für eine gemeinsame Strategie hin zu einem echten und nachhaltigen Frieden einsetzen, in dem die Ukraine aus einer Position der Stärke und auf Augenhöhe agiert. Dazu gehören auch materielle und politische Sicherheitsgarantien für eine souveräne Ukraine. Deutschland wird sich an dem Wiederaufbau der Ukraine beteiligen. (…)

Diese Aussagen verweisen auf eine gesteigerte Weiter-so-Politik: Weder wird auf die zahlreichen Friedensinitiativen des Nicht-Westens Bezug genommen, noch werden die Verhandlungsbemühungen des US-Präsidenten Donald Trump in Betracht gezogen. Ja, nicht einmal die Realitäten auf dem Schlachtfeld werden adäquat zur Kenntnis genommen. Im Gegenteil: Es werden einfach gut klingende Losungen in den Raum geworfen wie „echter und nachhaltiger Frieden“. Was bedeutet das als konkretes Ziel – die Grenzen von 1991 oder von 2014 oder von 2022? Und wie soll das wie auch immer zu definierende Ziel erreicht werden? Es wird weiterhin eine NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine bekräftigt – und das trotz des Krieges, seiner Realitäten auf dem Boden und nicht zuletzt in demonstrativer Verkennung des primären Kriegsmotives Russlands, die Nichtakzeptanz der NATO-Erweiterung im postsowjetischen Raum. Ja, selbst die mittlerweile formulierte Absage der NATO-Führungsnation USA hinsichtlich der Aufnahme der Ukraine in die NATO ficht die Not-GroKo nicht an. Und um einen Weg aus dem Krieg noch weiter zu erschweren, fordert die Not-GroKo sogar: „Wir unterstützen die Einrichtung eines Sondertribunals, um das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine angemessen zu verfolgen und zu ahnden“, was die ohnehin schwache Konzessionsbereitschaft des Kremls sicherlich maximal verringern dürfte. All dies zeigt, wie sehr moralinsaure Ideologie statt Realpolitik die Außen- und Sicherheitspolitik der Not-GroKo bestimmt.

Europäische Union

Das zentrale deutsche Interesse ist es, in und über EU-Europa und über die NATO international zu wirken. EU-Europa bildet das Vehikel für die Umsetzung deutscher Interessen. Dabei wird eine Identität der Interessen und des Schicksals Deutschlands mit denen der EU und der US-geführten NATO postuliert („Die gute Zukunft unseres Landes wird es nur mit einer starken und demokratischen EU geben“). Und von diesem Postulat ausgehend gibt sich die Not-GroKo kämpferisch: Die „EU ist Garantin für Freiheit, Frieden, Sicherheit und Wohlstand. Diese Werte stehen angesichts historischer Umwälzungen massiv unter Druck. Mut, Entschlossenheit und europäische Antworten sind das Gebot der Stunde“. Interessant an der Formulierung ist, dass die EU im Kontext des Epochenwandels als Objekt dargestellt wird, dessen Werte „massiv unter Druck“ stünden und nun EU-Europa endlich aufstehen müsse, um sich und seine Werte zu verteidigen. Hierbei wird auf die Dichotomie ‚der Westen, die EU als Garten, der Rest der Welt als Dschungel, dessen Aufdringlichkeit man sich erwehren müsse‘ zurückgegriffen – eine Dichotomie, die seit Beginn der 2000er-Jahre in der außen- und sicherheitspolitischen Community gerne genutzt wird, um sich der eigenen Selbstherrlichkeit zu versichern. Doch, ist das zutreffend? Werden westliche Werte im Westen, in EU-Europa tatsächlich bedroht? Tatsächlich werden gewisse Werte innerhalb der EU, insbesondere durch osteuropäische Mitgliedsstaaten wie Ungarn und die Slowakei, in Frage gestellt – jedoch nicht die Werte „Freiheit, Frieden, Sicherheit und Wohlstand“, sondern Werte des Familienbildes oder der geschlechtlichen Orientierung. Auch scheint die neue Bundesregierung in Kontinuität bisheriger Außenpolitik davon auszugehen, dass der Export westlicher Werte in den Rest der Welt eine Selbstverständlichkeit darstelle und eine Ablehnung dieser Werte durch den Rest der Welt eine Unverschämtheit sei, ja geradezu eine Gefahr für EU-Europa, für den Westen darstelle.

