Im Schatten des AfD-Aufstiegs entsteht in Cottbus eine neue Jugendkultur voller Hass und Gewalt. Die Täter sind brutal – und manchmal tragen sie noch Schulranzen
Es ist ruhig, ein Freitagabend im März. Fabi Buchholz* liegt auf dem Bett, der Laptop flimmert, Joko und Klaas laufen. Endlich Wochenende, sie will einfach nur abschalten. Dann ein Knall. Laut, dumpf, nah. Die 27-Jährige zuckt zusammen. Zuerst denkt sie an ein Feuerwerk, das Fußballstadion von Energie Cottbus ist nicht weit. Vorsichtshalber öffnet sie die Zimmertür. Auch ihre Mitbewohner*innen stehen im Gang. „Da sind Leute vor dem Haus“, ruft jemand. Sie geht zum Fenster, schaut hinaus. Sieht schwarz gekleidete Vermummte, die in der Dunkelheit wegrennen. „Du musst ständig bereit sein, hochzufahren“, sagt sie heute, knapp sechs Wochen später.
Die Bewohner*innen der Zelle79, einem vierstöckigen Hausprojekt nahe der Spree in Cott
ee in Cottbus in Brandenburg, versichern sich gegenseitig, dass es allen gut geht. Dann gehen sie nach draußen. Vor dem Eingangsbereich liegen Glasscherben und mehrere Pflastersteine. Der Briefkasten ist demoliert. An der Metalltür und der mit Graffiti besprühten Fassade sind Schrammen zu sehen, die Rollläden haben Dellen, beim Nachbarn wurde ein Fenster eingeschlagen.Alles wird eingesammelt, die Gruppe geht wieder rein, berät sich. Spürt die klopfenden Herzen. Eine Stunde später folgt der zweite Angriff. Wieder Krach, wieder vermummte Gestalten, wieder Dellen – diesmal inklusive Neonazi-Schmierereien an der Wand. Die Bewohner*innen halten jetzt Wache, doch den Rest der Nacht bleibt es ruhig. „Das hätte lebensgefährlich werden können“, sagt Fabi Buchholz. „Und doch sind solche Angriffe für uns inzwischen eine skurrile Normalität.“Plötzlich stehen Fans von Energie Cottbus vor dem Haus, vermummtNormalität, denn seit vergangenem Jahr häufen sich die Übergriffe. Natürlich habe es auch früher Stress mit Rechten gegeben, sagt Buchholz. Aber der fand meist auf Stadtfesten, bei Fußballspielen oder Demonstrationen statt. „Das war in der Regel vorhersehbar – jetzt haben wir ein permanentes Gefühl der Bedrohung.“ Was das heißt?Zum Beispiel stehen plötzlich Fans von Energie Cottbus vor dem Haus und rufen zu einer Schlägerei auf. Trainiert, mit Schals vor dem Gesicht und abgeklebten Logos auf der Kleidung. „10 Rechte gegen 10 Linke“. Wenn Freund*innen „zur falschen Zeit am falschen Ort“ waren, müssen sie danach mit Platzwunden ins Krankenhaus begleitet werden.Buchholz hat auch schon von Fremden Morddrohungen erhalten, weil sie eine FFP2-Maske oder ein linkes T-Shirt trägt. Im Alltag überlegt sie jetzt vorher, wohin sie geht – und mit wem. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Abstumpfung und Sorge. „Wenn es passiert, dann passiert es.“Rechte Parolen an der GrundschuleEs ist eine seltsame Normalität. „Die Angreifer*innen sind mittlerweile deutlich jünger, teilweise reden wir hier von Zwölfjährigen“, sagt Buchholz. Einmal seien die Jugendlichen nachmittags gekommen, wohl nach Schulschluss. „Wir machen euch fertig“, riefen sie, warfen mit Gegenständen gegen die Metalltür und rammten mit der Schulter dagegen. „Wir haben uns erschrocken, aber auch ein bisschen gelacht – der Arm tut danach doch weh.“Buchholz ging zum Fenster, die Jugendlichen behaupteten, der Neonazi-Gruppe „III. Weg“ anzugehören. „Was sie sagten, klang klischeehaft und unsicher, sie waren nicht gefestigt“, sagt sie. Kurzes Schweigen. „Aber was wird später aus ihnen?“Das fragt sich auch die Brandenburger Beratungsstelle Opferperspektive. Für das vergangene Jahr hat sie 273 Fälle von rechter Gewalt mit mehr als 400 Betroffenen dokumentiert – ein Höchststand. Was bei den Angriffen auffällig ist: Viele der Täter*innen sind sehr jung. Dorina Feldmann von der Beratungsstelle sagt, mittlerweile sei es wieder „in“, sich offen als Neonazi zu inszenieren. „Ratsuchende haben uns mehrfach berichtet, dass bereits an Grundschulen rechte Parolen gerufen werden.