Unser Autor fühlt sich durch die Aufrüstungsbefürworter an seinen Großvater erinnert. Was, wenn Europa erneut in einen Krieg stolpert – mit offenen Augen und alten Illusionen?
Deutsche Fallschirmjäger bei Monte Cassino bereiten sich auf den Einsatz vor
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Der Westen, Europa hat so viel in einen Sieg der Ukraine über Russland investiert: Waffen, seine eigene Wirtschaft, die der Bumerang der Sanktionen traf und dabei das deutsche Exportmodell zerschlug, seine Demokratie und liberale Kultur, die innerlich zeitengewendet wurde. Nun hat der Westen, hat Europa, mit Ankündigung – Kritiker, zu denen ich gehöre, haben es von Anfang an geschrieben – verloren.
Man hat verloren, weil es eine Dialektik des Krieges gibt, auf die Leute wie ich ebenfalls von Anfang an hingewiesen haben: Denn es ist heute die ukrainische Arbeiterklasse, die den Krieg mit den Füßen beendet, die sich vor dem Zugriff des zwangsrekrutierenden Staates versteckt, die beginnt, die Zwangsrekrutierer zu erschießen, die Kameraden aus ihren H&
die sich vor dem Zugriff des zwangsrekrutierenden Staates versteckt, die beginnt, die Zwangsrekrutierer zu erschießen, die Kameraden aus ihren Händen zu befreien und die Institutionen der Zwangsrekrutierung in die Luft zu sprengen.Die ukrainische Arbeiterklasse tut dies nicht, weil der ukrainische Krieg ungerechter wäre. Der russische Staat hat völkerrechtswidrig die Ukraine überfallen. Die ukrainische Arbeiterklasse tut es, weil sie es im Gegensatz zur russischen Arbeiterklasse tun muss, denn für sie gilt die Zwangsrekrutierung, für die russische Arbeiterklasse gilt sie angesichts des numerischen Ungleichgewichts zwischen angreifendem und verteidigendem Staat nicht. Oder, denn ich würde mir den gleichen „Krieg gegen den Krieg“ (Rosa Luxemburg) auch auf russischer Seite wünschen, leider noch nicht. Denn der russische Staat findet immer noch genügend arme Schweine, die er an der Front für einen Krieg, in dem sie nichts zu gewinnen haben, verheizen kann.Bringt die nächste Kugel den Tod?Aus westlicher Perspektive ist aber die Situation da, wo die oben nicht mehr können, wie sie wollen, weil die unten nicht mehr wollen, wie sie sollen. Und nur europäisches Geld könnte die Ärmsten der Armen im Armenhaus Europas vielleicht noch dazu bringen, sich für ein Jahr freiwillig zu verpflichten, freiwillig russisches Roulette zu spielen: Bringt die nächste Kugel den Tod, die Verstümmelung oder die lebenslange Traumatisierung? Oder bringt sie vielleicht doch das zehnfache Jahreseinkommen, den zinslosen Baukredit und das gebührenfreie Studium? Dass dieses Angebot an die 18- bis 24-jährigen Ukrainer ziehen wird, ist sehr fraglich. Aber was macht Europa mit seiner Niederlage? Was hat es bekommen? Man hat ein paar Arbeitskräfte für Kitas, Krankenhäuser und Altenheime gewonnen, die laut Nürnberger Arbeitsmarktforschung und BAMF nicht mehr in ihr von Russland und die Kriegsverlängerung zerstörtes, entvölkertes und ökonomisch ruiniertes Land zurückkehren wollen. Man hat die Nationengründung der Ukraine in prowestlicher Weise abgeschlossen.Aber sonst? Krieg, Sanktionen, Gegensanktionen und die Einleitung einer neuen Blockkonfrontation, die sich gegen China richtet, haben das deutsche Exportmodell erledigt. Man wird trotzdem bezahlen müssen, was Russland und der verlängerte Krieg zerstörten. Die Beute fahren – dafür sorgen US-Präsident Donald Trump und die Silicon Valley-Konzerne – die USA