Große Firmen wie SAP, Deutsche Bank oder VW fordern wieder mehr Anwesenheit im Büro. In manchen Branchen würde dann etwa jede*r Zweite seinen Job aufgeben. Droht eine Kündigungswelle und woher kommt die Lust an der Präsenzpflicht?
Nicht klimatisiert, aber beleuchtet: Großraumbüro unter freiem Himmel
Foto: Nikolaevich/Getty Images
In den 1990ern, da war die Arbeit noch ein ganz anderer Schnack, Boomer erinnern sich. Ich arbeitete bei einer Fernsehproduktion. Es galt als Sakrileg, vor 18.30 Uhr die heiligen Hallen zu verlassen. Wollte man früher nach Hause, musste man sich unwürdig rausschleichen, meistens wurde einem noch ein „Schönen Feierabend!“ nachgerufen, das augenblicklich beklommen stimmte.
Ich wechselte zu einer Werbeagentur, kurz vor dem Platzen der New-Economy-Blase, also jener Arbeitswelt, die einem das Verheiratetsein mit dem Job noch mit einem Kicker im Großraumbüro schmackhaft machen wollte. Unser Laden driftete gen Abgrund, nur Produktionschef H. ordnete unermüdlich seine leeren Hefter.
Danach ging es nach London, ins europäische Mekka gelockerter Arbeitsre
ckerter Arbeitsrechte, wo ich in einem Marktforschungsinstitut unter Aufsicht Telefonumfragen durchführen musste. Ich erfand ein Zettelsystem, mit dem unser internationales Team temporär gescheiterter Existenzen die Ausbeutung immerhin mit subversivem Blödsinn zu unterwandern versuchte.Corona revolutionierte die alte Ideologie der Präsenzpflicht2019. Die Corona-Pandemie hatte ein Gutes: Sie revolutionierte die alte Ideologie der Präsenzpflicht und forcierte die Etablierung flexibler Arbeitsmodelle – freilich nur für die Branchen, in denen physische Anwesenheit verzichtbar ist, wo ein Laptop reicht. Jetzt waren es die Unternehmen, die angehalten wurden, ihre Einstellung zur Präsenzpflicht radikal zu ändern, Misstrauen abzubauen, mobiles Arbeiten zu ermöglichen. Die Arbeitnehmer entdeckten – mitunter fassungslos –, wie fundamental sich die Life-Work-Balance verbesserte.Zahlreiche Studien haben seither belegt, dass mobiles Arbeiten die Produktivität steigert, selbst wenn man zwischendurch mal eine Waschmaschine anstellt. Außerdem sparen die Firmen natürlich jede Menge Fixkosten. Droht jetzt aber trotzdem ein Backlash? Große Firmen wie SAP, Deutsche Bank, Dell, VW und zuletzt der Springerverlag fordern wieder mehr Anwesenheit im Büro – weshalb man ihnen erst mal keine sinistren Absichten unterstellen muss, denn hinsichtlich zum Beispiel Teamwork und Kommunikation hat das Büro unbestreitbare Standortvorteile.Wenn dann noch eine ergonomisch komfortable Ausstattung in klimatisierten Räumen dazukommt, hebt das die Laune deutlich. Oder: Dass Amazon die Fünf-Tage-Präsenzpflicht wieder einführt, scheint innerbetrieblich irgendwie gerecht, förderlich fürs Betriebsklima, denn die Lagerarbeiter können kaum von zu Hause aus die Kisten packen.Je gesuchter die Fachkraft, desto größer der VerhandlungsspielraumEs wäre aber natürlich naiv, in der Forderung nach mehr Büropräsenz nicht eine Strategie zu sehen, zum Beispiel für Unternehmen, um vermeintlich nicht ganz motiviertes Personal damit elegant loszuwerden. So à la: Wer nicht will, kann ja Tschüss sagen.Eher aber geht die Rechnung gar nicht auf. Die Präsenzflausen könnten eine Kündigungswelle nach sich ziehen, prophezeit eine Digitalexpertin auf ingenieur.de. Bis zu sechs Millionen Beschäftigte (!) könnten kündigen. Konkret vielleicht solche, die ihren Lebensmittelpunkt zur Freude verlassener Kommunen aufs Land verlegt haben oder Frauen, die einen Teufel tun werden, ihren Bedarf an Homeoffice wieder rechtfertigen zu müssen.Laut Umfragen würde etwa jede*r Zweite seinen Job aufgeben. Dabei gilt: je jünger das Personal, desto beliebter mobiles Arbeiten. Je gesuchter die Fachkraft, desto größer der Verhandlungsspielraum, das Drohpotenzial. Also aufgepasst, Arbeit: Besser nicht wieder mit so einem Tischkicker ankommen.