“ Die Aggression richte sich vor allem gegen alternative oder als „links“ wahrgenommene Jugendliche, queere Personen und Menschen mit Migrationshintergrund.Placeholder image-1Die Gründe? Soziale Isolation, fehlende Freizeitangebote und dauerhafter Krisenstress während der Corona-Lockdowns seien mögliche Faktoren, sagt Feldmann. Die geschickte Nutzung sozialer Medien durch extreme Rechte ein anderer. „Das Gefühl der Perspektivlosigkeit trifft auf eine Gesamtlage, in der rechte Akteure gezielt einfache Erklärungen und Feindbilder anbieten.“ Zugleich gebe es persönliche Kontinuitäten. „Viele der Täter von damals sind heute die Eltern jener jungen Neonazis, die sich erneut radikalisieren“, sagt Feldmann.Sie gäben diese Haltung, oft verbunden mit Stolz und einem Gefühl der Selbstwirksamkeit, an die nächste Generation weiter. „So ist es auch kein Zufall, dass sich die neue rechte Jugendkultur wieder am Stil der 90er Jahre orientiert und wir immer häufiger beobachten, dass sich rechte Jugendliche mit Bomberjacke, Springerstiefeln und Glatze inszenieren.“Noch nicht auf dem Niveau der 1990er-BaseballschlägerjahreSind die brutalen „Baseballschläger-Jahre“ der 1990er also wieder zurück? „Der Vergleich ist in vielerlei Hinsicht zutreffend“, sagt Feldmann. Vor allem die gezielte Einschüchterung von Menschen sei eine deutliche Parallele – zwischen Mai 2024 und März 2025 gab es in Südbrandenburg 20 rechtsmotivierte Straftaten gegen Jugend- und Kulturzentren. Zugleich müsse man differenzieren: „Das Ausmaß der Verrohung und flächendeckenden Gewalt hat heute noch nicht das Niveau der 1990er erreicht.“Allerdings habe sich mit der AfD eine rechtsextreme Partei etabliert, die entsprechende Diskurse normalisiere und an die Macht dränge. Dadurch sei ein Klima entstanden, „in dem zu rechter Gewalt von Teilen der Gesellschaft regelrecht ermutigt wird“. Nur etwa 15 Prozent der Angriffe gehen nach Einschätzung der Beratungsstelle Opferperspektive von Anhänger*innen oder Mitgliedern extrem rechter Organisationen aus.Der Großteil werde von Menschen verübt, die sich selbst der Mitte der Gesellschaft zurechnen. Allerdings äußerten insbesondere bei rassistischen Taten die Angreifer*innen Sätze, die auf eine „vermeintlich bevorstehende Machtübernahme“ der AfD anspielten. Die Partei erhielt in Cottbus bei der Bundestagswahl 34 Prozent der Zweitstimmen.Zwei Männer steigen mit aus: Schwarze Kapuzenpullover, die Köpfe fast kahlWenige Wochen vor dem Doppelanschlag auf die Zelle 79, es ist ein kalter Februar, sitzt Ibrahim Keita um 0.30 Uhr im Bus, der sich vom Stadtzentrum in die Außenbezirke schiebt. Draußen ist es dunkel, nur vereinzelt flackern Lichter. Der 27-jährige Informatikstudent aus einem westafrikanischen Land, der seit acht Monaten in Cottbus lebt, will schnell nach Hause. Er schaut sich um: Mit ihm im Bus sitzt noch jemand, der gerade aussteigt. Und dann sind da noch zwei Männer.Sie sind in ihren 20ern, tragen schwarze Kapuzenpullover, die Köpfe fast kahl. Sie starren ihn an. Tuscheln, lachen. Keita versteht nicht genau, was sie sagen, aber er bemerkt ihren abfälligen Ton. „Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht, weil ich öfter angestarrt werde“, sagt er. Dann hält der Bus. Keita steigt aus – und sieht, dass auch die beiden Männer aussteigen. „In dem Moment haben sie sich entschieden, denke ich.“Er läuft los, bis zu seiner Wohnung sind es ein paar Straßenzüge. Nicht weit hinter ihm: die beiden Männer. Er beschleunigt seine Schritte, das fällt ihm schwer, denn er hatte eine Verletzung am Bein. Auch seine beiden Verfolger werden schneller. „Von da an hatte ich Angst – ich wusste, die Situation ist ernst.“Die rechte Bedrohung ist alltäglich: „Nach dem Studium will ich weg aus Cottbus“Plötzlich sind sie weg, Keita steht auf einem Parkplatz, den er überqueren muss. Er glaubt, seine Verfolger seien abgebogen. „Dann zerschellt eine Glasflasche neben mir.