Diese Realitätswahrnehmung resultiert nach wie vor aus einem kolonialistischem und post-kolonialistischem Weltverständnis, einem west-zentrierten Weltbild. Es erinnert sehr stark an das US-amerikanische Weltverständnis, demnach ein umgefallener Sack Reis in China die nationalen Sicherheitsinteressen der USA gefährden könnte. Hierzu passt der ungetrübte Wille zur Fortsetzung der EU-Erweiterung. Das Instrument der EU-Erweiterungspolitik, genau genommen der EU-Osterweiterung – da die EU in allen anderen Himmelsrichtungen bereits an ihre geographischen Grenzen (Atlantik und Mittelmeer) stößt, wird es als „eine geopolitische Notwendigkeit“ mit „hoher transformativer Kraft“ verstanden. Diese „transformative Kraft“ bedeutet ja genau den Export der eigenen Werte in diese Region Europas. Mit der „geopolitischen Notwendigkeit“ unterstreicht der Koalitionsvertrag den Willen der Not-GroKo zur Fortsetzung der Konfrontation mit Russland um Einflusszonen in Osteuropa. Angesichts der „massiv veränderten Weltlage“, was als eine Anerkennung des Endes der unipolaren Weltordnung seitens der Not-GroKo verstanden werden muss, fordert sie eine Flexibilisierung des EU-Erweiterungsprozesses („Weiterentwicklung des EU-Beitrittsprozesses“).

Besaß EU-Europa bis vor wenigen Jahren so etwas wie ein Attraktivitätsmonopol, so erscheinen mit dem BRICS-Format und anderen bilateralen Kooperationsoptionen (China) jenseits der EU neue, mitunter attraktive Kooperationspartner für die noch nicht EU-integrierten osteuropäischen Staaten. Diese Konkurrenzsituation zwingt, laut Not-GroKo, also EU-Europa offensichtlich zur Flexibilisierung. Als klar definierte Beitrittsstaaten werden die „sechs Länder des Westbalkans, der Ukraine und der Republik Moldau“ genannt. Tatsächlich besteht die neue Bundesregierung auf eine EU-Integration der Ukraine, was sehr viele Fragen auch des Wiederaufbaus des Landes, der damit unweigerlich einhergehenden massiven finanziellen Belastung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten und somit deren Steuerzahler aufwirft, die indessen im Koalitionsvertrag natürlich nicht thematisiert werden. Der Beitrittsprozess mit Georgien fällt temporär aus, „bis die Zweifel an der Einhaltung der demokratischen Prozesse ausgeräumt“ seien. Um dieses Ziel zu erreichen, „stehen wir an der Seite der pro-europäischen Kräfte“. Hintergrund ist das von Georgien erlassene Agentengesetz, dass die ausländische Einflussnahme auf den innergeorgischen Willensbildungsprozess via westlicher oder vom Westen finanzierter „NGOs“ transparent machen soll (Stichwort „Zivilgesellschaft“) und somit in den Augen der georgischen Regierung eine gewisse Souveränitätsrückholung darstellt. Nationale Souveränität – eine zentrale Völkerrechtsnorm –, so etwas stößt in der EU und in Deutschland jedoch auf gesteigertes Unverständnis. Allerdings sind die „pro-europäischen Kräfte“, die georgische „Zivilgesellschaft“ mit ihrem mitunter auch gewaltsamen Versuch einer „bunten Revolution“ vorerst gescheitert.

Im Rahmen der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)“ visiert die Bundesregierung eine Veränderung des Abstimmungsmodus weg vom Einstimmigkeitsprinzip hin zu „qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU“ an. Hintergrund ist insbesondere das Abstimmungsverhalten Ungarns und der Slowakei, die die EU-Brüssler Stoßrichtung immer wieder in Frage stellen, beispielsweise mit Blick auf die Finanzierung der Ukraine. Ohne Ungarn und die Slowakei namentlich zu nennen, sollen die Zügel für Abweichler in der EU angezogen werden:

Dafür müssen bestehende Schutzinstrumente, von Vertragsverletzungsverfahren über die Zurückhaltung von EU-Geldern bis hin zur Suspendierung von Rechten der Mitgliedschaft, wie zum Beispiel Stimmrechten im Rat der EU, deutlich konsequenter als bisher angewendet werden.“

Es wird deutlich, dass der Tolerierungsrahmen für Abweichler in Zeiten des weltpolitischen Umbruchs eingeengt werden soll. Die Zeiten für Sperenzien sind vorbei. Ob diese Vorhaben so widerstandslos umzusetzen sein oder vielmehr EU-Europa einer Zerreißprobe aussetzen werden, bleibt abzuwarten. Denn auch hier gilt: Der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán hat einen mächtigen Verbündeten – die Trump-Administration.

