Winston Churchill hat einmal gesagt: „Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler“. Das ist nicht nett, widerspricht der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und würde heute sicher ausreichen, Herrn Churchill vom Verfassungsschutz mindestens als „Verdachtsfall“ beobachten zu lassen. Wenn ich mit meinen lieben Mitmenschen über den Ukrainekrieg, die Zeitenwende und die nun kommenden Rüstungsorgien spreche, muss ich jedoch eingestehen, dass der gute alte Winston mit diesem Spruch vielleicht doch nicht ganz falsch gelegen hat. So grübelte ich am Sonntagabend während des langweiligen „Polizeiruf 110“, woher die schrägen Positionen meiner Mitmenschen eigentlich kommen. Das kann doch nicht auf ihrem eigenen Mist gewachsen sein! Als der „Polizeiruf 110“ vorbei und alle Mörder hinter Gittern waren und der Trailer zum politischen Schlagabtausch bei Caren Miosga mich aus meinen Gedanken riss, war mir plötzlich alles klar. Eine Glosse von Jens Berger.

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Gut, dass es im erlaubten Meinungskorridor der öffentlich-rechtlichen Plauderbuden noch eine Konstante gibt, die da heißt: „Putin ist böse“. Ansonsten würde ich mittlerweile komplett die Orientierung verlieren. Vor kurzem war auch ich bekanntermaßen noch ein „Lumpenpazifist“, da ich mir wünschte, unsere Politik würde auf eine diplomatische Beendigung des Krieges in der Ukraine drängen. Heute ist dieser einst als naiv gebrandmarkte Wunsch Mainstream; zumindest dann, wenn man den Ausführungen unserer geliebten Talkshow-Experten, den Erklär-Onkeln und -Tanten der Nation, folgt. Was ich bislang nicht wusste: Nicht nur ich, sondern auch alle Experten sind im tiefsten Herzen Lumpenpazifisten! Anscheinend wussten sie dies jedoch bislang recht gut zu verbergen; so auch an diesem Sonntagabend bei Caren Miosga in der ARD.

Es ging mal wieder um die Ukraine und um den bösen Putin, der nun – so will es die öffentlich-rechtliche Sprachregelung – nicht nur keinen Vornamen hat, sondern auch nicht mehr als Präsident von Russland, sondern schlicht als „Machthaber“ tituliert wird. Früher hätte man sich über so etwas noch gewundert, heute schätzt man als Zuschauer diese Einordnung. Denn nun weiß man gleich, was man von diesem oder jenem Staatschef zu halten hat. Wer durchweg gut ist, wird korrekt mit seinem Titel als „Präsident“, „Kanzler“ oder sonstwas bezeichnet. Wer aber den hohen moralischen Anforderungen unserer einordnenden Journalistenzunft nicht oder nicht mehr genügt, wird dem Publikum als „Autokrat“, „Diktator“ oder eben „Machthaber“ vorgestellt. So weiß man gleich – sollte die Tagesschau mal mit der Meldung „Machthaber Merz trifft sich mit Präsident Xi Jinping“ beginnen, haben die Chinesen die ARD gehackt.

Aber zurück zu Miosga und den ÖRR-Talkshows. Gerade wenn es um den Themenkomplex Russland-Ukraine geht, wirkt es ja so, als gäbe es in ganz Deutschland nur eine Handvoll Experten, die etwas zum Thema beitragen können. Ich stelle mir das ja so vor, dass ein Praktikant bei ARD und ZDF ein paar Tage vor der Sendung einige Zettel, die mit Kiesewetter, Röttgen, Strack-Zimmermann, Masala, Major, Stelzenmüller usw. beschriftet sind, in eine Urne gibt und der Redaktionsleiter dann unter notarieller Aufsicht – schließlich sind wir im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und alles muss mit rechten Dingen zugehen – die Teilnehmer der nächsten Volksaufklärungsrunde zieht. Diesmal waren es die Namen Röttgen, Major und von Fritsch … nur nicht den Zuschauer durch neue Gesichter verwirren!

Verwirrt war ich jedoch in der Tat, glaubte ich doch, die Positionen dieser drei Experten bereits aus dem Effeff zu kennen. Was haben sie uns nicht drei Jahre lang alles erzählt. Russland stünde kurz vor der Niederlage auf dem Schlachtfeld, habe kaum noch Munition und Soldaten und die paar Soldaten, die meist aus Zuchthäusern an die Front geschickt würden, stünden ohnehin kurz vor der Meuterei. Klar, die Sanktionen haben ja das Land auch isoliert und ausgehungert. Es sei daher nur eine Frage der Zeit, bis das Reich des Bösen kollabiere und die freiheitsliebenden Russen ihren Machthaber/Diktator/Zaren/Potentaten/Autokraten stürzten. Wer – wie ich – den Krieg durch Verhandlungen beenden wollte, war daher auch ein Lumpenpazifist, ein Verräter, Naivling und sowieso von Putin höchstpersönlich gekauft.