ein. Man hat die Demokratie auf dem Altar der ohne gesellschaftliche Debatte von oben beschlossenen „Zeitenwende“ und Grundgesetzänderungen mit abgewählten Parlamenten geopfert. Man hat die liberale Öffentlichkeit der eigenen Propaganda, die überall „fünfte Kolonnen“ mit „Putin-Narrativen“ identifiziert, geopfert. Und man hat sich durch diese Propaganda und für die ideologische Unterstützung der eigenen Politik in der Bevölkerung eine gefährliche Massenpsychose geschaffen, die nun droht, die weit zurückreichende Politik realistischer Großmachtinteressen ins Irrationalistische zu treiben.Das Gefühl des „Wir sind wieder wer“Europas Niederlage ist eine kollektive narzisstische Kränkung. Der Narzisst, der sich selbst über alle anderen erhöht, handelt aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus. Er muss ständig das Gefühl der Überlegenheit herstellen. Das macht ihn so machtstrebend, macht ihn so gefährlich. Aus der Kränkung ergeben sich Übersprunghandlungen. Darum triggern wir, wenn wir den Unsinn der Hochrüstung benennen, so viele Leute, die sich sonst eigentlich nie für Politik interessierten, nie zu Wort meldeten, aber es heute schlicht nicht ertragen können, dass wir ihre Weltsicht nicht teilen, die sich vor dem Russen erst sicher fühlt, wenn jeder Bürger seine Privatatombombe hat. Kränkung heißt: Die Niederlage muss ungeschehen gemacht werden. Aber Revanchismus ist ein teuflisches Gift. Viele Menschen, die heute die Aufrüstung begleiten, erinnern mich an die Deutschen, die Ende des 19. Jahrhunderts für den „Deutschen Flottenverein“ spendeten, weil man als sendungsbewusstes Volk der Dichter und Denker gegenüber den „Krämervölkern“ bei der kolonialen Aufteilung der Welt zu spät gekommen war. Mit Nietzsche’scher Übermenschphilosophie im Tornister und einem flotten Soldatenlied auf den Lippen zog man dann in den Weltkrieg. Und anstatt „Weihnachten wieder zuhause“ zu sein, lag man vier Jahre „neben den französischen Genossen“ im Schützengraben und ließ sich beim Heraustreten ins Niemandsland dann von Maschinengewehrfeuer niedermähen.Viele Menschen, die heute die Hochrüstung mit Zähnen und Klauen verteidigen, obwohl sie nie im Leben mit den Hauptschülern Wehrdienst geleistet hätten, erinnern mich an meinen Danziger Großvater und seine Anfang der 1920er Jahre geborenen Generation, denen jedes neu angeschaffte Kriegsschiff, dessen technische Daten sie natürlich alle auswendig kannten und auf dem Schulhof mit denen des Feindes vergleichen konnten, ein Gefühl des „Wir sind wieder wer“ verschaffte. Großvater sagte: „Die Nazis haben uns unsere Jugend gestohlen“Ein Gefühl, das die Schmach der Weltkriegsniederlage, des Versailler Vertrags, der Entmilitarisierung, der Rheinlandbesetzung (noch dazu durch schwarze Kolonialsoldaten Frankreichs), der Territorialverluste, des Polnischen Korridors wettmachte. Bis sie dann irgendwann die Waffen, die ihnen das Gefühl der Stärke, Macht und Unbesiegbarkeit gegeben hatten, selbst in die Hand nehmen mussten. Bis sie sich für fremde Zwecke in die totale Ohnmacht um sie herumfliegender Partisanenkugeln und Katjuscha- und Stalinorgel-Geschossen fügen mussten. Mein Großvater, der, mehrfach kriegsverwundet, zum Schluss noch die Schlacht am Monte Cassino überlebte, sieht auf seinem ersten Foto in Wehrmachtsuniform aus wie ein Schulkind mit panischer Angst in den Augen. Auf den Fotos wenig später ist der Blick aschgrau.Nach dem Krieg sagte er: „Die Nazis haben uns unsere Jugend gestohlen.“