Comedian und TikTok-Star Tahsim Durgun und sein persönlicher Nachruf auf den Deutschrapper Xatar. Mit ihm sei nicht nur ein großer Musiker, sondern auch eine Identifikationsfigur für viele kurdische Jugendliche gestorben


Mit Xatar sterben Träume, Wünsche und Mysterien

Foto: Georg Wendt/dpa/picture alliance


Ich sitze im Café mit zwei Freunden. Das Wetter ist eine 10 von 10. Wir nehmen uns vor, heute nicht ans Handy zu gehen. Kurz vor 14 Uhr vibriert mein Handy pausenlos. Mit schlechtem Gewissen schaue ich aufs Display und lese die erste Nachricht: „Ey, Xatar ist tot, Alter“. Es fühlt sich kurz so an, als hätte man mir ein Geheimnis der übelsten Sorte weitergegeben, und nun liegt es an mir, diese meinen Freunden besänftigend zu überbringen.

Auch wenn es nur eine WhatsApp-Nachricht ist, zweifle ich kaum an der Richtigkeit. Die Botschaft war klar und hat mich überwältigt. „Nieeee im Leben, Xatar, das kann nicht sein, Alter“, heißt es am Tisch. Xatar ist tot. Dieser Tag ist kein guter mehr. Niemand am Tisch kannte Xatar aka Giwar

