Von Ekaterina Quehl
„Weniger Sportangebote, oft nur mit dem Auto erreichbar. Höheres Risiko für Übergewicht bei Kindern, mehr Bildschirmzeit. Kaum ÖPNV, längere Wege.“ – nein, das ist nicht die Beschreibung von Berlin und auch nicht von München oder Hamburg. Das ist eine Beschreibung des Lebens in einem Dorf – von WDR-Quarks.
Da die Quarks eine ganz wissenschaftliche Sendung ist, schauen wir uns die aktuelle Info-Grafiken-Reihe „Was bist du? Stadtmensch oder Landkind?“ etwas genauer an. Vielleicht sind wir zu nah an die Realität dran oder leben noch in der Vergangenheit. Denn „auf dem Land spielen Kinder ständig im Wald, in der Stadt hocken sie nur im Kinderzimmer“ soll laut modernen „Forschenden“ ein Klischee sein, das Quarks unbedingt hinterfragen möchte, weil die aktuellen Studien das Gegenteil beweisen. Die besagen nämlich laut Quarks, dass Stadtkinder sich mehr bewegen als Landkinder. Und: Das liegt nicht daran, dass der Bus wieder ausgefallen ist und S-Bahn-Strecke, die Ihr Kind zur Hip-Hop-Stunde fährt, gesperrt ist und es drei Stationen zu Fuß laufen soll. Nein, es liegt daran, dass – wie es schön auf der Grafik abgebildet ist – die Stadt viele leicht erreichbare Sportangebote anbietet, wodurch Ihre Kinder „bessere motorische Fähigkeiten haben“ und im Dorf sich „alles aufs Fußballspielen konzentriert“.
Wenn Ihre Kinder also auch Hip-Hop im Dorf tanzen, zum Schieß- oder Karatekurs gehen oder regelmäßig zum Schwimmtraining, ohne Angst vor australischen Austauschstudenten zu haben, dann sind Sie klischeebehaftet. Wenn Sie mit anderen Eltern Fahrgemeinschaften organisieren oder Ihre Kinder mit einem Fahrrad oder einem Roller zu Ihren Freizeit-Orten fahren lassen, dann leben Sie gefährlich. Schicken Sie am besten Ihre Kinder nur noch zum Fußball, damit Sie die Studien-Ergebnisse, auf die sich Quarks bezieht, nicht verzerren und Ihre Kinder nicht so viel Motorik entwickeln wie die Stadtkinder.
Im Bereich medizinische Versorgung und psychische Gesundheit schneidet die Stadt ebenfalls viel besser ab.
Zwar zeigen die Studien, dass Menschen, „die in der Stadt leben, ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen als Menschen auf dem Land“ haben. Aber das macht überhaupt nichts, weil es sich durch „gute Gesundheitsversorgung“ ausgleicht. Wenn Sie oder Ihr Kind also Angststörungen oder Depressionen entwickeln, dann haben Sie keine Sorge: nur sechs Monate auf einen Ersttermin beim Psychologen warten und schon ist das Problem gelöst.
Im Bereich „Luft und Lärmbelästigung“ stockt die wissenschaftliche Stadt-Werbung der Quarks-„Forschenden“ sichtbar, weil es im Dorf irgendwie doch mehr frische Luft als in der Stadt gibt. Aber auch auf dem Lande gebe es Ausnahmen, nämlich beeinträchtigte Luftqualität durch „lokale Emissionsquellen wie Industrie-Anlagen oder Landwirtschaft.“ Wenn Sie es also geschafft haben, Ihr stundenlang zockendes Kind mit schlechter Motorik vom Bildschirm wegzubekommen und es mit Ihrem Diesel eine halbe Stunde zum einzigen Fußballfeld im Umkreis von 50 Kilometern gefahren haben, dann hoffen wir doch, dass es sich nicht in der Nähe eines Schweinestalls befindet. Denn sonst könnte die gesamte Mannschaft durch das Einatmen der CO2-Emissionen Ängste vor Klima-Weltuntergang entwickeln und sich in eine lokale „Letzte Generation“ verwandeln.
Betrachtet man die Grafiken-Reihe insgesamt, kommt man zum offensichtlichen Schluss, dass das Leben in einer modernen deutschen Stadt viel besser für Ihre Gesundheit, Psyche und Lebensqualität sein soll als in einem Dorf. Untermauert wurde diese Information mit vier Studien, von den nur eine in Deutschland durchgeführt wurde. Und gerade sie bestätigt ein höheres Risiko für einige psychische Erkrankungen für Stadtbewohner.
Wenn Quarks Ihnen vorgaukeln will, urbanes Leben sei automatisch besser, drängt sich zwangsläufig die Frage auf: Könnte diese Städteromantisierung mit Förderprogrammen im Bereich 15-Minuten-Stadt zusammenhängen?