“ Keita schaut in die Richtung, aus der das Geschoss kam – und sieht die beiden Männer. Sie schreien, lachen hasserfüllt. Vermummt, die Gesichter nicht zu erkennen. Ibrahim Keita rennt los, die anderen auch. Er schafft es rechtzeitig zu seinem Hauseingang. Die Männer lassen ab, ziehen weiter.Placeholder image-2Am nächsten Tag geht Keita zur Polizeistation, berichtet, was passiert ist. Und hört nichts mehr. In seinem Viertel fühlte er sich nicht mehr sicher, ging abends nicht mehr aus. Schließlich zieht er um – danach wird es etwas besser. „Manchmal bin ich immer noch angespannt“, sagt Keita. „Wenn ich im Dunkeln allein unterwegs oder der einzige Ausländer im Viertel bin, passe ich auf.“ Er habe in Cottbus auch gute Erfahrungen mit Menschen gemacht, betont er. Menschen, die ihm geholfen haben. Aber insgesamt ist er enttäuscht. „Wenn ich mit dem Studium fertig bin, will ich weg aus der Stadt – ganz weit weg.“Cottbus und die umliegende Region haben bereits ein länger andauerndes Problem mit rechter Gewalt. Ein Grund mag sein, dass Cottbus zum zweiten Mal nach der Wende einen massiven Strukturwandel erlebt – die Stadt liegt im größten Braunkohlerevier Ostdeutschlands – und etablierte rechte Gruppen kanalisieren soziale Ängste. Zudem spielen über Jahre gewachsene Netzwerke eine Rolle: „In Cottbus erleben wir das enge Zusammenspiel einer extrem gewaltaffinen Fußballszene, rechter Strukturen mit Verbindungen zur Rechtsrock- und Kampfsportszene sowie organisierter Kriminalität“, sagt Feldmann.Rechte Jugendliche werden über die Fanszene des FC Energie Cottbus rekrutiertDie Reaktion der Stadt und des Fußballvereins sei „verhalten“. „Über die Fanszene des FCE werden definitiv Jugendliche für die rechte Szene in der Region rekrutiert“, sagt Feldmann. Zudem gebe es ein Justizproblem: „Immer wieder bleiben einschlägige Taten folgenlos.“ Strafverfahren kämen nicht in Gang, würden erst Jahre später eröffnet.„Für die Täter*innen bedeutet das Rückenwind.“ Mit Blick auf die Jugendlichen brauche es mehr Freizeitangebote, mehr Sozialarbeit, sagt Feldmann. Cottbus hat jedoch angekündigt, die Mittel für die Jugendsozialarbeit ab 2026 um ein Fünftel zu kürzen. Der Sozialausschuss der Stadt wird von der AfD geführt.Auch wenn es rauer wird – in Cottbus wollen viele kämpfen. Seit vergangenem Jahr hat der Verein Losmachen seinen Sitz in der Schlosskirchpassage im Stadtzentrum. Er versteht sich als Dachstruktur, die die kritische Zivilgesellschaft in Südbrandenburg unterstützen will. „Natürlich merken wir, dass wir einer ziemlichen Übermacht gegenüberstehen“, sagt die 35-jährige Katharina König-Preuss, die sich im Verein engagiert.So schützt sich die Zivilgesellschaft gegen rechte AngriffeVon den Behörden erwartet König-Preuss keine große Hilfe. „Das macht es notwendig, zusammenzurücken und eigene Fähigkeiten zu entwickeln.“ Losmachen beteiligt sich beispielsweise an der „Initiative Sichere Orte“. Diese vernetzt Projekte in Südbrandenburg, damit sie sich gegen rechte Angriffe schützen und kollektiv reagieren können. Gemeinsam werden Vorfälle öffentlich gemacht, ein Fonds zur Hilfe bei Reparaturen aufgebaut und gegenseitige Unterstützung organisiert, etwa durch Solidaritätskonzerte und Arbeitseinsätze.Ich will nicht, dass ich mein Leben wegen der Nazis umkrempeln muss. Ich will nicht, dass sie so viel Macht über mich habenDass es jetzt wichtig ist, die „kleinen Inseln“ zu schützen, sagt auch Fabi Buchholz vom Hausprojekt Zelle79. Viele Menschen seien derzeit überfordert und suchten Anschluss – gerade deshalb müsse man zusammenhalten. „Ich will nicht, dass ich mein Leben wegen der Nazis umkrempeln muss. Ich will nicht, dass sie so viel Macht über mich haben“, sagt Buchholz.Noch in der Nacht des Doppelanschlags hat sie deshalb die Sendung mit Joko und Klaas zu Ende geschaut. Einige der Pflastersteine, die auf das Hausprojekt geworfen wurden, sind inzwischen sauber im Innenhof verbaut. Als Teil ihres Zuhauses. Als Ausdruck des Trotzes. Und als leiser Beweis, dass sie nicht weichen.