Zwei Definitionen prägen die Debatte über Antisemitismus und Kritik an Israel. Aleida Assmann war an der Ausarbeitung der JDA beteiligt. Für den „Freitag“ hat sie deren Genese aufgeschrieben


In der extrem aufgeheizten Stimmung ist es fast unmöglich geworden, sachlich über Antisemitismus (oder nicht) zu sprechen

Foto: Mark Mühlhaus/Attenzione/Agentur Focus


Die Entscheidung der Linkspartei, statt der Antisemitismus-Definition der „IHRA“ diejenige der „JDA“ zu übernehmen, schlägt hohe Wellen. Doch vielen sind die Kürzel eher rätselhaft: Sie sollen dasselbe beschreiben, werden aber polemisch gegeneinander ausgespielt. Als „Wegweiser für die Verwirrten“ – nach einem berühmten Titel des jüdischen Gelehrten Maimonides – gibt das Folgende daher einige Hintergrundinformationen.

Die Geschichte der IHRA begann 1998 auf Initiative des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson, der das Bedürfnis hatte, das damals schon schwindende Wissen über den Holocaust an Schulen und in der Gesellschaft zu stärken. Dabei beriet ihn der Holocausthistoriker

nides – gibt das Folgende daher einige Hintergrundinformationen.Die Geschichte der IHRA begann 1998 auf Initiative des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson, der das Bedürfnis hatte, das damals schon schwindende Wissen über den Holocaust an Schulen und in der Gesellschaft zu stärken. Dabei beriet ihn der Holocausthistoriker Yehuda Bauer, Schöpfer und Direktor der Gedenkstätte Yad Vashem. Es entstand die Idee einer internationalen Organisation, die eine Gedenkkultur an den Holocaust aufbauen sollte. Sie nannte sich zunächst „International Task Force für Holocaust Education, Remembrance and Research“, kurz ITF. Im Januar 2000 fand in Stockholm die Gründungskonferenz mit 46 Regierungen statt. Ziel war es, die Erinnerung an den Holocaust in den Mitgliedstaaten über die Generationenschwelle zu tragen. Die Gründungsurkunde – die Stockholmer Erklärung von 2000 – ist ein bedeutendes Dokument der Aufklärung, Bildung und Selbstverpflichtung zur Mit-Menschlichkeit. Sie enthält folgende Punkte:Die Beschreibung des Holocaust als Zivilisationsbruch, verbunden mit der Verpflichtung, für dieses historische Ereignis eine dauerhafte Erinnerung zu schaffen. Die gemeinsame Bekämpfung von Holocaust-Leugnern, die Bekämpfung weiterer Genozide, ethnischer Säuberungen sowie von Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, die Beförderung der Holocaust-Forschung und die Öffnung von Archiven, die Beförderung der Holocaust-Erziehung und der Erinnerung u.a. durch Einführung des von Roman Herzog vorgeschlagenen Gedenktags am 27. Januar, Respekt gegenüber den Überlebenden und die Förderung des Strebens der Menschheit nach gegenseitigem Verstehen und Gerechtigkeit.Weg vom Fokus der Holocausterinnerung2008 gab sich die ITF den neuen Namen „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA). Ihr Ziel bestand weiterhin darin, die Aufklärung, Erforschung und Erinnerung an den Holocaust weltweit zu fördern. Heute umfasst sie 34 Staaten, darunter sämtliche EU-Mitglieder sowie Argentinien, Australien, die USA, Israel, die Schweiz, Norwegen und Großbritannien.Im Mai 2016 kam es bei einem Treffen in Bukarest allerdings zu einem entscheidenden Richtungswechsel: Die IHRA verlagerte ihren Fokus von der Holocausterinnerung auf die Bekämpfung von Antisemitismus. Hierzu verabschiedete das Plenum eine „Arbeitsdefinition Antisemitismus“. Damit reagierte es auf eine veränderte weltpolitische Lage. Das Erstarken des islamischen Fundamentalismus weckte das Bedürfnis, den Staat Israel besser zu schützen. Die neue IHRA-Definition griff auf eine ältere zurück, die von dem jüdischen Autor und Rechtsanwalt Kenneth Stern stammt. Derselbe beklagt freilich inzwischen, dass seine Definition als politisches Instrument von Zensur und Einschüchterung diene.In Deutschland fehlt ein Satz in der IHRA-DefinitionIhr Kern: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Erstaunlich an diesem Kern ist eine gewisse Vagheit seiner Formulierung.Es folgt – als Ergänzung – ein Satz zum israelbezogenen Antisemitismus: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ,die Dinge nicht richtig laufen‘.