Diese Sprachregelung galt über das gesamte erste Kriegsjahr. Man habe ja nichts per se gegen Verhandlungen, doch dürften die nur in einer Situation stattfinden, in der der Westen aus einer Position der militärischen Stärke heraus verhandeln kann; also keinesfalls dann, wenn die Ukraine in der Defensive ist, was sie aber während des ersten Kriegsjahres ständig war. Als die Ukraine dann im Sommer 2023 tatsächlich eine erfolgreiche Gegenoffensive durchführte und man gemäß dem Geschwätz von gestern Verhandlungen fordern müsste, wollte man das nun auch nicht mehr. Die Ukraine habe ja nun ein Momentum auf dem Schlachtfeld und das Gerede von einem Waffenstillstand oder Verhandlungen würde in dieser Situation dem Erzschurken aus Moskau nur Zeit verschaffen. Nein, nun werde die glorreiche ukrainische Armee das Ding durchziehen und schon bald Putins Nachfolger einen Siegfrieden oktroyieren. Nur eins änderte sich nicht: Wer auch nur die Begriffe Waffenstillstand und Verhandlungen in den Mund nahm, war ein Defätist und – natürlich, was auch sonst – von Putin bezahlt.

Es kam anders, als es die Experten prophezeiten. Das Momentum ist Geschichte, seit nunmehr fast zwei Jahren führt Russland einen Abnutzungskrieg – wäre das nicht mal ein Kandidat für das Unwort des Jahres? In den USA herrscht nun Donald Trump, der selbst kurz vor der medialen Degradierung vom Präsidenten zum Machthaber steht und irgendwie das Interesse an diesem Stellvertreterkrieg verloren hat. Die Schar der Guten hat sich dezimiert, nennt sich jetzt „Koalition der Willigen“ und von einem Sturz Putins oder gar einem Feldzug der Ukrainer gen Moskau träumt schon lange niemand mehr. O tempora, o mores! Das mit der Zeitenwende haben wir uns aber anders vorgestellt.

Für das Talkshowpublikum stellt diese Wende der Zeitenwende eine große Herausforderung dar. War Putin vor kurzem noch der Leibhaftige, mit dem man nie und nimmer verhandeln darf, ist er nun der Leibhaftige, weil er nicht selbst und höchstpersönlich zu Verhandlungen erscheint. Was erlaube Putin!

Ganz ehrlich – kommen Sie da noch mit? Ich nicht. Aber zum Glück ordnen die Talkshowexperten bei Miosga und Co. diesen Gedankenbrei ja für mich ein. Von Frau Claudia Major erfahre ich bei Miosga beispielsweise, dass „die westlichen Staaten“ ja „schon immer auf Diplomatie setzten, um diesen Krieg zu beenden“, dieser fromme und durch und durch integre Wunsch aber stets am bösen Putin abprallte. Ei der Daus! Da muss ich wohl was verpasst haben. Wo waren sie denn, die Friedensinitiativen des Westens während der letzten drei Jahre?

Wer das alles verstehen will, dem sei ausnahmsweise mal ein Blick in den SPIEGEL empfohlen. Dort erklärt man mit entwaffnender Ehrlichkeit die „komplizierte Strategie“ und die damit verbundene Sprachregelung: „Seit Wochen setzen die Europäer alles daran, Putin als Friedensverhinderer zu brandmarken“. Soll das etwa heißen …?

Sehen Sie, es kann doch alles so einfach sein. Nun sitzen diejenigen, die noch bis vor kurzem hinter jeder Forderung nach Waffenstillstand und Verhandlungen eine bezahlte Kampagne der Fünften Kolonne Moskaus gesehen haben, selbst auf den Talkshowsesseln und haben eine 180-Grad-Zeitenwende vollzogen. Ja, was interessiert uns unser Geschwätz von gestern! Nun ist man selbst – und war es natürlich schon immer(!) – für einen Waffenstillstand und Verhandlungen, und einzig und allein der Leibhaftige in Moskau, der Friedensverhinderer, sehe dies anders. Der wollte ja noch nicht einmal in die Türkei kommen, um mit dem heiligen Wolodymyr persönlich zu sprechen! Wie viele Beweise braucht es denn noch, um zu sehen, dass wir – wie immer – die Guten sind?

Hätten die Macher dieser Talkshows nur einen Hauch von Berufsehre, würden sie diese wundersame Kehrtwende der Argumentation ihres einordnenden Humaninventars hinterfragen oder gar thematisieren. Doch das könnte den Zuschauer ja verunsichern und in diesen schweren Zeiten ist Kontinuität das Gebot der Stunde. Vertrauen Sie uns, wir denken, sagen und machen schon das Richtige! Versuchen Sie besser gar nicht erst, uns und unsere Positionen zu hinterfragen, und schalten Sie Ihr Gedächtnis besser aus. Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke. Bis zur nächsten Woche und viel Spaß beim Vermehren der gewonnenen Einsichten.

Titelbild: Screenshot Das Erste



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Von Veritatis

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