aka Giwar Hajabi persönlich. Wir fühlen alle eine Betroffenheit, als hätten wir ihn persönlich gekannt. Als Giwar am Weihnachtstag 1981 in Sanandaj, Iran, das Licht der Welt erblickte, dachten vermutlich die wenigsten, dass dieses Kind einmal eines der größten Pioniere des deutschen Hip-Hops werden würde. Nicht, weil im kurdischen Iran grundsätzlich keine Pioniere zur Welt kommen, sondern weil man annehmen kann, dass Giwars Eltern von anderen Dingen für ihre Kinder träumten.Sein Vater, Esmat Hajabi, bewegte sich durch seinen Beruf als Komponist und Dirigent in den renommiertesten Kreisen des Iran. Die Mutter – ebenfalls Akademikerin – war ebenfalls Musikerin. Die Eltern, beide politisch aktiv und Gegner des iranischen Regimes, gerieten ins Visier der Feinde und flüchteten. Erst in den Irak, wo sie im Gefängnis landeten, später nach Frankreich und zuletzt nach Bonn. Xatar und ich: Wir haben wenige GemeinsamkeitenDie Familie lebte zwischenzeitlich in deutschen Flüchtlingsunterkünften. Auch wenn die Biografien unserer Eltern nicht unterschiedlicher sein könnten, sind es wenige Gemeinsamkeiten, die ihn für mich und für viele aus meiner Generation zur Identifikationsfigur machen.Meine Eltern haben durch ihr Dasein als kurdische Jesiden in der Türkei Verfolgung und systematische Ausgrenzung durchlebt. Ich habe das Glück gehabt, diese Schattenseiten des Daseins nie erlebt zu haben, aber weiß durch unsere Familiengeschichte, welche Traumata und Wunden verbleiben und noch geraume Zeit später aufklaffen können. Dass Giwar nach all diesen Lasten trotzdem ins Bühnenlicht treten und eine Erfolgsgeschichte hinlegen konnte, ist für mich eine Inspiration. An dieser Stelle sei betont, dass die Familie bis hierhin mehrere Verfolgungen, Folter und Fluchten aushalten musste. Ein intellektuelles Paar, welches vom politischen System erdrückt wurde. All das vor den Kinderaugen von Giwar. All die Gefahr, die Giwar angesehen und aufgesogen hat. Er verstand früh, dass Gefahr überall lauern und dich schnell packen kann. Das einzige Gegenmittel: Du wirst zur Gefahr. Das kurdische Wort für Gefahr: Xatar. Xatar ist die Antwort auf das Leben. „Xatar“ ist der Schutz vor fremder Gewalt. Seine Sounds erinnern an die Lieder, die unsere Babas schon auf Kassette gehört haben. Seine aber waren unwillentlich mit düsteren Flows übersät. Seine Vorbilder: Rapper wie Tupac und Dr. Dre. 2008 erreichte er mit seinem Debütalbum „Alles oder Nix“ absoluten Kultstatus im deutschen Straßenrap. Orientalische Klangelemente, etwas arabesk, knallen auf raue Statements und markanten Rap. Und es erwischte uns alle. Xatar hatte einen Nerv getroffen. Eine Symbiose zweier Welten, die uns allen bekannt ist: Tradition und westliche Musik.Plötzlich könnten wir das Gefühl, kurdisch zu sein, benennenDoch ein Track, ein Musikvideo, stellte alles andere in den Schatten. Erst als der letzte Track „Kanaken“ verklingt, folgt nach wenigen Minuten der Hidden Track „Kurdistan“, der nicht als offizieller Song gelistet ist. Ein typischer „Alles oder Nix“-Track von Xatar. Eine Zeile macht den Unterschied: „Was Kurde aus Irak, Türkei, Iran? Ich bin Kurde aus Kurdistan“ – Kurdistan zu sagen, war lange tabuisiert. Den Begriff kennen viele kurdische Jugendliche, aber zögerten vielleicht, während sie ihn benutzten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits kurdische Rapgrößen wie Azad bekannt, der mindestens genauso relevant für kurdische Kids war und ist. Aber Xatar war offensiver, schonungsloser. Er rechnete mit der Assimilation der Kurden ab – er appellierte, er forderte – er war Xatar.Diesen Appell führte er fort in einem Interview mit HipHop.de: „Wir Kurden haben ein Problem, und das kennen die meisten Leute nicht.“ Das Problem heiße „Identifikation“. Als Kurde hätte man keine Fußballmannschaft, die man anfeuern könne. Xatar sagte dort: „Damals wurde mir von Freunden erklärt: Ey, das gibt es nicht, was du bist – das heißt: Du existierst nicht.“ Deswegen sei es ihm umso wichtiger gewesen, das zu erklären: „Weil, das habe ich in meiner Kindheit vermisst, dass ich mich irgendwo festhalten kann.“All jene, die nicht kurdisch sind, werden womöglich nie nachvollziehen können, welche inneren Kluften Xatar mit diesen Statements bei uns kurdischen Jugendlichen erwischt hat. Kurdisch zu sein bedeutet, zu wissen, dass man stets eine Heimat hat, aber gleichzeitig keinen festen Ort. An diese Orientierungslosigkeit, die eigentlich kein Teil von uns ist – wir kommen zurecht, wir wissen, wo wir zu Hause sind – erinnerten uns jene, die nicht kurdisch sind, immer wieder. Und daran, dass wir orientierungslos sein sollten. Es ist ein paradoxes Spiel: Kurdistan ist da, wo wir sind. Xatar war für diese Aussage mutig genug und stand früh genug dafür ein. Er zeigte mir, dass es okay ist, dass es gut ist, womöglich sogar das Größte der Welt, Kurde zu sein. Und so ahmten wir ihm alle nach. Wir waren nicht mehr Kurden aus der Türkei. Wir waren Kurden. Durch und durch. Wie Xatar. Und immer wieder: Der KöftespießWährend wir nach der Todesnachricht noch im Café sitzen, ploppen immer wieder Nachrichten zu seinem Tod auf. Selbst die Tagesschau berichtet darüber. Neben unterschiedlichsten Rap-Kollegen und -Kolleginnen wie Farid Bang, Jan Delay oder Shirin David posten auch Comedians wie Kurt Krömer ein gemeinsames Bild mit Xatar. Andere teilen seine Folge von der Kochshow „Böhmi brutzelt“, in welcher er zusammen mit Jan Böhmermann seine berühmten Köftespieße zubereitet hat. Genau hier, in der öffentlichen Betroffenheit nach der Todesnachricht am 8. Mai, bestätigt sich, dass Xatar wirklich ein popkulturelles Symbol war. Ein Popstar. Zu der Faszination trägt der große und bis heute ungeklärte Skandal rund um den Goldraub, an dem er beteiligt war, natürlich bei. Niemand weiß bis heute, wo die Beute von 1,7 Millionen Euro steckt. Xatar spielt mit dieser öffentlichen Neugierde. In einem Interview antwortet er auf die Frage: Wo ist das Gold? Seine berühmte Antwort: „Schweigen ist Gold, mann!“ Diese und andere Zitate (wie die Antwort „Köftespieß“, auf die Interviewfrage, was er denn am liebsten machen würde, wenn er denn bald aus dem Gefängnis entlassen werden würde) haben ihn zunehmend erfolgreich gemacht. Er war ein deutschlandweiter Star, den Menschen aus allen Schichten interessant finden. Daher auch die Trauer in der breiten Masse – das sind Dynamiken, die man sonst nur nach dem Ableben von Weltstars wie Michael Jackson kennt.Nicht zuletzt hat auch der Film „Rheingold“ (2022) über Xatars Leben, unter der Regie von Fatih Akin, dazu beigetragen. Die Kinosäle waren rappelvoll, TikTok überschwemmt von jungen Menschen, die diesen Film diskutierten und rezensierten. Filmkultur als Trend – dank Xatar. Die Besonderheit: Das Publikum war mehrheitlich migrantisch. Menschen, die vielleicht ohne Kinobesuche aufgewachsen sind, saßen in den Sälen. Denen immer gesagt wurde: Wir haben Kino zu Hause (bei uns war „Kino“ eine illegal gebrannte DVD mit allen Scary-Movie-Folgen, die ich so oft gesehen hatte, dass ich schon die Dialoge auswendig konnte).Xatar hat mich auch zu meinem Buch inspiriertXatar nahm mit diesem Film vielleicht Abschied von einer Generation, die mit ihm aufgewachsen ist. Die damit begonnen hatte, seine Low-Budget-Musikvideos von der Straße auf YouTube zu klicken und seitdem seinen Weg treu beobachtet hat – bis zu dem Zeitpunkt, wo sie groß genug waren, um ins Kino zu gehen. Nicht nur, um den Film über Xatars Leben zu schauen, sondern auch, um vielleicht in das eigene Leben zurückzublicken. Wir waren dabei. Von Anfang an. Dieses Erlebnis wurde fulminant durch den Soundtrack Mama war der Mann im Haus abgerundet. Ein Track, der mich zuletzt in meiner Arbeit zu meinem Buch Mama, bitte lern Deutsch inspiriert hat. Trotz all des Ruhms blieb am Ende eben nur eine Person, der Xatar danken möchte: Mama. Der Tod allein ist natürlich schon des Trauerns würdig, aber mit Giwar, mit Xatar sterben Träume, Wünsche, Repräsentation und Mysterien. Dieser Mann führte ein Imperium namens „Xatar“. Er war mehr als der Rapper mit großem Goldraub-Skandal – er war eine Schlüsselfigur – für kurdische Menschen und alle anderen, denen gesagt wurde: Du bist heimatlos! Danke dafür, Giwar.



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Von Veritatis

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