“Darauf folgen elf Beispiele, von denen sich sieben auf den Staat Israel beziehen. Diese Definition wurde in vielen IHRA-Mitgliedstaaten mit atemberaubendem Tempo als verbindliche Richtlinie der Antisemitismusbekämpfung umgesetzt. Dabei half der singuläre Durchsetzungsmechanismus der IHRA. Hier herrscht „eine Balance von Experten und Diplomaten“ auf der Grundlage des Konsensprinzips: Experten und Politiker arbeiten ganz unmittelbar zusammen – und können Entscheidungen direkt von oben in die Politik ihrer Länder einbringen. Den neuen Richtlinien gehen vor Ort also keine Diskussionen voraus. Es gibt weder mediale Debatten noch eine Aufklärung der Bevölkerung über diese Maßnahmen. Auch der Kurswechsel der IHRA von 2016 wurde in den Staaten nicht kommuniziert, sondern vollstreckt.Die Bundesrepublik nimmt bei der Durchsetzung der IHRA-Definition eine Sonderrolle ein. In der 2017 von der Bundesregierung verabschiedeten Fassung geriet der Satz über Kritik an Israel („Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein“) als Erweiterung in die Kerndefinition. Zugleich wurde der folgende Satz – „Kritik an Israel, die der Kritik an anderen Staaten ähnlich ist, kann nicht als Antisemitismus gelten“ – ersatzlos gestrichen. Er fehlt auch auf der Homepage des Antisemitismusbeauftragten. In Deutschland ist die Waffe gegen Antisemitismus schärfer geschliffen als anderswo.Das Recht auf Meinungsfreiheit bewahren2020, nach vier Jahren Erfahrung mit der IHRA-Definition, setzten sich 25 jüdische Gelehrte zusammen, um an einem alternativen Definitions-Vorschlag zu arbeiten. Für ihre „Jerusalem Definition on Antisemitism“ nahm sie sich zehn Monate Zeit und veröffentlichte das Ergebnis im März 2021. Ziel war eine Antisemitismus-Definition, die das Recht auf Meinungsfreiheit bewahrt und eine größere Vielfalt an Stimmen innerhalb des Judentums abbildet. Die Erstveröffentlichung wurde von 210 internationalen Gelehrten unterschrieben, 370 weitere folgten.Die Kerndefinition lautet: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“Es folgen Beispiele, die in drei Gruppen gegliedert sind: Die Beispiele 1-5 beschreiben, was allgemein antisemitisch ist, die Beispiele 6-10 beschreiben, was hinsichtlich des Israel/Palästina-Konflikts antisemitisch ist – und die Beispiele 11-15 beschreiben, was mit Blick auf diesen Konflikt nicht antisemitisch ist.Um Differenzierung bemühtDie meisten Punkte beider Erklärungen sind völlig unstrittig. Warum also die heftige Kontroverse? Die Mitarbeiter der JDA wurden unmittelbar nach Veröffentlichung ihrer Erklärung des Antisemitismus bezichtigt. Es sind im Grunde drei Punkte, die dabei eine Rolle spielen. An der JDA wird kritisiert, dass die Formulierung vom „Existenzrecht Israels“ nicht vorkommt. Punkt 10 in der Gruppe der Beispiele lautet: „Es ist antisemitisch, Juden und Jüdinnen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben.“ Das darauffolgende Beispiel – Punkt 11 – lautet: „nicht antisemitisch ist die Unterstützung der palästinensischen Forderung nach Gerechtigkeit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und menschlichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind.“ Und Punkt 14 enthält eine weitere Aussage, an der sich die Geister scheiden: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“Während die JDA-Definition von Befürwortern der IHRA als selbst antisemitisch eingestuft wird, beruft sich umgekehrt die JDA explizit auf die Grundlagen der IHRA. Sie schließt sich in der Präambel explizit an „die Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den Holocaust aus dem Jahr 2000“ an. Doch ist auch dieser Anschluss heute kontrovers: Der folgende Satz der JDA-Präambel bekennt sich nämlich zu der „Auffassung, dass Antisemitismus spezifische Besonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist“.Mit dieser Grundhaltung verhindert die JDA-Definition Formen der politischen Instrumentalisierung und ermöglicht Formen der Solidarisierung. Sie ist das Gegenteil einer Kampfansage, denn sie ist um Differenzierung bemüht und versteht sich als ein „zusätzliches Hilfsmittel“, nicht mehr und nicht weniger.



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Von Veritatis

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