Nazih Musharbash ist Präsident der Palästinensisch-Deutschen Gesellschaft und in der SPD aktiv. Die Lage in Gaza beschäftige ihn seit seiner Geburt. Von der neuen Regierung wünscht er sich eine Neuausrichtung der Nahostpolitik
Palästinensische Kinder in den Ruinen der Al-Hasanat-Moschee im Flüchtlingslager Al-Nuseirat im Zentrum des Gazastreifens
Foto: Middle East Images/Imago Images
der Freitag: Herr Musharbash, die Nachrichtenlage zu Gaza überschlägt sich derzeit geradezu. Die israelische Regierung plant eine sogenannte „Eroberung von Gaza“ und will die Verbliebenen in der Bevölkerung zu einer „freiwilligen Ausreise“ zwingen, was das auch immer heißen soll. Laut den Plänen der USA soll es dort eine Art Starthalter-Regierung geben, auch unter Beteiligung der USA. Was halten Sie von diesen Plänen?
Nazih Musharbash: Ja, was halte ich davon? Wir sind bedrückt, traurig und natürlich wütend über diese Ereignisse. Ich bin ja seit meiner Geburt mit dem Thema verbunden und jedes Mal haben wir in der Vergangenheit gedacht: jetzt ist es am schlimmsten. Aber der derzeitige Krieg übertrifft alles davor
Vergangenheit gedacht: jetzt ist es am schlimmsten. Aber der derzeitige Krieg übertrifft alles davor Geschehene. Wir hatten eine Phase in der Geschichte, nach den Oslo-Verhandlungen und mit der Annäherung an Israel …Sie meinen den Friedensprozess von Oslo, der Anfang der 1990er Jahre begann …… aber das ist jetzt obsolet. Die israelische Regierung hat auch schon früher getan, was Sie und ich jetzt an Gewalt sehen. Neu ist nur, dass die Mitglieder des Kriegskabinetts schon vorab ankündigen, was sie vorbereiten und planen. Und wer das heute ignoriert, der hat im Grunde nichts verstanden und macht sich mitschuldig.Wen meinen Sie genau? Gerade die Politiker bei uns im Lande. Das sind keine Signale mehr, das sind Fakten. Die Attacken gegen die Palästinenser und Palästinenserinnen haben jetzt nur noch ein Ziel: die Palästinenser wirklich zu vertreiben. Eine ethnische Säuberung ist das, völkerrechtswidrig und menschenverachtend.Über 70 Prozent von Gaza sind zerstört. Kein Krankenhaus steht mehr, keine Schule. Vernehmen Sie hier ein zu großes Schweigen in der Weltpolitik?Das ist nicht nur ein Schweigen, das ist eine Duldung. Man akzeptiert das. Alle Menschen, alle Regierungen schauen zu. Diejenigen, die damals gesagt haben: Wir sind für die Zwei-Staaten-Lösung, haben versagt. Weil sie die israelische Regierung zu keinem Zeitpunkt dazu gezwungen haben, Vereinbarungen zu erfüllen. Ich mache die Weltgemeinschaft mitverantwortlich für das, was jetzt dort geschieht.Wie kann man Politik machen angesichts solch einer angekündigten Härte? Wie schnell müsste es jetzt eigentlich gehen?Ich wünsche mir nichts anderes, als dass das Menschenrecht seine Gültigkeit erfährt. Die Menschenrechte und das Völkerrecht sind zwei Maxime, für die ich in Deutschland in die Politik gegangen bin. Die Solidarität mit den Schwachen, mit denjenigen, die keine Rechte haben, wird heutzutage mit Füßen getreten. Das macht mich wütend. Regierungen, die Verantwortung tragen, wären durchaus in der Lage, Israel nicht nur verbal zu kritisieren, sondern zu sanktionieren, unter Druck zu setzen und dazu zu verdonnern, die vertraglichen Regelungen zu akzeptieren.An welche Art von Sanktionen denken Sie? Wenn Deutschland die Waffenlieferungen stoppt und Amerika ebenfalls keine Waffen mehr liefert, dann könnte Israel, nach eigener Aussage, keinen einzigen Tag mehr Krieg führen. Sanktionen und diplomatischen Druck ausüben auf Israel – das erwarte ich von einem Staat, der sich für Gerechtigkeit und die Menschenwürde einsetzt. Deutschland verteidigt seine Position gemäß der deutschen Staatsräson, also die Anerkennung des Existenzrechts und die Sicherheit Israels. Warum geht es nicht, Ihrer Meinung nach, dass man Kritik an dem Vorgehen der israelischen Regierung ausüben kann, aber trotzdem auch sagen kann, wir stehen an der Seite Israels? Warum ist das so schwer? Es ist deshalb so schwer, weil die deutsche Politik blind der israelischen Politik folgt und keine Differenzierung macht zwischen Juden, Jüdinnen, dem Judentum und Israels Regierung. Der israelische Philosoph Omri Böhm oder der israelische Historiker Moshe Zimmermann sagen: Deutsche, ihr müsst den Staat Israel als einen normalen Staat betrachten und bewerten. Dann kommt ihr dahinter, was dieser Staat an Verbrechen begeht. Sie halten zu Palästina Vorträge und werden auf Podien eingeladen. Haben Sie den Eindruck, dass den hiesigen Menschen klar ist, was in Israel und Palästina passiert? Zunehmend. Ich erfahre durch unsere Aufklärungsarbeit mehr Zustimmung in der Bevölkerung. Ich kann