NATO und transatlantische Verbundenheit

Unser Bekenntnis zur NATO und zur EU bleibt unverrückbar. Das transatlantische Bündnis und die enge Zusammenarbeit mit den USA bleiben für uns von zentraler Bedeutung.“

Auch mit diesem Statement wird überaus deutlich, dass sich die Not-GroKo ein Leben ohne NATO und USA nicht vorstellen kann. Dieser Zusammenhang von NATO und USA ist deshalb wichtig, da die USA die absolute Führungsnation des Militärbündnisses sind. Kurzum: Ohne die USA keine NATO.

Obschon die transatlantischen Beziehungen zwischen der NATO-Führungsmacht USA und den europäischen Partnern derweil etwas arg getrübt sind, übt sich die Rhetorik in erstaunlicher, nahezu die Wirklichkeit negierender Normalität:

Die Beziehungen zu den USA bleiben von überragender Bedeutung. Die transatlantische Partnerschaft ist eine große Erfolgsgeschichte für beide Seiten, die es auch unter den neuen Bedingungen fortzusetzen gilt.“

Entweder geht man in der Not-GroKo davon aus, dass Donald Trump eine Metamorphose vom politischen Saulus zum Paulus vollziehen wird, oder aber, dass zumindest in der Post-Trump-Ära wieder die gewohnte transatlantische Harmonie einziehen werde. Jedenfalls will die Not-GroKo die unschöne Situation mit der Person Donald Trump aussitzen und währenddessen für bessere Zeiten schon einmal in Vorleistung gehen:

Die NATO ist ein tragender Pfeiler der transatlantischen Partnerschaft und für die europäische Sicherheit unverzichtbar. Wir bekennen uns zur Stärkung des transatlantischen Bündnisses und zur fairen Lastenteilung. (…). Wir setzen uns dafür ein, den europäischen Pfeiler der NATO mit Nachdruck fortzuentwickeln und die EU-NATO-Zusammenarbeit weiter aufzuwerten.

Und dies kostet natürlich eine Menge Steuergelder, worauf die Not-GroKo den Steuerzahler zart hinweist. Zumal im zeitlichen Vorfeld ja bereits noch mit dem abgewählten Bundestag die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, die mit dem neuen, dem legitimen Bundestag nicht zu machen gewesen wären, wohlweißlich geschaffen wurden:

Die Ausgaben für unsere Verteidigung müssen bis zum Ende der Legislaturperiode deutlich und stringent steigen. Die Höhe unserer Verteidigungsausgaben richtet sich nach den in der NATO gemeinsam vereinbarten Fähigkeitszielen.

Also, mit anderen Worten: Alles ist möglich, aber nur in die eine Richtung: mehr Steuergelder für die Rüstung.

Fazit

Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Zunächst die gute Nachricht: Mit Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik gibt es zwischen dem Koalitionsvertrag und den Wahlprogrammen der Union sowie der SPD keine großen Unterschiede. Die Wähler der beiden Parteien bekamen, was sie wohl laut Wahlprogramme wollten – anders als bei der Schuldenbremse. Die weitgehende Übereinstimmung der Wahlprogramme mit dem Koalitionsvertrag erklärt sich mit der weitgehenden Übereinstimmung der Wahlprogramme der Union und der SPD. Da passt kein Blatt dazwischen. Die Verhandlerteams der beiden Parteien dürften im Felde der Außen- und Sicherheitspolitik wohl mit wenig widerlichem Konferenzkaffee und viel Entspannung getagt haben.

Und nun die weniger gute Nachricht: Die Not-GroKo hat die Zeichen der Zeit in der Außen-, Sicherheits- und Geopolitik immer noch nicht wirklich erkannt. Man bewegt sich nach wie vor in den Denk- und Handlungskategorien in trauter Gesellschaft mit London, Paris und Brüssel der 1990er- und 2000er-Jahre – ganz nach der Devise: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Die globale Machtverschiebung gen Osten wird als Gefahr und somit als eine quasi militärische Herausforderung angesehen, statt sich dem Wandlungsprozess durch konstruktives Mittun zu stellen und so die eigenen Interessen auf diplomatische und faire Weise zu sichern, mindestens aber eine friedliche Koexistenz und auf Augenhöhe mit dem Rest der Welt zu akzeptieren. Selbst die Neuorientierung der größten westlichen Nation USA scheint bei der Not-GroKo keinerlei Zweifel an dem eingeschlagenen Weg aufkommen zu lassen. Damit verlieren Deutschland und EU-Europa weitere wichtige Jahre zur Neuorientierung auf der internationalen Bühne. Zwischenzeitlich schaffen andere Mächte Fakten, die, sind sie einmal gesetzt, schwerlich wieder im Sinne EU-Europas korrigiert werden können.

Titelbild: Shutterstock / EUS-Nachrichten



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Von Veritatis

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