Wie kreiert man Sichtbarkeit für Themen, die alle übersehen? In ihrer Solo-Performance am Gorki-Theater lernt Schauspielerin Nairi Hadodo von der größten Selbstdarstellerin unserer Zeit: Kim Kardashian
Nairi Hadodo wird als Kim Kardashian zur Sichtbarkeit in Person
Foto: Esra Rothoff
Mehrmals scheint die Frage in der Luft zu hängen, glitzernd, duftend nach Parfum. „Kim, was sind deine Talente? Du kannst nicht singen, du kannst nicht tanzen, du kannst nicht schauspielern … Es gibt in meiner Karriere keine Frage, die ich öfter gehört habe“, sagt die Figur von Kim Kardashian auf der Bühne. Nairi Hadodo kann all das – und noch viel mehr. In dem Bühnenstück KIM rappt sie, hebt Gewichte in Jogginghosen, bahnt sich tanzend in Stilettos einen Weg durchs Publikum, zieht sich aus und wieder an. Die Zuschauer*innen jubeln, lachen, machen mit.
Die Schauspielerin verkörpert nicht nur die US-amerikanische Milliardärin – sie hat das Stück auch selbst geschrieben und führt Regie. Auch die Kostüme stamm
2;me stammen von ihr. Die Solo-Performance ist im Rahmen des Festivals 100+10: Armenian Allegories, welches an den Völkermord an den Armeniern vor 110 Jahren erinnert, am Maxim Gorki Theater in Berlin zu sehen. Entstanden ist ein vielschichtiges Porträt einer der schillerndsten und reichsten Frauen des Planeten, untermalt mit popkulturellen Referenzen und Choreographien zur Musik ihres Ex-Mannes Kanye West.Nairi Hadodo hat, wie die 44-jährige US-amerikanische Unternehmerin und Reality-TV-Star, armenische Wurzeln. Kim Kardashians Vorfahren überlebten den Völkermord von 1915 und wanderten in die USA aus. „Kim Kardashian ist die Sichtbarkeit in Person“, sagt Nairi Hadodo. Das sei einer der Aspekte, die sie an der Ikone am meisten fasziniere – und abstoße. „Sich selbst eine endlose Ressource zu sein, die Bereitschaft, sich konsumieren zu lassen und Resonanzräume zu kreieren, wie sie das als Frau macht, hat etwas Emanzipatorisches“, meint Hadodo.„I’m the dopest and ropest person in this room“ – in etwa: „Ich bin die Coolste und Krasseste hier im Raum.“ Das zu behaupten, wie die Figur von Kim es auf der Bühne tut, und einfach eiskalt dazu zu stehen, sei ebenso emanzipatorisch. „Wenn man als Frau sozialisiert wird, lernt man früh, sich so klein wie möglich zu machen.“ Deswegen komme sie im Stück an ihre Grenzen und fragt sich: „Wie viel Raum darf man sich nehmen? Wie viel Attitude ist erlaubt? Wie lange darf ich mit meinem Arsch wackeln und gut aussehen dabei?“Nairi Hadodo wuchs in patriarchalen Strukturen aufDie Schauspielerin Nairi Hadodo, ist als älteste Tochter eines armenischen Architekten und einer aramäischen Krankenschwester vor 29 Jahren in Köln geboren und in Düsseldorf aufgewachsen. „Ich bin in keinem akademischen Haushalt groß geworden, dieses Umfeld habe ich mir selbst gesucht.“ Sie hat Freie Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und dort „eine eigene Sprache gefunden“, indem sie Philosophie- und Soziologie-Seminare besuchte. „Welche Sprache suche ich? Und ist das überhaupt meine Sprache?“, habe sich Hadodo gefragt. „Aber als ich zum Beispiel Simone de Beauvoir las, dachte ich, dass sie genau das schreibt, was ich denke. Diese Sprache hat mich ermächtigt.“Weil Hadodo „aus einer sehr patriarchalen Struktur“ kam, war ihr schon als Teenagerin bewusst, „wie viel Macht das hat, wenn eine Frau sich dazu entscheidet, sich gewisse Dinge anzueignen – oder eben nicht, wie Kim das tut“, sagt sie. Später zog sie noch ein Schauspielstudium an der Folkwang Universität der Künste in Bochum durch. Dass sie Schauspielerin werden wollte, wusste Hadodo „seit immer“. Ihre Mutter habe erst nach Jahren gelernt, sie ernst zu nehmen. „Mein Vater war kein Fan davon, weil er als konservativer Mann keine Vorstellung davon hatte, was es bedeutet, wenn eine junge Frau sagt: Ich möchte Schauspielerin werden“, erzählt sie.