Letztendlich fördern Bund und Länder mit millionenschweren Initiativen und Modellmaßnahmen in einigen Großstädten Deutschlands den Traum über eine 15-Minuten-Stadt sehr intensiv. Ein Konzept, das klingt wie ein idyllischer Spaziergang in die Vergangenheit, mit allen Vorteilen von heute. Alles da: Supermarkt, Kita, Ärzte, Co‑Working, Yogastudio – selbstverständlich nur einen Katzensprung entfernt. Im Hintergrund: flächendeckende Sensorik, die Müll, Verkehr oder Luftqualität überwacht, digitale Verkehrssteuerung mit Apps, E-Ladestationen und Sharing-Systemen, Verwaltung und Bürgerbeteiligung per App. Ergänzt wird das durch Videoüberwachung und Datenanalysen in Echtzeit – mit der Hoffnung auf mehr Effizienz und Kontrolle im urbanen Alltag.
Aktuell fördert die Bundesregierung mit insgesamt 820 Millionen Euro unter dem Titel „Modellprojekte Smart Cities“ 14 Quartiersinitiativen, die alle auf die Idee der Nachhaltigkeit und kurzer Wege setzen. „Ziel des Programms ist es, Kommunen in Deutschland zu befähigen, vielfältige praktische Lösungspfade zu erkunden, um die Smart-City-Entwicklung in Deutschland bundesweit voranzutreiben“, so auf Seiten des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen.
Parallel dazu läuft das internationale Forschungsprojekt TuneTo15, das klären soll, wie die 15-Minuten-Stadt in Berlin, Hannover, Wien oder Ljubljana sozialverträglich durchgesetzt werden kann.
Ganz vorne dabei: die Siemensstadt Square in Berlin – ein futuristischer Musterbaukasten für technokratisches Kurzstreckenleben. Wohnungen, Arbeitsplätze, Einkauf und Freizeit, alles in greifbarer Nähe, dafür mit Parkverbot und Sensorik auf Schritt und Tritt: „Die Siemensstadt Square ist als autoarmes Quartier geplant, in dem Fußgänger, Radfahrende und der öffentliche Personennahverkehr den Vorrang haben. Die Wiederinbetriebnahme der Siemensbahn wird einen wesentlichen Beitrag für die ÖPNV-Anbindung leisten. Das Quartier soll frei von Durchgangsverkehr bleiben. Autoverkehr ist zur Anlieferung, zur Ver- und Entsorgung und für die Anbindung der Quartiersgaragen möglich.“
Abgesehen von der schönen neuen Welt, die uns der Staat als eine Hochglanz-Utopie verkaufen will, bleibt die Frage, wie solche 15-Minuten-Städte aussehen würden, wenn man sie in die Realität integriert – jenen Ort, in dem die Menschen leben, die diese urbanen Träume finanzieren. Denn dort, in der Realität, ächzt der ÖPNV, weil man das Auto radikal aus dem Stadtzentrum verdrängen will. Berlin ist mit der neuesten Initiative „Berlin autofrei“ ganz vorne dabei. Die Mieten jagen durchs Dach. Die Wohnungsnot hat inzwischen absurde Ausmaße erreicht: In Städten wie Berlin, München oder Hamburg steigen die Mieten schneller als die Hoffnung. Viele Menschen geben über 40 Prozent ihres Einkommens allein für die Wohnung aus. Immer mehr Menschen werden obdachlos. Arzttermin? In sechs Monaten, wenn man Glück hat. Marode Infrastruktur, kaputte Straßen, unterbesetzte Kitas und Schulen, mangelnde medizinische Versorgung – was macht man damit? Geschweige denn, steigende „Einmann“-Kriminalität und unkontrollierte Migration. Wo sind die Maßnahmen, die all diese Probleme lösen sollen? Führt man in den Smart-Cities auch „Messerverbotszonen“ ein? Redet man zunehmende Gewalt an Schulen und Ärztemangel weg? Organisiert man noch mehr Meldestellen, um diejenigen anzuzeigen, die all das sehen? Oder werden diese Probleme sich irgendwie bis zur Umsetzung der Hochglanz-Utopie in Luft und Liebe auflösen? Und wenn nicht, können die neuen potemkischen Smart-City-Disneyländer die Realität irgendwie verdrängen?
George Orwell hat in seinem dystopischen Roman „1984“ über den Bezug der „Partei“, also des zentralen Machtapparats, zur Realität geschrieben: „Ihre Philosophie leugnete nicht bloß die Gültigkeit aller Erfahrung, sondern stillschweigend die Existenz einer äußeren Realität überhaupt. Die schlimmste aller Ketzereien war gesunder Menschenverstand.“
Vielleicht ist der gesunde Menschenverstand heute tatsächlich die letzte unerwünschte Restgröße, die man uns mit all den tollen Smart-Projekten erfolgreich wegplanen will?
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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Sie arbeitet für reitschuster.de.
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