wirklich mit gutem Gewissen und mit aller Glaubwürdigkeit sagen, ich bin froh, dass die deutsche Bevölkerung klüger ist als ihre Politik. Sie würden also sagen: Menschen wissen zwischen antisemitischen Aussagen und einer Kritik an dem Vorgehen der israelischen Regierung und dem Militär zu unterscheiden?Es ist dem mündigen Bürger nicht mehr zu verheimlichen, wie der Antisemitismus missbraucht und instrumentalisiert wird. Selbst hier lebende israelkritische Jüdinnen und Juden, also nicht nur Palästinenser und Palästinenserinnen, werden im Grunde diskriminiert. Das ist ja das Paradoxe. Es ist beschämend, wie in Deutschland mit Israelkritikern umgegangen wird. Nicht einmal der jüdischen Stimme für den gerechten Frieden zum Beispiel ist Kritik an Israel erlaubt. Kritiker werden diffamiert als antiisraelisch oder antisemitisch – das ist doch absurd. Von einem befreundeten Staat wie Deutschland erwarte ich, dass der Freund zu seinem Freund sagt: Pass mal auf, das machst du falsch. Würde die israelische Regierung denn zuhören?Israel stellt sich mit seiner Kriegsführung über das Völkerrecht. Die enorme Unterstützung durch die USA und Deutschland sowie andere Staaten machen Israel nur noch stärker. Wer sich für Menschenwürde, Frieden und für Gerechtigkeit einsetzt, muss imstande sein, Kritik auf sich zu nehmen. Nicht aber Israel. Israel hätte bereits einen Frieden mit den 57 Staaten der islamischen und arabischen Welt haben können, wenn es den Palästinensern ihren Staat gegeben hätte, in der Westbank und in Gaza. Das war zu Anfang der 2000er Jahre. Israel hat das nicht akzeptiert. Israel will – und das sage ich mit allem, was ich an Informationen habe – keinen Frieden. Israel verlangt das gesamte Land, aber ohne die Bevölkerung. Ja, aber wo sollen sie hin, diese Menschen?Wenn ich den Verteidigungsminister Israels zitieren darf: Die Palästinenser hätten drei Optionen. Das Land freiwillig zu verlassen, unter den Bedingungen der israelischen Nationalstaatsgesetze zu leben – das hieße: Wir sind die Herren, ihr seid die Knechte – oder den Tod. Und das sagen sie öffentlich, auch für die Bundesregierung wahrnehmbar.Die arabischen Staaten werden diese Menschen auch nicht aufnehmen, wahrscheinlich. Die arabischen Staaten weigern sich natürlich zurecht, sie aufzunehmen. Also, wohin mit den Menschen? Das sind ja keine Ameisen. Und es wäre keine Lösung für das Palästina-Problem. Gäbe es denn eine Lösung? Das Vertreiben der Menschen ist die israelisch-amerikanische Lösung. Nach dem Motto: Dann haben wir keine Palästinenser mehr im Land und das Land gehört uns. Nein, Palästina und der Gazastreifen – ich spreche hier nicht von Gesamtpalästina, weil ich Realist bin – die Westbank und Gaza gehören ausschließlich den Palästinensern. Die arabischen Staaten haben für Gaza einen Plan mit drei Phasen und würden 53 Milliarden dafür verwenden, um den Gazastreifen innerhalb von kürzester Zeit wieder aufzubauen. Ohne Trump, ohne Israel.Was erwarten Sie sich von der neuen Regierung unter Friedrich Merz?Die Bundesregierung muss ihre Nahostpolitik revidieren, die Palästinenser als Volk betrachten, Palästina als Staat anerkennen und die vorgesehene ethnische Säuberung durch Aushungern der Bevölkerung in Gaza verhindern. Sie darf Netanjahu mit Besuchen nicht hofieren.Das geht jetzt vor allem an den neuen Bundesaußenminister, Herrn Wadephul.Ich hoffe, dass er besser wird als seine Vorgänger. Und dass er eine Politik betreibt, die nicht auf Vorurteilen basiert oder auf Zugeständnissen nur für die israelische Seite. Ich hoffe auch, dass er mich nicht enttäuscht, sondern dass er Realist sein wird und sagt: Moment Israel, das, was ihr da macht, ist falsch. Das geht nicht.Dieser neuerliche Krieg ist ja eskaliert nach dem widerwärtigen Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023. Von israelischer Seite heißt es oft: Wenn die Hamas die verbliebenen Geiseln freiließe, wäre der Krieg vorbei. Ist da was dran? Ich bin für die Befreiung aller Geiseln, ich bin nicht für Gewalt. Auch auf palästinensischer Seite sind es 11.000 Menschen in israelischer Haft. Etwa 7.000 bis 8.000 von ihnen ohne Anklage, davon viele Minderjährige und Frauen. Diese müssen auch freigelassen werden. Darüber spricht man nur weniger. Die israelischen Demonstranten zeigen, dass es nicht im Sinne von Netanyahu wäre, den Krieg zu beenden. Er möchte sich innenpolitisch retten und nicht unbedingt die Geiseln.Haben Sie noch Hoffnung, dass sich am Ende doch noch eine dauerhafte Lösung für Palästina abzeichnet? Wissen Sie, die Frage wird mir immer wieder gestellt. Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich gar nicht mit Ihnen sprechen.