„In meiner patriarchalen Familienstruktur wurde mir beigebracht, dass das gesprochene Wort gilt und das Bild zurücktritt – alleine schon von der Art, wie mein Vater die Sprache benutzt oder eingefordert hat. Vielleicht verbinde ich Bilder mit etwas Archetypisch-Weiblichem und die Sprache, die Macht, mit etwas Archetypisch-Männlichem“, sagt Hadodo.Kim Kardashian breche damit: Sie tue, was sie wolle, und sage es auch. Und trotzdem suche die Protagonistin des Stücks nach einer Sprache. Das ziehe sich durch die Performance wie ein Mantra. Sie hat „the look“: Sie schaut die imaginäre Kamera verklärt an, die Lippen leicht geöffnet, unberührt. „Ihre Superkraft ist es, immer ruhig zu bleiben“, erklärt Hadodo. „Sonst hätte sie nicht mit jemandem wie dem Rapper Kanye West verheiratet sein können“, sagt die Hadodo und lacht.Kim Kardashians Superkraft: Ihre RuheWährend eines festen Engagements am Theater Basel entwickelt sie die erste Version von KIM und bringt es dort auf die Bühne. Inzwischen gehört Hadodo als festes Ensemblemitglied zum Gorki Theater in Berlin, wo eine adaptierte Version erneut in Zusammenarbeit mit Daniela Holtz zu sehen ist. „Das Gorki-Theater hat eine Sichtbarkeit für armenische Themen, die sonst niemand hat – und deswegen bin ich glücklich, dort zu arbeiten“, so Hadodo. „Ich bin daran gewöhnt, dass ich zu einer Community gehöre, die keine politisch großen Sentiments auslöst, die normalerweise niemanden juckt“, sagt die Halbarmenierin.Zur türkischen Diaspora – der größten in Deutschland blickt sie mit Abstand: „Das ist nicht meine Community. Ich habe mich dort nie wirklich beheimatet gefühlt, eher wie die Minderheit der Minderheit.“ Und es stimmt, lange wurden die vielfältigen Minderheiten unter dem Label „türkische Gastarbeiter“ verhandelt, auch wenn unter den ersten Einwanderern ebenso armenische, jüdische, alevitische und kurdische Menschen waren.Die ersten Jahre in der Schauspielerbranche sind für kaum jemanden einfach, aber noch weniger, wenn man als „Minderheit der Minderheit“ aufwächst. Auch nicht für die 29-jährige Schauspielerin Hadodo: „Als ich mir nach dem Studium die Leute in der Branche angeschaut habe, wurde mir klar: Wenn ich auf den Goodwill von Menschen warte, die weder wissen, woher ich komme, noch wie es sich anfühlt, so aufzuwachsen wie ich, kann ich lange warten“, erzählt sie. „Ich weiß genauso wenig, was es bedeutet, als weißer, blonder Mann aufzuwachsen – und werde es auch nie wissen.“Aus diesem „Schmerzgefühl“ hat sich für Nairi Hadodo eine Freiheit entwickelt. Sie wollte sich selbst die Räume und Rollen, schaffen.Radikale EntschleunigungBald aber sei ihr klar geworden: „Die Narrative, die meine Herkunft als Plus und nicht als Minus verstehen – die muss ich selbst erzählen. Die wird mir niemand geben. Nicht aus bösem Willen, sondern einfach, weil es so ist.“ Vor zehn Jahren hat sich Hadodo zum ersten Mal mit der Reality-TV-Serie Keeping Up with the Kardashians (seit 2022 The Kardashians), die das Leben der Familie zeigt, beschäftigt und Kunstinstallationen daraus geschaffen. „Ich glaube, Kim manchmal auswendig zu kennen – und doch bleibt sie für mich ein Mysterium.“ Was Nairi Hadodos Familie mit den Kardashians gemeinsam hat, ist nicht nur die Vielzahl an Frauen, sondern auch die Rollen, die sie innerhalb der Familie verkörperten.Sie seien „drei Mädels mit einer sehr präsenten Mama“. Seit dem Tod des Vaters gebe es in ihrer Familie kaum noch Männer. „Sie sind wie Aliens, die auf unserem Raumschiff landen, und wir müssen gucken, wie wir mit ihnen umgehen“, sagt sie und lacht.Das sei etwas, das sie auch bei den Kardashians sehe: Die Frauen bildeten die primären Beziehungen. „Dieses Hexenkessel-Ding, wie vier Frauen so viel Zeit zusammen auf der Couch verbringen und über alles Mögliche reden, berührt mich. Das waren für mich die subversiven Momente der Show“, sagt Hadodo.Es sei kein spannendes Format. „Sie sitzen 40 Minuten auf der Couch, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, irgendwelche Kinder rennen von rechts nach links.“ Und es sei die meistgesehene Show der Welt. Hadodo findet das „radikal entschleunigend – und auf eine Art auch feministisch.“Nairi Hadodos Solo-Performance KIM ist am Maxim Gorki Theater in Berlin zu sehen